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In der Grundkursdoppelstunde der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, zu der jetzt auch höhere Semester stoßen, führt Bert seine Liebe zu Theater, Film und Fernsehen kurz vor. Offiziell eingeladen und inoffiziell honoriert vom Grundkursleiter, motiviert Bert die jungen Damen und Herren dazu, den Grundkurs bis zum Semesterende mit der erlaubten Fehlstundenquote auszuhalten, indem er sie leibhaftig mit der beruflichen Realität eines erfolgreichen Ex-Studenten des Faches konfrontiert. Zu diesem Zweck tritt Bert im Arbeitskostüm auf (breitkrempiger Hochhut und knöchellanger Trenchcoat, ein optischer Aufbau seines kümmerlichen Körpers, den er auf der geschickt im Innenbett der schicken Lackschuhe eingearbeiteten Polsterung in eine respektable Höhe reckt) und präsentiert seine Biographie vermittels einer reichen Materialschau.

Vielmehr: Bert präsentiert eine Version seiner Biographie vermittels einer reichen Materialschau.

Die andere Version seiner Biographie, die sich im Unterschied zur sorgfältig zusammengeklebten Materialschau wegen mangelnder Fiktionalität disqualifiziert, legt Bert weder an dieser noch an anderer Stelle weder in groben noch in feinen Zügen dar. Sie beinhaltet in Kürze Folgendes:

1. Akt: Zeugung

Bert wird in einer windigen Winternacht der vorlauten 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts von einer pubertären, zum Zeitpunkt der Empfängnis sexuell unerfahrenen Krankenschwesterschülerin und einem alkoholcholerischen Invaliden unter extremen körperlich-seelischen Anspannungen im Trakt für männliche Einzelpatienten der Städt. Krankenanstalten Gummersbach gezeugt.


2. Akt: Werdung

Es folgen Kindheit und Jugend im Haushalt der alleinerziehenden Mutter sowie das Ende einer nicht enden wollenden Schullaufbahn: Bert beschließt, wie alle BRD-Jungmänner der jungen 80er Jahre, die weder schwere physische Defekte noch hinreichende mimische Talente vorweisen können, sich der militärischen Pflichtzeit durch rechtzeitige Flucht in die bundeswehrfreie Zone Berlin (West) zu entziehen. Es folgen Berts Marathonirrläufe durch die Neubaugebäude einer traditionslosen Universität: Interessen-, Ideen- und Begabungslosigkeit treiben ihn schließlich in das soeben eingerichtete, lauthals für sich werbende Fach Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, das ihm und einem Rudel Gleichgesinnter die Dollars und die Dolce vita der berühmten Theater-, Film- und Fernsehstars verspricht. Das Fach, so muss Bert am Ende des zwanzigsten Semesters erkennen, hat gelogen. Und Bert hat weder wissenschaftliche Qualifikationen noch ausreichende Gründe, um sein Studium abzuschließen. Stattdessen schließt er sich eng dem frühzeitig vergreisten Leiter des Seminars Der Spielplan. Eine studentische Zeitschrift für Theater-, Film- und Fernsehkritik an, einer regelstudienzeitüberdauernden Fachveranstaltung, in die sich alljährlich die meisten Fördermittel des aufwendig geförderten Faches Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften ergießen.

3. Akt: Höhepunkt &Happy End

Es folgt Berts beschwerliche Kreuzfahrt durch den Analkanal des Fachseminarleiters. Es folgt das boshafte Aushecken vielschichtiger Intrigen, die zum vorzeitigen Emeritus und anschließenden Exitus des Professors führen. Dann übernimmt Bert die Leitung des Spielplans, sichert seine Position sowie die Produktion durch universitäre Förderung und überträgt die kritische Arbeit ambitionierten Studenten des Faches Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, die er unter Verzicht auf Autorennamen publiziert. Bert ist seit vielen Jahren in der Theater-, Film- und Fernsehbranche erfolgreich.


Aber diese Version seiner Biographie soll uns nicht interessieren. Interessant ist vielmehr die Version, die Bert den Grundkursbesucherinnen und -besuchern in Wort und Bild vorstellt:

1. Akt: Verstellung

Berts vorgestellte Vita setzt in einer ruhigen, namentlich nicht genannten, keineswegs uninteressanten Kleinstadt des alten mittleren Westens der BRD ein. (Die Wimmüllers der niedrigen Semester erröten, weil sie sich noch immer ihrer Geburtsstadt Gelsenkirchen schämen, die Wimmüllers höherer Semester können sich nicht mehr an ihre Geburtsstadt Wanne-Eickel erinnern.) Bert beginnt in dem mittelmäßigen Mittelschichtselternhaus, das er mit allen Wimmüllers teilt, Theater, Film und Fernsehen zu spielen. Das frühreife Wunderkind fällt durch eine außergewöhnliche Inszenierung des Stückes Der Kasperl, die Großmutter, das Krokodil auf, weil sein Kasperl die Großmutter anstelle des Krokodils totschlägt, weil die Großmutter das Krokodil verschreckt hat. (Die jüngeren Wimmüllers glotzen, die älteren Wimmüllers feixen über die gewitzte Verkehrung der Moral von der Geschichte und flüstern sich den von Brecht theaterhistorisch verwendeten und von Bert theaterkritisch verkehrten Begriff V-Effekt zu.)

2. Akt: Vorstellung

Der schlagfertige Kasperl, das verschreckte Krokodil und die totgeschlagene Holzleiche der Großmutter werden im Seminarraum herumgereicht, dazu einige unersetzbare HörZu-Fernsehfachzeitschriften aus der Experimentalphase des Mediums. Dann bittet Bert, das Deckenlicht auszuschalten, weil er seinen vorgeblich ersten Heimcamcorderfilm Night Stills vorführen will, den er insgeheim in der Video-Abteilung der Stadtbibliothek unter dem Titel Stille Nacht ausgeliehen hat.


3. Akt: Höhepunkt &Happy End

Bert berichtet abschließend, dass er früh nach theoretischer Durchdringung seiner Obsessionen gesucht habe. Dies gelang im damals noch jungen Fach Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, das sich mittlerweile hervorragend an der traditionslosen Hochschule bewährt hat. Und Bert ist seit vielen Jahren in der Theater-, Film- und Fernsehbranche erfolgreich.

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Die theater-, film- und fernsehkritisch unbedarften Wimmüllers der niedrigen Semester giften die älteren Wimmüllers an, die Kritikseminargrundscheine im Kampf um einen Praktikumsplatz schwenken. Aber noch etwas geschieht, und deshalb setzt das Schwenken plötzlich aus: Die Grundkursteilnehmerin und Studienanfängerin Brigitte schwenkt ihr Minikleid gegen die Rednertribüne.

Aber Brigitte hat doch noch gar keinen Kritikseminargrundschein, oder?

Nein, aber Brigitte ist von dem Vortrag des Herrn Professor Doktor Bert so begeistert, dass sie sich ihm gleich vorstellen will, um ihren im Grundkurs geträumten Hochzeitstraum in eine Traumhochzeit zu verwandeln.

Denn Brigitte weiß nun, warum sie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert. Wegen Bert.

Allerdings nützt Brigitte dieses Wissen nichts. Denn Bert ist es völlig gleich, ob Brigitte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert und wenn ja, warum.

Aber die gemeinsamen Interessen, Bert, die zwei Liebende miteinander verbinden! Bert schüttelt den Kopf, Bert will sich nicht binden, Bert will Interesse hervorrufen.

Vorsicht, Brigitte!


Bert hasst es, wenn man die Inszenierungen aller Brecht-Stücke mit Datum, Ort und Regisseur aufzählt, wenn man alle Rollenbesetzungen herunterspult und aus überregionalen Kritiken zitiert! Brigitte will all das für Bert lernen, weil sie glaubt, Theater, Film und Fernsehen interessierten ihn. Aber Bert kann gelehrte Vorträge nicht ertragen, und Medien interessieren ihn nur, wenn die Inszenierung BERT heißt, wenn das Stück BERT gegeben wird, wenn BERT, der Film, läuft, wenn ein Interview mit BERT gezeigt wird, wenn die unablässige Talkshow BERT zu sehen ist. Brigitte wird dies erst im Hauptstudium begreifen. Dann ist es längst zu spät für das Glück, das sich sowieso niemals bei Bert und Brigitte aufgehalten hätte. Aber das glaubt Brigitte nicht, und sie wird es niemals glauben.

Brigitte wird Bert niemals vergessen. Bert ist Brigittes versäumte Gelegenheit. Bert wird sich nicht an Brigitte erinnern. Bert versäumt keine Gelegenheit mit anderen Frauen. Bald davon mehr.

Jetzt erblickt Brigitte im Geiste Mamas forschenden Blick: Ist dieser Professor Doktor Bert vielleicht einer der potenziellen Kindsväter mit universitärer Unterhaltungsgarantie, von denen das Kind phantasiert hat? Die Wimmüllers hat es ja wohl nicht gemeint, oder etwa doch, das unreife Gör? Neinnein, Mama, die da, die nicht, der da, den möchte ich. Na gut, die gute Mutter wird die Ware prüfen.

Aber wo ist denn der Herr Professor Doktor Bert? Und wo ist Petra?

Auf der Damentoilette der Lehrkörper der philosophischen Fakultät öffnet Petra mit einem Ruck die Reißverschlussachse ihres getigerten Wildlederbodys. Sofort hüpfen milchweiße Tittchen wie unschuldige Lämmchen aus dem groben Naturmaterial und pressen ihre rosigen Schnäuzchen an das eiskalte Spiegelglas, das sie im Augenblick zu zäpfchenförmigen Zitzchen erstarren lässt. Eine Armlänge tiefer wölbt sich ein glattrasierter Fruchtkörper aus dem Tigerleder, das im Schatten nackter Mädchenbeine langsam aus dem Blickfeld rutscht. Petra steht auf dem Waschbeckenrand wie eine lebende Skulptur und beginnt, die zarten Körperspitzen zärtlich mit ihren Fingerspitzen zu massieren. Sicher dient es der Durchblutung, Petras Wangen sind Pfirsichsamt, ihr Mund, den sie zu einem O formt, Holunder. Das kann Petra im Spiegel gut erkennen, auch Bert ist im Spiegelhintergrund deutlich zu sehen. Er hockt, gefesselt mit einem fliederfarbenen Damensamtcordschal und geknebelt mit einem rosa Spitzenslip, auf einem reinweißen WC-Topf, die Hände können sich in der festen Bandage einer schwarzen Netzstrumpfhose kaum noch bewegen. Dabei möchten sie sehr gern das runde, frei kreisende Fleischstück ergreifen, auf dem Petra noch vor wenigen Minuten im Grundkurs der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften gesessen hat. Da es sich ihm nun entgegenstreckt, ist ein Blick in den Innenraum möglich, in den Bert sehr gern und sehr dringend seinen zum Überlaufen gefüllten Schwengel bringen würde. Aber vergeblich ruckt er auf dem Klodeckel, kehlt er hinter dem Slipknebel. Petra schüttelt neckisch das zitrusblonde Köpfchen und glockt vor dem Spiegel weiter, ein Tröpfchen lässt ihr Fässchen überlaufen, bernsteinfarben träufelt es aus ihrer vorderen Unterseite heraus, eine heiße Quelle zischelt in das glänzende Waschbecken, von Berts Gesicht ist nur noch ein zartrosa Damenslip übrig.


Rasche Schritte auf dem Gang vor dem Toilettentrakt kündigen eine Störung dieses vollkommenen Bildes an.

Petra springt vom Waschbeckenrand aus in ihren Wildledertiger und stülpt einfach ein hautenges Kleid darüber. Noch bevor Brigitte den Raum betritt, schleudert Petra die WC-Tür zu, hinter der Bert nun die fremdländische Putzkolonne erwarten muss, die ihn mit unübersetzbarem Geschrei aus seiner peinigenden Lage befreien wird.

Petra und Brigitte stehen einander gegenüber.

Freundin und Freundin stehen gemeinsam vor dem Spiegel der Damentoilette, so dass wir sie beide zweimal sehen. Zudem haben sie zweimal zwei Stimmen, die in und aus ihren Köpfen ertönen. Es handelt sich um zwei äußere und zwei innere Stimmen. Die äußeren Stimmen organisieren sich dialogisch, die inneren Stimmen monologisch.


Brigittes äußere Stimme sagt, Petra.

Brigittes innere Stimme sagt, Bert.

Petras äußere Stimme sagt, Brigitte.

Petras innere Stimme sagt, Bert.

Brigittes äußere Stimme sagt, da bist du ja.

Brigittes innere Stimme sagt, er ist auch hier.

Petras äußere Stimme sagt, da bist ja du.

Petras innere Stimme sagt, auch er ist hier.

Nun wird der Dialog in Befragung und Rückbefragung verwandelt.

Petra? fragt Brigitte. Brigitte? fragt Petra.

Ist er auch hier? fragt Brigitte. Bert?

Bert? fragt Petra. Er ist auch hier?

Nun werden Befragung und Rückbefragung in ein Gespräch von Freundin zu Freundin verwandelt.

Petra, sagt Brigitte. Brigitte, sagt Petra.

Bert, sagt Brigitte. Bert, sagt Petra.

Und dann gesteht die Freundin der Freundin, dass sie Bert geistig, seelisch und körperlich lieben möchte, und zwar in allen möglichen Stellungen. Und dann lächelt die Freundin die Freundin stumm an, als ob die Freundin wüsste, was die Freundin denkt, obwohl keine der beiden Freundinnen weiß, was sie denken soll. Und dann hakt sich die Freundin bei der Freundin stumm und lächelnd und gedankenlos unter. Und dann verlassen Brigitte und Petra Seite an Seite die weißgekachelte Damentoilette der Lehrkörper der philosophischen Fakultät.

Der Spielplan

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