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Schon von der Plattform der Straßenbahn aus sah Christine Klaus, wie er neben der Normaluhr am Odeonsplatz stand, groß und breitschultrig in seinem Sportanzug, den er zu allen Jahreszeiten unter großzügiger Außerachtlassung städtischer Sitten und Gebräuche trug. Er war ein gut aussehender Bursche mit widerspenstigem braunem Haar und blitzblauen Augen. Dieser Gegensatz von Braun und Blau, verbunden mit einem heiteren und gewinnenden Wesen, verhalf ihm zu großer Beliebtheit bei Frauen aller Altersstufen, und manches Mädchen hätte darin zweifellos einen Grund zu eifersüchtiger Unruhe gefunden. Christine aber wußte sich frei von Regungen dieser Art. Sie lachte ihre Freundin Mimi aus, die behauptete, man dürfe keinem Mann auf der Welt trauen, und sei er noch so treuherzig und blauäugig. Mimis Pessimismus in bezug auf Männer entstammte einem Zerwürfnis mit ihrem Freunde Georg, der seine Aufmerksamkeit vorübergehend einer hübschen kleinen Platzanweiserin in den Gloria-Lichtspielen geschenkt hatte. Es war zwar keine ernste Angelegenheit gewesen, aber sie hatte einen Stachel in Mimis Seele hinterlassen, und sie empfahl seither den Kunden der Leihbücherei mit Vorliebe Bücher, in denen der Mann in seiner ganzen Unzuverlässigkeit gebrandmarkt wurde.

Christine pirschte sich vorsichtig an Klaus heran und freute sich über sein verdutztes Gesicht, als sie wie aus dem Erdboden gewachsen vor ihm stand.

„Servus!“ sagte sie und streckte ihm kameradschaftlich die Hand entgegen.

„Servus, Christel!“ Klaus’ Gesicht erstrahlte in einem breiten Lachen. Er schob seinen Arm durch den ihren und zog sie mit sich fort. „Was ist denn in dich gefahren, daß du mich mitten aus der Arbeit hierhergesprengt hast? Ich habe Kienagl etwas vom Zahnarzt vorgeschwindelt. Er sah mich an wie einen armen Irren, aber bevor er loslegen konnte, war ich draußen. Also sag, was —“

„Langsam, langsam!“ sagte Christine. „Zuerst möchte ich, daß du dich freust, weil ich da bin.“

Er drückte ihren Arm an sich. „Natürlich freue ich mich, das weißt du doch! Willst du spazieren gehen, oder trinken wir einen Frühschoppen irgendwo?“

„Gehen wir ein wenig in den Englischen Garten“, entschied Christine.

Die Sonne strahlte hell an einem blanken Himmel, es war April und noch ziemlich kalt, aber über den weiten wintergrauen Rasenflächen lag schon ein Schimmer von Grün, die Forsythien standen in golden flammender Blüte, und hie und da am Wegrand gab es Büschel dunkler Veilchen. Sie fanden eine sonnenwarme Bank im Schutz des Monopteroshügels. Den Kopf an Klaus’ Schulter gelehnt, überließ sich Christine dem Zauber des erwachenden Frühlings. Klaus hingegen, in dem die Erinnerung an Kienagls saures Gesicht keine reine Freude an Sonnenglanz und jungem Grün aufkommen ließ, begehrte nun ernstlich zu wissen, was es mit diesem unprogrammäßigen Spaziergang auf sich habe.

„Willst du mir nicht endlich sagen —“, begann er, und Christine beeilte sich, ihre Handtasche zu öffnen und zwischen Geldbörse, Taschentuch und allerlei Krimskrams den Zeitungsausschnitt hervorzuangeln!

„Lies!“ sagte sie.

Klaus las gehorsam; er drehte den Ausschnitt hin und her und sah nach, ob sich auf der Rückseite etwas Lesenswertes befinde.

„Na — und?“ fragte er verständnislos.

„Wie gefällt dir die Anzeige?“ fragte Christine.

„Wie mir die Anzeige gefällt?“ Klaus warf einen mißtrauischen Blick auf das Fetzchen Papier in seiner Hand. „Warum sollte mir die Anzeige gefallen?“

„Weil ich mich um den Posten bewerben möchte“, sagte Christine freundlich.

„Du? Du möchtest dich —“ es war ein beleidigendes Gelächter, das Klaus von sich gab — „sag mal, wie kommst du auf diesen gottverlassenen Gedanken?“

Christine versuchte, sich des Zeitungsausschnitts wieder zu bemächtigen, was ihr mißlang. „Da gibt es nichts zu lachen“, sagte sie ärgerlich, „und von gottverlassen kann gar keine Rede sein. Ich habe einfach keine Lust, wieder den ganzen Sommer in einem muffigen Laden zu sitzen, und außerdem“, setzte sie entschlossen hinzu, „glaube ich die Eigenschaften zu haben, die in der Anzeige gewünscht werden“.

„Was für Eigenschaften? Laß sehen!“ Klaus las mit erhobener Stimme vor: „Jung — stimmt! Selbständig? Wenn das soviel bedeutet wie eigenwillig, dann bist du auch das. Gescheit?“ Er grinste.

„Fang nur nicht wieder von den Punischen Kriegen an“, sagte Christine erbittert.

„Tierliebend?“ fuhr Klaus unbeirrt fort. „Mir scheint, hier liegt der Hund begraben. Du willst einen muffigen Laden mit einem stinkenden Kaninchenstall vertauschen.“

„Wer sagt dir, daß es sich um Kaninchen handelt?“ fragte Christine gereizt, weil sie Kaninchen nicht in den Kreis ihrer Erwägungen einbezogen hatte. Warum eigentlich nicht? Angorakaninchen waren große Mode.

„Es können auch Meerschweinchen sein“, sagte Klaus. „Auf jeden Fall handelt es sich um einen frauenlosen Haushalt, und in einen frauenlosen Haushalt gehst du mir nicht.“

„Warum nicht?“ Christine hob den Kopf und sah Klaus aus funkelnden Augen an. „Willst du es mir etwa verbieten?“

„Christel!“ bat Klaus, „nimm doch Vernunft an! Alleinstehende Männer, die eine junge Stütze für ihr Hauswesen suchen, haben meist irgendwelche dunklen Hintergedanken dabei, und —“

„Erlaube mal!“ unterbrach Christine und wies mit spitzem Finger auf die Anzeige. „Du hast übersehen, was hier steht. Hier steht: Junge selbständige Person!“

„Ja — und?“ verwunderte sich Klaus.

„Jemand, der Person schreibt, hat keine dunklen Hintergedanken. Person klingt so — so —“ sie suchte nach einem Wort und verkündete triumphierend: „neutral! Außerdem wird die junge Person nur tagsüber gesucht.“

„Und du glaubst, gewisse dunkle Hintergedanken ließen sich nur bei Nacht verwirklichen?“ erkundigte sich Klaus.

„Klaus!“ rief Christine empört. Dieser Zynismus ging entschieden zu weit. „Du solltest dich schämen, immer gleich das Schlechte anzunehmen. Sicher ist es ein einsamer alter Herr —“

„Mit einer Kaninchenzucht“, schaltete Klaus ein.

Christine hob einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn zornig fort. Es hatte keinen Sinn, mit Klaus über eine Sache zu reden, wenn er nicht vernünftig darüber reden wollte. Noch nie hatten lächerliche Einwände einen Menschen von einem Vorhaben zurückgehalten. Im Gegenteil, wenn irgendetwas, so waren sie dazu angetan, ihn zu bestärken. Auch Christine fühlte sich bestärkt. Sie setzte ihren Hut wieder auf, den sie abgelegt hatte, um ihren Kopf an Klaus’ Schulter ruhen zu lassen, und zog ihre Handschuhe an.

„Gehen wir!“ sagte sie kühl.

Klaus sah sie betreten an. Eine innere Stimme sagte ihm, daß er zu weit gegangen sei.

„Christel —“ begann er bittend, aber sie hatte schon ein paar Schritte von ihm fortgetan, und es blieb ihm nichts übrig als ihr zu folgen. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Sonne lockte einen Duft von feuchter Erde hervor, in den noch kahlen Bäumen lärmten die Spatzen wie toll, ein Eichhörnchen lief gerade vor ihnen einen Stamm hinauf.

Klaus schob seine Hand unter Christines Arm. Er brannte darauf, ihr mitzuteilen, daß er gestern seine neueste Erfindung zum Patent angemeldet hatte. Es handelte sich um einen Apparat, der die lästige und zeitraubende Arbeit des Schuhputzens zu einem Vergnügen machen sollte, und Klaus war überzeugt, diesmal so etwas wie das Ei des Columbus erfunden zu haben. Auch Christine stand dieser neuen Erfindung weniger skeptisch gegenüber als dem Stopfapparat und dem Bügeleisen. Sie fand Schuheputzen so schauderhaft, daß sie glaubte, jeder müsse froh sein, wenn er seine Schuhe fortan nur noch mit ein paar elektrisch betriebenen Bürsten in Verbindung zu setzen brauche, um sie in kürzester Zeit blank und glänzend zu sehen. Der Apparat bedeutete wirklich eine nicht zu unterschätzende Leistung auf dem Gebiet der Erleichterung des Alltags, und das Wunderbare war, daß diesmal niemand Klaus zuvorgekommen zu sein schien. Er hatte zahlreiche Konferenzen mit seinem Patentanwalt gehabt, wochenlang war er mit rauchendem Kopf umhergegangen — denn auch hier hatte die Schwierigkeit hauptsächlich darin bestanden, den Apparat zu einer erschwinglichen Anschaffung für jedermann zu machen — und manchen Abend hatten er und Christine damit zugebracht, einen schlagkräftigen Namen für die Erfindung zu ersinnen. Er müsse kurz wie ein Flintenschuß sein, fand Klaus, und vor allem müsse er einen deutlichen Hinweis auf die Schnelligkeit des Verfahrens enthalten. Christine hatte Hurtig, Prompt und Quick vorgeschlagen. Klaus jedoch wünschte das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, indem er Schlagkraft mit Wohlklang paarte. Er hatte sich „Rapid“ in den Kopf gesetzt, obwohl Christine ihn darauf aufmerksam machte, daß „Rapid“ weder originell noch besonders wohltönend sei.

„Wenn du schon durchaus dabei bleiben willst, so nenne ihn wenigstens ,Rapido‘“, hatte sie schließlich gemeint, und Klaus war begeistert gewesen. „Rapido“ klang zwar nicht wie ein Flintenschuß, aber dafür war es einprägsam, verheißungsvoll und melodiös. An jenem Abend hatte er ein Werbeblatt entworfen:

Achtung!

Befreien Sie sich von unnötigem Ballast!

Seien Sie auf eine rationelle Lebensweise be-

dacht! Schonen Sie Ihre Kräfte, indem Sie

Klaus Martens’ Schuhputzapparat „Rapido“

benutzen! „Rapido“ erhöht Ihr Lebens-

gefühl, indem er Ihnen Arbeit erspart.

Äußerst sparsam im Stromverbrauch!

Darum: Kein Haushalt ohne

„Rapido“!

„Du hättest Reklamechef werden sollen“, hatte Christine beeindruckt gesagt.

Die Hauptsache war natürlich, einen Produzenten für den „Rapido“ zu finden, aber mit der Anmeldung zum Patent war doch schon ein allererster Schritt getan. Klaus warf Christine einen Seitenblick zu und begegnete ihren Augen in dem Augenblick, als sie die seinen suchten. Die Folge davon war, daß sie beide lachen mußten.

„Christel“, sagte Klaus, „was sind wir für Idioten! Da streiten wir herum, und dabei habe ich eine Überraschung für dich!“

„Eine Überraschung?“ Christines Augen hefteten sich blank und erwartungsvoll auf sein Gesicht.

„Gestern habe ich den ,Rapido‘ zum Patent angemeldet“, verkündete Klaus.

„Ach so —“ machte Christine. Es klang ein wenig gedehnt. Eine Sekunde lang hatte sie gedacht, Klaus habe vielleicht eine besser bezahlte Stellung in Aussicht, oder es sei ihm gar ein Gewinn in der Lotterie zugefallen.

„Freust du dich denn gar nicht?“ fragte ihr Verlobter vorwurfsvoll.

,Natürlich freue ich mich‘, wollte Christine sagen, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. Während er sie im Sturmschritt mit sich fortzog — wenn er in Erregung geriet, mußte er rennen — entwarf er ihr zum hundertsten Male ein starkfarbiges Bild der Möglichkeiten, die sich aus dem Erfolg des „Rapido“ ergeben würden. Er sprach von der gesicherten Grundlage für ihr Glück, von Wohlstand, Ansehen und Sorglosigkeit. Seihe Rede war eindringlich wie ein Werbefilm; zum Schluß verstieg er sich zu der Behauptung, Christine habe es überhaupt nicht mehr nötig, sich nach einer Stellung umzusehen, da ihrer Heirat nun nicht mehr die geringsten Schwierigkeiten im Wege stünden.

„Du tätest besser daran, an deiner Aussteuer zu nähen“, rief er erzürnt, „anstatt einem Kaninchenzüchter in Waldham die Wirtschaft führen zu wollen!“

„Hör auf!“ bat Christine erschüttert. Sie war ein fleißiges Mädchen, das keine Arbeit scheute, aber Handarbeiten waren ihr von jeher ein Greuel gewesen. Die Vorstellung von sich selbst, wie sie dasaß und Kissenbezüge und Laken mit endlosen Hohlsäumen versah, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Klaus, der Erfinderische, vom Fortschritt Besessene, bekam zuweilen atavistische Anwandlungen!

Sie bogen in die Ludwigstraße ein; von der Theatinerkirche schlug es ein Uhr.

„Um Himmelswillen!“ rief Klaus. „Höchste Zeit fürs Geschäft! Kienagl wird mich fressen. Christel, versprich mir —“ er blieb im Strom des mittäglichen Verkehrs stehen und sah sie durchbohrend an — „Versprich mir, daß du den Posten beim Kaninchenzüchter nicht annehmen wirst, wenn er aussieht wie einer, der Hintergedanken hat.“

Christine mußte lachen. „Wie soll er denn deiner Meinung nach aussehen?“ fragte sie.

Klaus sah sich genötigt, seine Stimme zu erheben, um den Lärm der Straßenbahn, die heftig klingelnd einen Lastwagen zum Ausweichen veranlaßte, zu übertönen.

„Alt wie Methusalem!“ schrie er. „Am besten mit einem Vollbart oder einer Glatze, oder beidem! Hallo, da kommt mein Sechsundzwanziger! Servus Christel, um sechs bin ich bei dir!“

„Halt!“ rief Christine unter Hinweis auf die Verkehrsampel, die gerade von Gelb zu Rot wechselte, aber Klaus war schon drüben und schwang sich behende auf die überfüllte Plattform. Über die Köpfe der Fahrgäste hinweg winkte er Christine zu. Da stand sie, schlank und schön gewachsen wie ein junger Baum. Sie legte die Hände trichterförmig an den Mund. „Hallo!“ schrie sie, so laut sie konnte, „möchtest du etwa auch noch, daß er schielt?“

Die stolze Nymphe

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