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Der schönste Tag

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Meine Cousine Albertine hat ein Kind geboren. Mutter und ich betrachten das erste Beweisfoto auf dem Handy.

»Wie süß«, sage ich und bekomme glasige Augen.

»Das musst du nicht sagen«, sagt meine Mutter. »Wir sind hier unter uns.«

Sie betrachtet den Bildschirm: »Die roten Flecken, der verbeulte Kopf, ja, gibt’s dafür nicht Photoshop?«

Wir sitzen an Mutters Küchentisch, trinken Tee.

»Mama«, sage ich und rühre in meinem Glas. »Erinnerst du dich eigentlich noch an meine Geburt?«

»Nein«, sagt meine Mutter und schüttelt so energisch den Kopf, dass ihre Ohrgehänge klimpern.

Sie schaut aus dem Küchenfenster in den Nieselregen.

»Doch«, sagt meine Mutter. »Oh doch, doch, doch.«

Sie lehnt sich auf ihrem Küchenstuhl zurück. Ihre Augen sind auf einmal geweitet.

»Na dann. Erzähl doch mal«, stupse ich sie an.

»Nein«, sagt Mutter.

»Och komm, nur ein bisschen«, sage ich. »Das betrifft auch mich. Ich habe auch mitgemacht.«

»Du und mitgemacht?«, ereifert sich Mutter. »Das wüsste ich aber.«

Lange sitzt sie einfach so da, schaut in ihr Teeglas, als ob auf dessen Grund etwas Geheimnisvolles schwimmt.

»Na gut«, sagt Mutter. »Ja, ich erinnere mich.«

Sie senkt die Stimme.

»Es ist November, es ist Nacht. Durchs Fenster schimmert der Vollmond. Ich liege so da. In diesem blütenweißen Kreißbett. Mit vollem Bauch. Darin steckst nämlich nicht nur du, sondern auch ein komplettes Käsefondue. Appenzeller, junger Gruyère, ich weiß es noch wie heute. Wir hatten am Abend bei den Nachbarn gefeiert, es war zwei Wochen vor dem Termin. Ja, hätte ich denn ahnen können, dass du schon kommst? Sonst warst du ja immer eher fürs Trödeln, Stichwort Uniabschluss. Bei Gott, dieses Käsefondue war wirklich eine Wucht. – Wo war ich noch mal? Ach ja. Die ersten sachten Wehen sind bereits verebbt, keine große Sache. Zwei Hebammen sitzen gelangweilt in der Ecke, spielen Bridge. Der Arzt ist eine rauchen. Wir warten. Und warten und warten, während ich darüber brüte, was schlimmer ist: das Warten oder dieser schlecht geschnittene Gebärkittel, den ich tragen muss. Ab und an linse ich quer durch den Kreißsaal zum anderen Kreißbett, zu dieser dauergrinsenden Rotblonden. Mehrfachbelegung, das war ja damals so, aber da tut sich auch nichts. Nach Mitternacht warten wir immer noch, hier und da eine mickrige Wehe, mehr nicht. Dann flößt mir eine der Hebammen ein Mittelchen ein. So einen süßlich schmeckenden, wehenfördernden Saft. Und dann kommt es raus.«

»Du meinst, ich?«, frage ich.

»Nein, das Käsefondue natürlich«, sagt Mutter. »Was habe ich gereihert. Quer über das ganze Kreißbett. Die Hebamme flucht, will gerade meinen Kittel abwischen, da kommt sie auch schon. Die erste starke Wehe. Die erste Austreibungswehe, die diesen Namen verdient hat. Hoppala. Das war ein Schmerz, wie soll ich das beschreiben …? Ich könnte mir vorstellen, eine solid gezimmerte Streckbank in einer mittelalterlichen Folterkammer hat denselben Effekt. Doch ehe ich darüber nachdenken kann, kommt auch schon die zweite. Bam bam bam bam bam …«

»Klingt wie Krieg«, sage ich.

»Es ist Krieg«, sagt meine Mutter. »Bei Gott, es ist, als ob du schwer verletzt versuchst, den rettenden Hubschrauber zu erreichen, verfolgt von einem Dutzend Vietcongs. Hast du Platoon gesehen?«

»Mama, du hast Platoon gesehen?«

»Natürlich«, sagt Mutter, »zur Traumabewältigung. Und natürlich gebe ich nicht auf. Ich halte mit allem, was ich habe, dagegen. Da liege ich. Auge in Auge mit dem Russen. Also dem russischstämmigen Arzt, der mittlerweile doch mal eingetrudelt ist und kalt lächelnd am Fuße des Bettes steht. Dr. Karkarow hieß der, hätte aber auch Dr. Guckindieluftkow heißen können oder Meinefingerstinkennachrauchkow, dieser Kurpfuscher.«

»Und dann?«, frage ich.

»Und dann«, sagt meine Mutter, »ist auch schon die dritte Wehe im Anmarsch. Die eine, alles überragende. Die Monsterwehe. Ich spürte sie schon von Weitem. Wie ein Heer spanischer Söldner, ja wie die gesamte deutsche Ostfront bewegt sie sich auf mich zu. Diese gottverdammte dritte. Und ich denke, das war’s jetzt. Das überlebst du nicht. Weißt du, wie es ist, wenn dich eine Handgranate von innen zerreißt? Wie sich ein kalter Entzug nach einer Cracknacht anfühlt?«

»Nein«, sage ich.

»Ich auch nicht«, sagt meine Mutter. »Aber so ungefähr muss es sein.«

»Hattest du denn keine Betäubung?«, frage ich.

»Keine Betäubung«, nickt Mutter und klingt ein bisschen stolz. »Das waren noch nicht diese Wohlfühlgeburten wie heute: PDA, Wassergeburt mit Schaumbad, Duftnote Granatapfel-Limette … Und als ich mich einmal umsehe, zum anderen Ende des Kreißsaals hinüberspähe, durch meinen Vorhang aus schweißnassen Haarsträhnen, sehe ich wieder die Rotblonde, die gerade ihr viertes Kind herauswinkt und zwischendurch noch zu mir herüberlächelt, die Angeberin. Und bei mir ist nichts als die vierte Wehe in Sicht, während am Fenster im selben Moment der Blitz einschlägt … Okay, das Letzte war jetzt hinzugeflunkert, aber nur das. – Kurz, so langsam schlägt mir das Ganze mächtig auf die Laune. So langsam ist da nichts mehr mit klassischer Weiblichkeit, Stichwort Sanftmut. ›Ruhig, ganz ruhig‹, höre ich die Hebammen um mich herum schwadronieren, doch an Ruhe ist nicht mehr zu denken. Ich strample und trete wild um mich. Sooo!«

Meine Mutter tritt gegen einen Küchenstuhl. Der Stuhl fällt zu Boden.

»Alle Achtung«, sage ich.

»Danke«, sagt meine Mutter und rückt den Kragen ihrer Bluse zurecht. »Also, drei Hebammen halten mich fest, das heißt, irgendwann sind es nur noch zwei, der dritten habe ich inzwischen einen Bauchtritt mit der strampelnden Ferse verpasst.«

Mutter sitzt da, die Augen aufgerissen, der Blick seltsam entrückt.

»Mama, alles gut?«

»Unterbrich mich nicht«, bellt sie zurück. »Ich bin gerade so gut drin. Und ich denke, nein, sage, nein, brülle durch den ganzen Kreißsaal, dass es noch von den Neonröhren an der Decke widerhallt: ›Baby, wir werden diesen Krieg nicht verlieren! Ich lebe in einer Welt voller Scheiße, jaaa! Aber ich bin am Leben. Und ich habe keine Angst!‹«

»Krass«, sage ich. »Ist das nicht ein Zitat aus Full Metal Jacket«, denke ich.

»Ja, und dann?«, frage ich.

»Ich sage dir, was dann«, sagt Mutter. »Dann platzt auch noch meine Fruchtblase, oder mein Darm, das ist im Strudel der Ereignisse auch nicht mehr auszumachen. Flüssigkeiten, überall: Blut, Schweiß, Tränen und halb verdautes Käsefondue. Während die Hebamme – so eine dümmliche Dralle mit Schafsaugen, weißt du – sagt, nein, flötet, mit ihrer schönsten Foltermagdstimme: ›Und nun pressen, liebe Frau Werner – pressen!‹ Bei Gott, ich sage dir, ich presse, wie ich nie zuvor im Leben gepresst habe. Ich hätte eine ganze Einbauküche herauspressen können, mit Kücheninsel, wenn das gottverdammte Biest, also du«, Mutter zwinkert mir zu, »sich nicht so störrisch an die Plazenta geklammert hätte.«

»Und der Arzt?«, krächze ich. »Konnte der nicht helfen?«

»Der Arzt?«, hohnlacht Mutter. »Der Trottel feuert mich noch an: ›Sie schaffen das! Ruhig atmen! Und eins und zwei …‹, da brülle ich ihm ins Gesicht: ›Du gottverdammter Höllenhund, verrecke!‹«

»Du gottverdammter Höllenhund, verrecke«, wiederhole ich und präge mir alles gut ein.

»Und Papa?«, frage ich.

Mutter verdreht die Augen. »Der hat sich schon mal voller Vorfreude bei den Nachbarn betrunken, das war ja damals so. Väter waren im Kreißsaal nicht zugelassen. Ich war ihm nicht böse. Irgendwas musste der alte Tunichtgut ja solange machen.«

»Und wann komme ich?«, frage ich.

»Das habe ich mich damals auch die ganze Zeit gefragt«, knurrt Mutter. »Zunächst ist aber noch der Damm gebrochen, beziehungsweise gerissen. Gefolgt von einem ohrenbetäubenden Schrei, ob aus meiner Kehle oder deiner, die du plötzlich irgendwo zwischen meinen Beinen baumeltest. Ja, da warst du.«

»Da war ich«, echoe ich, irgendwie erleichtert.

»›Wenn du dein Baby im Arm hältst, sind alle Schmerzen vergessen‹«, singsangt meine Mutter. »Auch so eine Weisheit. Also bei mir nicht. ›Nie wieder. Nie, nie wieder‹, habe ich nur gestammelt, als ich dich im Arm hielt. Aber das habe ich bei deinen Geschwistern später auch gesagt.«

Mutter trinkt ihren letzten Schluck Tee. Ich fühle mich irgendwie betreten.

»Das tut mir alles sehr leid, Mama«, sage ich und wische mir den Schweiß von der Stirn.

»Das hättest du damals sagen sollen«, schnaubt Mutter, »anstatt auch noch die ersten hundertfünfzig Nächte durchzubrüllen.«

Ihre hellen Augen funkeln mich an.

»Danke für alles«, sage ich reumütig. »Danke, danke, danke.«

»Und ich dachte schon, du würdest es nie sagen«, sagt meine Mutter mit sehr zufriedenem Blick.

Und nun bräuchte sie dringend mal einen Schnaps.

Ich hole kleine Gläser, wir trinken einen Kräuterbitter. Und dann noch einen.

»Soll ich dir was sagen?«, sage ich, schon ein bisschen schnapsselig. »Manchmal, wenn mir das ganze Leben über den Kopf wächst, wünsche ich mich wieder da hinein«, sage ich und zeige auf Mutters Bauch.

»Manchmal, wenn du als Kind mal wieder deine Ausraster hattest, kam mir derselbe Gedanke«, lächelt meine Mutter. »Und willst du auch noch wissen, wie du gezeugt wurdest«, erkundigt sie sich, »jetzt, wo ich gerade so in Fahrt bin?«

Auch wenn das natürlich spannend klänge, sage ich, heute lieber nicht. Ich müsste das eben Gehörte erst mal verarbeiten, so die nächsten sieben, acht Jahre.

»Ein andermal«, sage ich salomonisch. »Ein andermal bestimmt.«

Der Untergang des Abendkleides

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