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Pro und Kontra

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Ich war neulich bei meinem 20-jährigen Abijubiläum, und es war richtig nett. Es war nicht mehr dieses Herumgepose wie vor zehn, fünfzehn Jahren, als alle noch beim Sortieren und Ankommen waren. Alle waren inzwischen irgendwo angekommen, wie fragwürdig auch immer. Die Dinge hatten sich ein wenig gesetzt. Wer jetzt kein Kind hatte, gebar keines mehr. Wer jetzt noch rauchte, tat es für immer. Wer jetzt eine nette Ehefrau hatte, verließ sie erst in fünf bis zehn Jahren. Einträchtig stand man beisammen, freute sich, dass man noch am Leben war, und nuckelte an seiner Flasche Herforder Pils.

»Und, Ella, was machst du noch mal?«, fragte Jörn, der draußen zwischen mir und dem Standaschenbecher stand. Wir rauchten. Hinter uns der geräumige Gasthof, in dem die Feier stieg, vor uns der nachtschwarze, westfälische Acker, der sich endlos vor unseren Füßen ausrollte bis zum Horizont.

»Bist du nicht Analytikerin?«

»Satirikerin«, sagte ich.

»Oho«, sagte Jörn.

Er blies den Rauch seiner Zigarette aus in kleinen, schnellen Stößen.

»Also … bist du links?«, fragte er.

»Hm. Schon«, sagte ich.

»Wow«, sagte Jörn. Danach schwieg er eine Weile, sog gedankenvoll an seiner Zigarette, Marke Benson & Hedges.

Dann, sagte Jörn, hätte ich vermutlich eine ganz andere Weltsicht als er. Dann, sagte er, dächte ich in vielen Dingen des Lebens quasi konträr zu ihm.

Das sei möglich, sagte ich.

Das sei fantastisch, sagte Jörn und strahlte mich an.

Ich müsse wissen, seit seinem Studium der BWL und dem ersten Job in der Investmentberatung hätten immer alle dieselbe Weltsicht wie er. Ganz genau dieselbe. Sogar sein fünfjähriger Sohn spare schon sein Taschengeld für einen BMW. Immer alle d’accord, immer alle auf einer Linie, sagte Jörn mit Bedauern in der Stimme. Da erweitere man ja niemals seinen Horizont.

»Für einen Investmentberater bist du richtig reflektiert«, sagte ich.

Das sei er, nickte Jörn. Und ich herrlich schön frech. Ah, das habe ihm die letzten Jahre, ach was, Jahrzehnte, so manches Mal gefehlt. Einmal infrage gestellt zu werden, einmal kontra zu bekommen, wie sehr er sich danach sehne.

Er sah mich an.

»Wir können uns streiten, Ella«, sagte Jörn. »Pro und Kontra, Rede und Gegenrede, hier und jetzt.«

»Okay«, sagte ich.

»Sag mal was«, sagte Jörn.

»Was?«, fragte ich.

»Egal«, präzisierte Jörn. Es interessiere ihn alles. »Greif irgendwas heraus aus der Fülle an Themen.«

Ich entfachte eine neue Zigarette und sagte, die Fülle an Themen würde mich grundsätzlich eher überfordern.

»Dann«, sagte Jörn und raufte sich das dunkle Haar, das auch schon mal voller war: »Sag: Wie findest du Autos?«

Er sah mich erwartungsvoll an.

Jetzt musste ich liefern. Ich wählte meine Worte mit Bedacht.

»Autos sind scheiße«, sagte ich. »Alle abschaffen. Alle ab in die Schrottpresse.«

»Autos … scheiße … alle abschaffen«, wiederholte Jörn. »Unfassbar! Als wäre das so einfach. Als ob da nicht die ganzen Arbeitsplätze dranhingen und die gesamte deutsche Volkswirtschaft.«

Er nahm aus seiner Benson & Hedges einen kräftigen Zug.

»Und Mindestlohn, wie findest du den?«

»Ab 20 Euro okay«, sagte ich.

»20 Euro«, staunte Jörn und schlug sich gegen die Stirn.

»Nein wie herrlich, nein wie realitätsfern«, sagte er und lachte leise in sich hinein. Als sei das nicht Ausweis reinsten Unwissens, ja kompletter Ignoranz.

»Und Flüchtlinge?«, fragte er. »Was sagst du zu den vielen Flüchtlingen?«

»Zu den Flüchtlingen sage ich Geflüchtete«, sagte ich.

»Geflüchtete«, rief Jörn. »Köstlich! Sagt man das so in der Antifa? Salbadert man so in der taz? Und was tun, deiner Meinung nach, mit den vielen Geflüchteten?«

Ich durfte ihn nicht enttäuschen.

»Alle reinlassen«, sagte ich.

»Alle reinlassen, fantastisch«, gluckste Jörn.

Langsam begann das Gespräch, richtig Spaß zu machen. Langsam begann auch ich, endlich einmal wieder zu fühlen, wer ich war und wo ich stand. Das war mir sonst nur selten klar, daheim bei meinen Leuten, in meiner vertrauten Welt.

»Und Walfang, was sagst du dazu?«, durchbrach Jörns übersprudelnde Stimme meine Gedanken.

»Nicht so toll«, sagte ich.

»Okay, finde ich auch«, murmelte er enttäuscht.

Dann fiel ihm etwas ein: »Aber wenn das Arbeitsplätze schafft?«

»Spielt keine Rolle!«, rief, nein, verkündete ich, spieh jede Silbe in den Nachthimmel. So langsam kam ich in Fahrt.

»Spielt keine Rolle«, japste Jörn. »Großartig, ja komplett krank. Was für ein Gespräch!«

Es war wirklich ein tolles Gespräch, das muss ich sagen. Wir hatten uns nichts zu sagen, aber das immerhin diametral.

Es war erstaunlich: Bei Tageslicht hätten wir uns gehasst, im Alltag wären wir uns seit dem Abitur nie mehr über den Weg gelaufen, außer vielleicht beim TÜV, aber hier und jetzt standen wir Seite an Seite, zwei Antipoden, vereint in Differenz, und sahen gemeinsam über den endlosen Acker bis zum Horizont. Der sich, so war es schemenhaft zu erkennen, in diesem Moment noch weiter ausdehnte, immer weiter, unendlich weit, ob bedingt durch literweise Pils oder dieses Gespräch, war nicht zu unterscheiden.

Ich dachte daran, den Arm um Jörns Schulter zu legen, aber ich tat es nicht.

»Ella, sieh auf den Acker«, sagte Jörn, wobei seine Stimme ein leichtes Crescendo hinlegte. »Schau genau hin. Was siehst du?«

»Monokultur«, sagte ich mit Grabesstimme. »Pestizide. Insektensterben. Vanitas.«

»Und ich den Technologiepark, der hier bald gebaut wird«, jubelte Jörn. »So verschieden sind wir. Du Destruktion, ich Konstruktion. Du billige Zigaretten, ich gute Zigaretten. Du Rosa Luxemburg, ich Jeff Bezos!«

Während ich noch versuchte, die beiden Genannten im Geiste zusammenzubringen, riss Jörn bereits beide Arme gen Himmel: »Ella, deine bloße Gegenwart irritiert und inspiriert mich zugleich. Deine herrlichen Denkfehler. Dein komplettes Unwissen. Deine hammergeile«, er sagte wirklich hammergeile, »Ignoranz. Jedes deiner Worte, jeder deiner Blicke, deine selbst gedrehten Ökokippen, ja sogar deine schlecht gefilzte Umhängetasche schreien mir ins Gesicht: Ich weltfremde Gutmenschtante verachte Leute wie dich!«

»Du lieber Himmel, du bist wirklich total bekloppt«, hauchte ich. »Ich verstehe dich nicht. Nichts an dir leuchtet mir ein.«

»Ich dich auch nicht«, strahlte Jörn.

»Oh, hallöchen, ihr beiden.«

Es war der nette Branko aus der Theater-AG.

»Na, was treibt ihr beiden denn so?«, fragte er, während er aus der Tasche seines Anoraks eine Schachtel Zigaretten herausfischte.

»Horizonterweiterung«, rief Jörn. »Zwiesprache. Neue Perspektiven gewinnen.«

»Wir quatschen hier gerade total konträr über die großen gesellschaftlichen Fragen«, krähte ich.

»Ist super«, riefen wir beide im Chor. »Mach mit. Erzähl uns von dir. Wer bist du? Wo stehst du? Was willst du vom Leben?«

Branko entzündete eine Camel und sagte, er arbeite als Berufsschullehrer, spiele Tuba in der Kirchenkapelle, engagiere sich ehrenamtlich bei den Johannitern, fahre einen schmucken Audi A8 und wähle CDU oder auch mal die Grünen. »Reicht das?«

»Uff«, sagte ich.

»Ach du Scheiße«, sagte Jörn und kratzte sich am Kopf. »Das passt jetzt leider gar nicht. Audi A8 und Helfersyndrom zugleich, und dann noch deine Balkanwurzeln, das ist zu mehrdimensional, wo sollen wir dich einordnen?« Das brächte alles durcheinander. Das würde hier noch mal ganz neue Fässer aufmachen.

»Und dann noch Camel-Zigaretten«, stöhnte Jörn. »Die konturloseste Marke der gesamten Tabakindustrie!«

Er sah sich um.

»Hey Branko, guck mal, die Tina. War das nicht deine Jugendliebe? Geh doch mal Hallo sagen«, sagte er und schob Branko ein Stück von uns weg.

»Und Tempolimit, wie findest du das?«, erkundigte sich Jörn, als Branko wieder verschwunden war, aber seine Stimme klang nun schon etwas träger. Das Gespräch hatte ein Stück an Schwung verloren. Frauenquote, Grundrente, die Vor- und Nachteile von Atomkraft, all das rissen wir noch halbherzig an. Ausgelaugt, aber auch zufrieden umarmten wir uns nachts um drei. Dann trennten sich unsere Wege.

Der Untergang des Abendkleides

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