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Zu Hause, unter dem Bild des flüchtenden Korsen, saß Klaus und wartete auf Christine. Er saß schon eine geraume Weile dort. Mit dem Glockenschlag fünf hatte er die Firma Kienagl & Eisenmann verlassen, ja, er hatte sogar eine Unterredung mit einem Herrn Kerngruber, den „Rapido“ betreffend, verschoben, nur weil es ihn drängte zu erfahren, was aus Christines verrücktem Einfall geworden war. Noch mehr drängte es ihn, ihr zu sagen, daß er nach wie vor dagegen sei. Hundertprozentig dagegen! Klaus liebte es, sich in Prozenten auszudrücken, wenn er einer Meinung oder einem Gefühl Nachdruck verleihen wollte. Seitdem Christine am Mittag seinen Blicken entschwunden war, hatte er über ihr Vorhaben nachgedacht. Und je mehr er nachgedacht hatte, um so weniger gefiel es ihm. Warum in aller Welt blieb sie nicht bei ihren Büchern? Konnte es einen besseren und nützlicheren Umgang geben als Bücher?Klaus’ literarischeBedürfnisse beschränkten sich zwar auf Abenteuer- und Kriminalromane. Ein Mann, der aktiv an der Verbesserung der Welt beteiligt ist, und sei es auch nur im kleinen, kann seinen Kopf nicht mit allen möglichen abseitigen Problemen vollstopfen. Aber Christines Belesenheit imponierte ihm, abgesehen davon, daß es hübsch gewesen war, sie abends in ihrer Buchhandlung abzuholen. Während sie mit dem eindringlichen Eifer, dessen sie fähig war, einem Käufer die Vorzüge eines Buches pries, hatte Klaus ihr über eine Zeitschrift hinweg zugeblinzelt, ganz erfüllt von dem beglückenden Wissen, daß dieses schöne Geschöpf eines Tages ihm gehören werde.

Sein Stolz auf Christine kannte keine Grenzen. Er hatte Mädchen vor ihr gekannt, keines von ihnen hatte es ihm schwer gemacht, es zu besiegen. Christine besiegen zu wollen, wäre dem Versuch gleichgekommen, eine Knospe vorzeitig zum Blühen zu bringen. Aber diese Unerschlossenheit erhöhte nur ihren Reiz. Schamhaft und scheu, wenn es um Dinge des Herzens ging, ließ sie sich selten zu unmittelbaren Gefühlsäußerungen hinreißen. Ihre Zärtlichkeit war lind und kühl wie Sonnenschein an einem Vorfrühlingstag. Und trotzdem gab es Augenblicke, in denen Klaus spürte, was sie sein würde, wenn sie erst einmal ganz zu sich selbst erwachte. Um dieser Verheißung willen war er bereit zu warten, denn er wollte sein Glück nur ihrer Freiwilligkeit verdanken. Inzwischen hütete er sie wie ein Kleinod. Er ertrug es nicht, die Blicke anderer Männer mit Wohlgefallen auf ihr ruhen zu sehen, niemals aber würde er zugegeben haben, daß seine Wachsamkeit etwas mit Eifersucht zu tun haben könne. Es sei die verdammte Pflicht und Schuldigkeit eines Mannes, seine Braut vor Zudringlichkeiten zu schützen, behauptete er, und Christine verzichtete gutmütig darauf, ihn wissen zu lassen, daß sie selbst dazu sehr wohl imstande sei.

Klaus warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Schon halb sieben! Wo blieb Christine? Zornig drückte er seine Zigarette aus und warf den Rest dem mottenzerfressenen Bären in den Rächen. Es verbesserte seine Laune nicht, daß Frau Dirrmoser alle fünf Minuten den Kopf zur Tür hereinsteckte und heuchlerische Besorgnis über Christines Verbleib äußerte. Beiläufig gab sie ihm zu verstehen, daß es ihrer unmaßgeblichen Meinung zufolge nicht gut tue, wenn ein junges Mädchen einem alleinstehenden Herrn die Wirtschaft führe. Da dies auch Klaus’ Meinung war, geriet er allmählich in Raserei. Mit unverkennbarem Widerwillen folgte er Frau Dirrmosers Bericht über die Tochter der Familie Zacherl im ersten Stock, die von „so einem“ ein Kind davongetragen habe. Im Begriff, die Gattin des Taxibesitzers zu allen Teufeln zu wünschen, hörte er, wie draußen die Korridortür geöffnet wurde. Frau Dirrmoser unterbrach sich in einer blumigen Schilderung der Einzelheiten und enteilte. Eine Sekunde später vernahm Klaus Christines helle Stimme, und dann stand sie, frisch und fröhlich Wie nur je, im Zimmer. Sein Vorhaben, ihr mit Zurückhaltung zu begegnen, scheiterte an der Freude, sie wohlbehalten vor sich zu sehen.

„Gottseidank, daß du endlich da bist!“ sagte er und gab ihr einen Kuß.

„Ich fuhr mit dem Rad hinaus“, berichtete Christine. Sie legte Hut und Jacke ab und ordnete vor dem Spiegel ihr Haar. „Auf dem Heimweg hatte ich Gegenwind und kam kaum vom Fleck.“

Gegenwind! Klaus atmete auf. Daß man nie an das Nächstliegende dachte!

„Aber es war wunderbar draußen! “Ihre Augen glänzten, und ihre Wangen waren rosig überhaucht. „Ich bekam beinah Heimweh, als ich den Duft der Tannen roch. “

„Na — und?“ fragte Klaus ungeduldig. Schließlich war Christine nicht des Tannenduftes wegen hinausgefahren.

„Einen Augenblick!“ bat sie. Sie goß Wasser in die Waschschüssel und wusch sich die Hände. Unnötig lange, fand Klaus. Aber dann kauerte sie sich endlich neben ihn auf den Diwan, eine blanke, seifenduftende Christine, und sagte: „Morgen früh trete ich meinen neuen Posten an.“

Also doch! Hatte Klaus wirklich gehofft, Christine werde etwas unterlassen, das zu tun sie sich vorgenommen hatte? Neben vielen schätzenswerten Eigenschaften besaß sie einen stark ausgeprägten und zielbewußten Willen. In zornigen Augenblicken neigte Klaus dazu, ihn Eigensinn zu nennen.

„Ich habe mir die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen“, nahm er gleichwohl den Kampf auf. „Glaubst du, deine Eltern haben dich den Buchhandel erlernen lassen, damit du hingehst und einem Kaninchenzüchter die Wirtschaft führst?“

Christine lachte. Ihre Eltern waren ein Argument, das er gern ins Treffen führte, wenn die eigenen versagten. „Er ist kein Kaninchenzüchter“, sagte sie, ohne darauf einzugehen, „weißt du, was er ist?“

„Wie soll ich das wissen?“ knurrte Klaus. Von ihm aus konnte Sommerhoff der Mann im Mond sein, und er beabsichtigte, das Christine wissen zu lassen, da sagte sie: „Er ist Bildhauer.“

Diese Mitteilung verfehlte ihren Eindruck nicht. Als Mann des praktischen Lebens besaß Klaus in bezug auf Künstler eine Menge Vorurteile. Er war geneigt, sie in Bausch und Bogen für wurzellose Existenzen zu halten, die dem lieben Herrgott die Tage und redlichen pflichtbewußten Männern die Frauen stahlen. Die Erfahrungen eines Freundes, dem von einem Kunstmaler die Braut ausgespannt worden war, hatten Klaus in seiner Abneigung gegen alles, was da malte, schrieb und musizierte, sehr bestärkt. Und das farbenfrohe Bild, das Christine nun von Sommerhoffs Hauswesen entwarf, war nicht dazu angetan, sein Mißtrauen zu verringern.

„Eine schöne Wirtschaft!“ sagte er feindselig.

„Es ist halb so schlimm“, beruhigte Christine. „In einer Woche bringe ich die Sache in Schwung. Er hat bisher nie eine vernünftige Hilfe gehabt.“

„Warum nicht?“ forschte Klaus verbissen. „Frauen fliegen doch bekanntlich auf Künstler.“

„Besonders Putzfrauen!“ Christine mußte lachen im Gedanken an die „Putzweiber“, wie sie auf Sommerhoff flogen. Doch dann entsann sie sich des Gesprächs vom Morgen und sagte: „Sei nicht lächerlich, Klaus! Sommerhoff könnte mein Vater sein.“

„Wie alt ist er denn?“ fragte Klaus mit Überwindung.

„Mindestens fünfzig“, sagte Christine. Sie sah den Bildhauer vor sich, seine kräftige untersetzte Gestalt, den Kopf mit dem graublonden zerzausten Haar, die zahllosen Fältchen um die hellen Augen und den sarkastischen Zug um den Mund. „Mindestens fünfzig!“ wiederholte sie nachdrücklich.

„Das sind die Schlimmsten“, sagte Klaus wider alle Vernunft.

Im nächsten Augenblick wünschte er, er hätte es nicht gesagt, denn Christine vertauschte ostentativ den Platz an seiner Seite mit dem Rohrsessel. Es war schon dämmerig im Zimmer, eigentlich hätte sie auf stehen und das Licht andrehen müssen, schon um Frau Dirrmoser, die natürlich draußen herumspionierte, keinen Grund zu falschen Vorstellungen zu geben. Aber sie blieb sitzen, den Blick eigensinnig auf den verblassenden Abendhimmel im Ausschnitt des Fensters geheftet. Warum verdarb Klaus ihr die Freude an ihrer neuen Arbeit? Weil Sommerhoff Künstler war? Nein, weil er ein Mann war! ,Am liebsten sperrte er mich in ein Kloster ein‘, dachte Christine ärgerlich.

Seine Stimme kam durch die Dunkelheit zu ihr: „Christel?“

„Ja?“

„Bist du böse?“

„Nein — aber —“

„Schau“, sagte er eindringlich, „du bekommst eine Menge Arbeit und verdienst weniger als bisher.“

Aha, nun versuchte er, es auf dieses Geleise zu schieben!

„Ja“, sagte sie, „ich verdiene wohl etwas weniger, aber dafür muß ich nicht den ganzen Sommer im Laden stehen, und außerdem habe ich das Essen frei.“

„Das du selbst gekocht hast“, schaltete Klaus mit einem unverkennbaren Unterton von Hohn ein.

Christine beschloß, ihn zu überhören. „Selbstverständlich!“ sagte sie fest. „Übrigens hast du den Nutzen davon, denn ich werde mich zu einer Musterhausfrau entwickeln.“

Klaus gab es auf. Frauen hatten eine Art von Logik, gegen die ein Mann einfach nicht aufkam. „In Gottes Namen also!“ seufzte er und fügte kriegerisch hinzu: „Aber das sage ich dir: sobald ich einen Produzenten für den ,Rapido‘ habe —“

„Wird geheiratet“, vollendete Christine. Sie stand auf und lehnte ihre weiche kühle Wange einen Augenblick an die seine. Dann drehte sie das Licht auf. Es entquoll einer von einem Behang aus weißen und grünen Perlen umgebenen Birne hoch oben an der Decke, und der jähe Übergang von sanfter Dunkelheit zu grellem Licht machte sie beide blinzeln. Klaus hatte sich erboten, einen Lampion zu stiften, um mit seiner Hilfe die Beleuchtung weniger unbarmherzig zu gestalten, aber Christine fürchtete, es werde nach Budenzauber aussehen und die brave Frau Dirrmoser zu moralischen Bedenken veranlassen.

„Für fünfundzwanzig Mark im Monat kann man nun einmal keinen Luxus verlangen“, stellte sie vernünftig fest, während sie hin und her ging und etwas zum Abendessen zusammensuchte. Aber plötzlich blieb sie wie angewurzelt mitten im Zimmer stehen.

„Klaus!“ sagte sie und sah ihren Verlobten vorwurfsvoll an. „Wie oft habe ich dir gesagt, daß du die Zigarettenstummel nicht dem Bären ins Maul werfen sollst!“

Die stolze Nymphe

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