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Theater mit Tante

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Ab 23 Uhr ist mit den Menschen nicht mehr viel los, vor allem in der U-Bahn. Gesichtszüge entgleiten. Oberkörper verlieren an Spannkraft. Schultern sacken gegen Fenster. Wildfremde Menschen schmiegen sich aneinander. Niemand sitzt mehr kerzengerade, außer meine Tante.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagt meine Tante auf dem Sitz neben mir und zupft an ihrem Abendkleid, dessen glänzender Saum den Boden streift.

Das Theaterstück, nun ja, es habe ihr schon ganz gut gefallen. In der Dramaturgie bestünden jedoch einige Mängel. Die Figurenkonstellation sei schwach gewesen und die Handlungsschritte nicht immer klar motiviert.

»Wie hieß das Stück noch gleich?«

»König der Löwen«, sage ich müde und spähe durchs Fenster, über die nachtschwarze Elbe.

»Und dieser junge Protagonist«, sagt meine Tante, »dieser adoleszente Löwe namens Simba war auch etwas eindimensional.«

Meine Tante ist Gymnasiallehrerin. Pensionierte Gymnasiallehrerin, das muss man wissen.

»Es ist ein Musical«, sage ich.

Das spiele keine Rolle, erklärt meine Tante. Bühnenaufführung sei Bühnenaufführung und müsse sich beweisen. Sie bleibe dabei: Einzelne Handlungsstränge seien unverständlich, ja komplett entbehrlich gewesen, genau wie dieses quälende Popcorngeraschel hinter uns.

»In den meisten deiner Opern ist die Handlung auch unverständlich«, sage ich.

»In den meisten Opern ist der Eintritt wenigstens so teuer, dass man sich die Frage gar nicht stellt«, kontert meine Tante. »Und auch dieser Gegenspieler, dieser Scar! Himmel, so durchschaubar wie die Witze in der Damenkloschlange.«

Apropos, eine so vollgepinkelte Klobrille habe sie seit der Uraufführung der Iphigenie in der Staatsoper nicht mehr gesehen.

Uns gegenüber sitzt ein älteres Paar in komplementärfarbenen Multifunktionsjacken. Die Frau umklammert ein Königder-Löwen-Programmheft, blickt uns wortlos an.

»Warum waren wir noch mal da drin?«, erkundigt sich meine Tante.

»Ein Freund arbeitet da und hat mir die Karten geschenkt«, spule ich zum dritten Mal ab. Einmal im Jahr machen meine Tante und ich einen »kulturellen Abend«, nur wir zwei. Die restlichen 364 Tage muss ich mich davon erholen.

»Und leider, leider war das Stück auch sehr epigonal«, stoßseufzt meine Tante. »Dasselbe Motiv des Brudermordes gibt es bereits bei Hamlet. Das muss man doch im Programmheft kennzeichnen.«

Aber gut, all die literarischen Referenzen seien ja auch erfrischend. Das schwierige Vater-Sohn-Verhältnis, herrlich, genau wie bei Kafka. Aber keine Verweise auf Schillers Räuber.

»Warum eigentlich nicht?«

Neugierig schaut meine Tante in die Runde. Die Frau gegenüber versteckt den Kopf hinter ihrem Programmheft.

»Vor allem dieses alberne Warzenschwein, dieser Pumba«, fährt meine Tante unbeirrt fort, »war doch ein wenig zu typisiert. Immer nur fröhlich, das ist doch niemand, außer diese Grinsekatze Markus Lanz. Und überhaupt, die moralische Essenz des Stücks, dieses ›Hakuna Matata‹, es gibt keine Probleme: Komisch eigentlich, dass das beim deutschen Publikum so gut ankommt. Dass wir, die wir jahrelang über die sogenannte Flüchtlingskrise gejammert haben, jetzt hier ›Hakuna Matata‹ im Takt mitklatschen – wenn es wenigstens im Takt gewesen wäre! –, ist doch ein wenig albern.«

»Die Fahrkarten bitte.«

Ein sehr großer Mann mit sehr großem Schnauzbart ragt plötzlich neben uns auf. Sein Brummbass erfüllt das Abteil. Ein angeklipptes Namensschild weist ihn als Kontrolleur aus.

Ich zeige meine Monatskarte, das Pärchen zeigt seine Wochenkarte, meine Tante ihr König-der-Löwen-Ticket.

»Die Fahrkarte bitte«, wiederholt der Kontrolleur. »Das ist nur eine Eintrittskarte.« Sein buschiger Schnurrbart wackelt bei jedem Wort.

»Huch«, sagt meine Tante. »Nur eine Eintrittskarte? Na so was. Ich dachte, da sei die Hin- und Rückfahrt mit drin.«

»Nope«, sagt der Kontrolleur.

»Bei der Staatsoper und dem Schauspielhaus ist das Bahnticket aber immer mit drin«, ereifert sich meine Tante. »Ich gehe normalerweise nämlich gar nicht in Musicals. Das populäre Musiktheater ist nicht ganz meine Welt, müssen Sie wissen. Das ist mir ein Tickchen zu unterkomplex. Also wenn Sie dann mal weiterwollen …«, sagt meine Tante und legt den silbergrauen Kopf leicht schräg, auf den Lippen ihr schönstes Jungmädchenlächeln.

»Dann steigen Sie beim nächsten Halt mit aus«, sagt der Kontrolleur. »Dann brauche ich Ihre Personalien.«

»Wie? Was?« Das Lächeln meiner Tante entgleist.

»Sie fahren schwarz«, fasst der Kontrolleur die Sachlage zusammen. »Das macht 60 Euro, plus eine namentliche Registrierung. Strafgesetzbuch, Paragraf 265a.«

»Ich und schwarzfahren?«, entfährt es meiner Tante. »Ich bin noch niemals schwarzgefahren. Ich habe noch nie etwas Illegales getan, außer Antidepressiva rezeptfrei aus Rumänien zu bestellen. Sehe ich etwa aus wie ein Schwarzfahrer? Wenn jemand kein Schwarzfahrer ist, dann ich!«

»Wer sieht denn dann aus wie ein Schwarzfahrer?«, fragt der Kontrolleur.

»Na, der da«, sagt meine Tante und zeigt auf einen friedlich dösenden Lederjackenträger einen Vierersitz weiter.

»Oder der«, ihr Zeigefinger weist auf einen jungen Mann mit fettigem Haar und Sporttasche.

So langsam wird die Situation etwas unangenehm.

»Komm, Tantchen, ist schon okay«, zupfe ich sie am Ärmel ihres Boleros. »Kann jedem passieren. Bei der nächsten Station steigen wir …«

»Mein Mann ist Arzt!«, wirft meine Tante argumentativ in die Waagschale.

»Aha«, entgegnet der Kontrolleur und verschränkt die Arme.

»Genau genommen Augenarzt«, verbessert meine Tante. »Mit eigener Praxis. Er praktiziert noch. Wenn Sie mal zu einer Untersuchung vorbeikommen möchten, natürlich kostenlos …«

»Soso«, sagt der Kontrolleur. »Das macht dann 1.500 Euro wegen versuchter Bestechung eines städtischen Mitarbeiters. Paragraf 334«, erklärt der Kontrolleur die veränderte Sachlage.

Meine Tante wird kreidebleich.

»Nur Spaß«, sagt der Kontrolleur. »Aber beim nächsten Halt steigen Sie mit aus. Personalien aufnehmen, 60 Euro Bußgeld, da kommen wir nicht drum herum.«

Meine Tante hockt da, inzwischen nicht mehr ganz so aufrecht, eher in sich zusammengesunken wie eine verletzte Amsel.

Doch dann, wie von einem Marionettenspieler an Schultern und Kopf hochgezogen, richtet sie sich wieder auf. Drückt den Rücken durch, reckt das gepuderte Kinn, fixiert ihren schnauzbärtigen Widerpart und erhebt sich von ihrem Sitz, während die U-Bahn bremst.

»Jetzt hören Sie mir einmal zu«, sagt meine Tante mit bebender Stimme. »Jetzt schauen Sie mich einmal an. Ich bin eine Frau. Ich bin über sechzig. Ich trage handgenähte Pumps. Ich bin das Gegenteil eines klassischen Schwarzfahrers. Ich bin Lehrerin. Pensionierte Gymnasiallehrerin, Deutsch und Latein. Ego in finem!«

Augenlider öffnen sich. Fahrgäste recken die Hälse. Zwei Dutzend Augenpaare sind mittlerweile auf meine Tante gerichtet, gespannt darauf, was kommen mag. Ich ducke mich aus dem Blickfeld und spiele unauffällig an meinem Rucksack.

Der glühende Blick meiner Tante schwenkt wie ein Bühnenscheinwerfer hin und her. Dann reckt sie beide Arme gen Himmel.

»Meine Damen und Herren, sehen Sie mich an, bevor Sie über mich urteilen, ehe ich verdammt werde wie Fräulein Julie, sozial geächtet wie Effi Briest. Ich kann den Erlkönig auswendig. Ich spiele Klarinette. Ich helfe kleinen Igeln über die Straße. Einst, es war letztes Frühjahr, da ging eine arglistige Frau auf mich zu und wollte mir ihre bereits benutzte U-Bahn-Tageskarte weiterverkaufen, aber ich sagte Nein. Ich sagte: Liebe Frau, das ist nicht rechtens, denken Sie an Paragraf …, wie heißt der noch mal?, und ich schritt entschlossen in die Gegenrichtung«, deklamiert meine Tante durchs Abteil und wedelt mit einer Hand durch die Luft, während sie mit der anderen versucht, dem Kontrolleur unauffällig einen Fünfzigeuroschein in die Hand zu schieben, doch vergebens.

»Ich bin eine ehrbare Frau«, ruft meine Tante. »Ich bin belesen, kultiviert, konfirmiert und komplett epiliert. Ich würde nie etwas Böses tun, außer im Bett mit meinem lieben Mann. – Ha, jetzt sind wir vorbeigefahren!«, ruft sie und zeigt auf die Tür, die sich in diesem Moment erneut schließt.

Dann wird ihr Blick wieder ernst.

»Und jetzt, so Gott will, halten Sie über mich Gericht. So sei es.«

Meine Tante gleitet zurück auf ihren Sitz, senkt das Haupt.

»Nu sag doch auch mal was«, knufft sie mir gegen die Schulter.

»Das mit den Igeln stimmt«, nicke ich in die Runde.

»Ich will nicht vorbestraft sein«, bäumt meine Tante sich ein letztes Mal auf. »Ich habe eine Zukunft. Ich brauche eine lupenreine Schufa-Auskunft. Ich brauche diese neue Ferienwohnung auf Föhr!«

Die letzten Worte flüstert sie fast: »Verliere ich jetzt meinen Beamtenstatus?«

»Und Ihre staatliche Beihilfe plus sämtliche überzogenen Pensionsansprüche«, knurrt der Kontrolleur, »wenn Sie Ihre dunkelrot bepinselte Schnute nicht endlich halten und aufhören, mich mit Ihrem Opernglas in den Bauch zu piksen!«

»Ach«, fährt meine Tante hoch, ihre Augen blitzen auf, jetzt ist sie wieder die Alte: »Woher weiß denn überhaupt ein kleiner städtischer Hilfsarbeiter wie Sie, was Beihilfe ist?«

»So viele Staatsdiener, wie hier schwarzfahren, da weiß man das irgendwann«, blafft der Kontrolleur zurück.

»Tantchen«, bemühe ich mich, mediativ einzugreifen, »Tantchen, Hakuna Matata«, versuche ich, die allgemeine Anspannung zu lösen.

»Ach was«, schnaubt sie. »Sein Hakuna Matata kann sich dieses fette Warzenschwein in seinen fellbekränzten Anus stecken!«

So langsam kommt meine Tante richtig in Fahrt. So langsam leuchten ihre Wangen frisch durchblutet.

»Non est bonum«, gellt meine Tante. »Nichts ist in Ordnung, das ist es, in Deutschland, und hier und jetzt! – Haha, schon wieder vorbeigefahren!«

»Ich scheiße auf Ihr Bildungsgeblubber«, verliert der Kontrolleur die Geduld. »Ich bräuchte Ihre Personalien!«

»Brauche, nicht bräuchte«, schrillt meine Tante. »Der fehlerhafte Konjunktiv bringt Ihnen hier gar nichts!«

»Scheiß die Wand an«, dröhnt der Kontrolleur durchs Abteil, dass sämtliche Haltegriffe ins Wanken geraten. »Jetzt schieben Sie gleich Ihren samtverpackten Hintern nach draußen, Sie zahlen und basta. Das hier ist ein Rechtsstaat!«

»Wie viel ein Rechtsstaat wert ist«, höhnt meine Tante, »wissen wir spätestens seit Hamlet. Den Sie vermutlich für ein Möbelstück von Ikea halten. Wissen Sie überhaupt, wer das ist? Wissen Sie, was Schwarzfahren auf Altgriechisch heißt, Sie outgesourcter ÖPNV-Knecht auf freier Mitarbeiterbasis?«, krakeelt meine Tante, wobei sich ihre Stimme dreimal überschlägt.

Wie es ausging, weiß ich nicht, ich bin beim nächsten Halt einfach ausgestiegen. Ich glaube, meine Tante hat es gar nicht bemerkt. Das Letzte, was ich sah, als ich mich auf dem Bahnsteig noch einmal umdrehte und durch die Fenster der wieder anrollenden U-Bahn sah, waren die Funken sprühenden Augen meiner Tante und der gewaltige, zornbebende Schnauzbart des Kontrolleurs.

Ich glaube, es ging noch länger.

Der Untergang des Abendkleides

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