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Dich hat der Esel im Galopp verloren

»Die Ellen kann den Spargel querfressen«, spotteten meine Mitschüler. Ich galt als Nachkomme von ­Dschin­gis Khan und wurde »Papp-Chines« gerufen. Ich hatte einen breiten Mund, Schlitzaugen und zwei Löcher im Gesicht statt einer Nase. Ich war hässlich. Zumindest empfand ich mich als hässlich, und je älter ich wurde, desto mehr belastete es mich. Manche Äußerungen anderer Menschen gehen einem so unter die Haut, dass man sie ein ganzes Leben lang mit sich herumträgt.

Einmal hörte ich, wie die Nachbarin zu meiner Mutter sagte: »Wir bewundern in der Nachbarschaft ja alle, wie nett sie zu der Ellen sind, wo sie doch gar nicht ihre Tochter ist.« Meine Mutter fiel aus allen Wolken. Da legte die Nachbarin nach: »Na ja, sie sieht weder Ihnen noch Ihrem Mann ähnlich.«

Gerade als junger Mensch ist man sein Äußeres betreffend oft unsicher und möchte den herrschenden Schönheitsidealen genügen. Man muss auch die damalige Zeit vor Augen haben. Ich bin im Dritten Reich aufgewachsen, da sollte man blond und blauäugig sein. Dieses Ideal hat noch lange nachgewirkt. Selbst im deutschen Nachkriegsfilm wurden meist nur die Blonden und Blauäugigen Stars.

Heute, da ich alt und grau bin, sagen die Leute zu mir: »Du warst ja so schön!« Damals sagte das niemand. Ich war nicht schön, ich galt höchstens als »apart«. Wenn man etwas Nettes über mich sagen wollte, formulierte man das so: »Ellen ist apart!« Ich konnte das Wort schon nicht mehr hören. Wie gern wäre ich blond und blauäugig gewesen!

Natürlich suchten meine Eltern eine plausible Erklärung für das asiatische Aussehen ihrer Tochter, und siehe da, es gab eine Geschichte: Einer meiner Ahnen väterlicherseits war Kapitän eines eigenen Gewürzseglers gewesen. Mit diesem Schiff unternahm er weite Fahrten, zum Beispiel nach Borneo und Java. Der Segler konnte nur bei Ebbe in See stechen, wenn das Wasser aus dem Hafen strömte und das Schiff quasi mit sich zog. Umkehren war da nicht mehr möglich, und so warf sich seine Geliebte auf Java bei Ebbe ins Meer und schwamm dem Schiff hinterher. Dem Kapitän blieb nichts anderes übrig, als sie aus dem Wasser zu fischen und mitzunehmen. Das Mädchen war schwanger. Auf der langen Heimreise nach Holland gebar sie einen Knaben. Im Logbuch wurde vermerkt, dass die Besatzung des Schiffes ohne Personenverluste den Heimathafen erreichte. Das war zu jener Zeit ungewöhnlich, weil der Skorbut immer Opfer forderte. Weil wegen der Schwangeren aber viele Häfen angesteuert wurden und dadurch immer frische Lebensmittel zur Verfügung standen, rettete das zu erwartende und bald auf dem Schiff geborene Baby sozusagen etlichen Männern das Leben. Nur die junge Mutter überstand die Reise nicht, sie starb vermutlich an einer Blinddarminfektion. Zu Hause angekommen, legte der Kapitän seiner Ehefrau das Baby in die Arme, und die schon ziemlich alte, kinderlose Frau akzeptierte das Mitbringsel ihres Mannes.

Vollends verunsichert wurde ich eines Tages durch den saloppen Ausspruch meiner Mutter: »Kind, dich habe ich nicht geboren, dich hat der Esel im Galopp verloren.«

So verfestigte sich in mir immer mehr der Gedanke, dass ich ein angenommenes Kind wäre und nicht die Tochter meiner Eltern. Ich erfand eine schöne blonde, blauäugige Zwillingsschwester, die aber in Amerika lebte. Diese Geschichte spielte ich auch bei meinen Spielkameraden aus: Ich sei nach Deutschland geschickt und hier von meinen Eltern adoptiert worden. Als »Beweis« zeigte ich ihnen den »Stempel« auf meinem Rücken, der tiefen Eindruck auf sie machte. Ich habe da nämlich eine viereckige, briefmarkengroße Narbe. Ich bin mit zwei erdbeergroßen Blutschwämmchen auf Kopf und Rücken geboren worden. Beide wurden mit Radium weggebrannt und hinterließen diese Narben.

Dass ich hässlich war, hatte ich irgendwann verinnerlicht und akzeptiert. Als es Mode wurde, sich die langen Haare abzuschneiden, habe ich als Einzige in der Klasse meine Zöpfe nicht drangegeben, weil ich wusste, dass ich dadurch nicht schöner werden würde.

Aus Sparsamkeit musste ich zudem die Kleidung meiner Vettern auftragen und meine Füße in Jungenschuhe stecken. Das war mir zwar peinlich, aber ich durfte mich nicht beschweren, wollte ich meine Eltern nicht in Ver­legenheit bringen. So habe ich meine Lektion früh gelernt.

Meine Komplexe habe ich mit Leistung und Fleiß kompensiert, denn nur so konnte ich beweisen, dass ich trotz meines Äußeren zu etwas nütze war. Ich bin sehr gerne zur Schule gegangen, habe gerne gelernt und war eine gute Schülerin. Daher bekam ich auch ein Stipendium und konnte aufs Gymnasium gehen. Meine Eltern hätten sich das Schulgeld nicht leisten können. Über das Stipendium hinaus bekam ich sogar noch über neunzig Mark Beihilfe für Bücher und Lehrmittel und konnte so schon als Neunjährige zum Familieneinkommen beitragen.

Ein einziges Mal habe ich mein Stipendium ernsthaft gefährdet. Das Haus, in dem meine Freundin Isabel wohnte, lag direkt auf meinem Schulweg, und ich holte sie jeden Tag ab. Eines Morgens kam sie mit einem Rosenstrauß im originalen Einschlagpapier die Treppe herunter. Ihre Mutter, eine Pianistin, hatte die Rosen am Abend zuvor auf einem Konzert überreicht bekommen. Ich staunte. Doch Isabel ließ mich einen Blick in die Verpackung werfen. Die Rosen waren kaputt, die Stängel unterhalb der Knospen geknickt. Genau diese Rosen wollte Isabel malen. Ich aber hatte eine ganz andere, infame Idee für ihre Verwendung.

Fräulein Schmitz, unsere Zeichenlehrerin, war eine mittelalterliche Jungfer, ein Blaustrumpf, und nicht sehr beliebt. Zwar konnte ich mir einen Streich aufgrund meines Stipendiums gar nicht leisten, doch immerhin einen inszenieren. Isabel sollte sich kurz vor der Pause melden und sagen, dass sie dringend aufs Klo müsse. Dort hatten wir den Strauß in seiner Originalverpackung – hellgrünes Seidenpapier mit imposantem Aufdruck – deponiert. Nach angemessener Zeit sollte sie mit dem Strauß zurück ins Klassenzimmer kommen und behaupten, ein Herr habe diesen gerade für Fräulein Schmitz abgegeben. Gesagt, getan.

Fräulein Schmitz war aber leider hartnäckig und wollte wissen, wie der Herr denn geheißen und wie er ausgesehen hätte. Nun war Isabels Phantasie gefragt. Sie schilderte etwas allgemein einen Herrn mit grauem Hut und dunkelblauem Mantel. Fräulein Schmitz wurde knallrot. Glücklicherweise klingelte es zur Pause. So schnell hatte sich die Klasse noch nie geleert. Durch den Türspalt schauten wir zu, wie Fräulein Schmitz die Blumen auspackte. Als sie jedoch sah, was mit den traurig verwelkten Rosen los war, klappte sie ihr Pult auf und schmiss den Strauß mit einem bitteren Schrei hinein.

Die Pause war zu Ende. Fräulein Schmitz saß immer noch am Pult, den Kopf in die Hände gestützt. Die ganze Klasse kam jetzt singend in den Klassenraum: »Schenkt man sich Rosen in Tirol.« Daraufhin ergriff Fräulein Schmitz laut aufschluchzend die Flucht.

Als unsere Direktorin wenig später wissen wollte, wer hinter der Geschichte steckte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu melden. Man hatte mich sowieso schon im Visier. Es war nicht das erste Mal, das ich etwas Ähnliches inszeniert hatte. Mir wurde daraufhin die Beihilfe für die Bücher gestrichen. Das war bitter.

Weil wir so oft umzogen und ich x-Mal die Schule wechseln musste, hatte ich unversehens eine Klasse übersprungen und kam bereits mit neun Jahren aufs Gymnasium. So war ich die Jüngste in der Klasse. Das hatte wiederum zur Folge, dass ich bereits mit dreizehn Jahren zum BDM, dem Bund Deutscher Mädel, kam, und weil ich Gymnasiastin war, wurde ich dort automatisch Führerin. Die Mädchen meiner Gruppe waren alle drei bis vier Jahre älter als ich und dachten nicht daran, sich von mir »führen« zu lassen. »Ellen Schwiers, Scharführerin, sechzehn Mädchen in der Gruppe – angetreten keine«, musste ich beim ersten Apell, schlotternd vor Angst, der Gauführerin melden.

Die Gauführerin war die Tochter einer Nachbarin und bestellte mich am nächsten Morgen in ihr Büro. Ich hatte die ganze Nacht nicht schlafen können und stand mit blassem Gesicht vor ihr. Doch Mali, so hieß sie, erlöste mich: »Du hast keinerlei Führungsqualität, ich gebe dir deshalb die Spielschar. Da sind lauter Freiwillige, mit denen kannst du Theater spielen und basteln. Und ich will deinen Ariernachweis sehen«, forderte sie mich großspurig auf. Dieser Nachweis machte mir fürchterliche Angst. Dass ich alles andere als arisch aussah, wusste ich ja. Wahrscheinlich würde nun die Wahrheit ans Licht kommen, nämlich dass ich tatsächlich ein angenommenes Kind war, ein »Papp-Chines«.

Meine Eltern hatten wegen des Ariernachweises den größten Krach ihres Lebens. Die Unterlagen zusammenzusuchen war mühsam und schikanös. In der Linie meiner Mutter tauchte eine Franziska Neuschild, eine Berliner Jüdin auf, und bei meinem Vater stellte sich heraus, dass einer seiner Ur-Ur-Großväter ein sogenannter ›hochherrschaftlicher Pferdeknecht‹ gewesen war. Wann immer meine Eltern sich zukünftig stritten, hieß es nun bei meiner Mutter als äußerste Demütigung: »Das ist wohl der ›hochherrschaftliche Pferdeknecht‹, der aus dir spricht.«

Seit 1933 war unzensiertes, engagiertes Theater nicht mehr möglich. Nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 erließen die Nationalsozialisten die »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat«, ein Ausnahmezustand, der die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft setzte und bis 1945 nicht mehr aufgehoben werden sollte. So konnte die Regierung ihre Ideologie nun in juristisch abgesicherter Form durchsetzen, durch Gleichschaltung, Propaganda, Terror und straffe Organisation. Jeder Staatsbürger sollte organisatorisch registriert sein, alle Kulturschaffenden wurden einheitlich in der Reichskulturkammer erfasst, die dem Reichs­propagand­ministerium untergeordnet war. So war es für die Schauspieler Pflicht, Mitglied in der Reichskulturkammer zu sein, sonst wurde ein Berufsverbot gegen sie verhängt.

Die Intendanten einiger kleiner Stadttheater wie Gera oder Halberstadt, an denen mein Vater engagiert war, entwickelten zudem den Ehrgeiz, der Reichskulturkammer in Berlin melden zu können, dass die Mitglieder des Theaters geschlossen in die NSDAP eingetreten waren. Das war auch ausdrücklich von der Partei gewünscht, denn so konnten die Theater kontrolliert und gleichgeschaltet werden und die Intendanten mussten nicht nur der Stadtverwaltung, sondern auch dem jeweiligen Gauleiter berichten.

Meine Eltern hielten nichts von der NSDAP, sie fühlten sich denen nicht zugehörig, es war für sie die Partei der kleinen Leute. Sie selber sahen sich als Intellektuelle. Mein Vater haderte mit der Partei vor allem aus ideellen Gründen, denn sein Vater war Vorsitzender der Freimaurerloge in Stettin gewesen, die verboten worden war. Er selber wiederum gehörte der Münchner Burschenschaft Rhenania an, die ebenfalls unter die verbotenen Organisationen fiel. Die Rhenania bekannte sich gemäß ihrem Wahlspruch zu Demokratie und Freiheitsrechten und lehnte extremistische Positionen ab. Mein Vater weigerte sich also, in die Partei einzutreten, und verlor ein Engagement nach dem anderen. Bei uns zu Hause breitete sich bittere Armut aus.

Schließlich wurde mein Vater in Kolberg für das Sommertheater engagiert. Unter der Bedingung, dass er in die Partei eintrat, bot man ihm zusätzlich sogar noch die Winterspielzeit an. Erneut weigerte er sich. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der daraufhin vehement auf ihn einredete und ihm die SA oder SS mit den Worten schmackhaft zu machen versuchte, dass er dann eben nicht in der Partei wäre, was er ja ablehne, sondern in einem der Verbände, und das würde doch sicher in Ordnung gehen. Er stellte meinem Vater in Aussicht, in diesem Fall nur hin und wieder sonntagmorgens Dienst machen zu müssen, in Form von Lesungen, dem Vortrag einiger Gedichte oder eben mal einen Monolog vorzuspielen, zum Beispiel »Faust«. Schließlich war der Widerstand meines Vaters ermattet, und er trat in die SA ein. Der Grund war ein rein pragmatischer: Er besaß braune Stiefel und keine schwarzen. Nicht auszudenken, wenn er schwarze gehabt hätte und deswegen zur SS gegangen wäre!

Eines Sonntags kam er triumphierend nach Hause. Er hatte Gedichte von Tucholsky und Heine vorgelesen, und niemand hatte es bemerkt.

Nach dem Röhm-Putsch 1934 verlor die SA politisch an Bedeutung, und mein Vater stand wieder unter dem Druck der Theaterleitung, in die Partei einzutreten. Es gab kein Entkommen. Um seinen Protest gegen den erzwungenen Eintritt zum Ausdruck zu bringen, bezahlte er nie die Parteibeiträge.

Nachdem er 1941 eingezogen worden war, tauchte bei uns nun ständig ein Blockwart auf, um die ausstehenden Parteibeiträge einzutreiben. »Wir sind nicht in der Partei.« Mit dieser Bemerkung schlug meine Mutter ihm jedes Mal die Tür vor der Nase zu. Doch eines Tages stellte er seinen Fuß dazwischen und drang in die Wohnung ein. Meine Mutter schrie: »Hausfriedensbruch!«, konnte aber nichts gegen ihn ausrichten. Der Blockwart, der uns sowieso schon auf dem Kieker hatte, schaute sich genüsslich bei uns um und vermisste im Wohnzimmer das Hitlerbild. Meine Mutter redete sich um Kopf und Kragen: »Sehen Sie, da hängt mein Bruder, er ist als Oberleutnant und Kompanieführer in der Ukraine gefallen. Wenn Ihr Herr Hitler tot ist, bin ich bereit, ihn ebenfalls aufzuhängen. Aber lebende Personen kommen bei mir nicht an die Wand. Wieso sind Sie eigentlich nicht Soldat? Mein Mann ist im Krieg, und Sie? Wieso sind Sie hier?« Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken und hatte furchtbare Angst, dass der Blockwart nun böse Rache an uns nehmen würde. Doch er drohte uns nur damit, dass er bei seinem nächsten Besuch ein Hitlerbild an der Wand sehen wollte.

Meine Mutter rannte daraufhin mit vor Aufregung roten Flecken am Hals zu unserer Nachbarin im Parterre. Frau Kleber war die Witwe eines SS-Offiziers, der in Frankreich von der Résistance getötet worden war. Sie hatte nicht nur ein Hitlerbild, sondern auch ein großes koloriertes Foto von Heinrich Himmler über ihrem Sofa hängen. Immer wenn meine Mutter Frau Kleber besuchte, fiel ihrerseits die Bemerkung: »Wie können Sie diesen grässlichen Kerl bloß ertragen?« Und jedes Mal antwortete Frau Kleber: »Wenn ich auf dem Sofa sitze, sehe ich ihn ja nicht.« Frau Kleber holte aus einer Schublade gleich mehrere Hitlerbilder. Mutters Wahl fiel auf ein Bild, das Hitler bis zur Hüfte in Parteiuniform zeigte, eine Hand wie Napoleon vor der Brust, auf dem Kopf eine Mütze. Es war das kleinste Bild.

Wohin damit? Im Wohnzimmer, in einer Ecke, stand ein Kohleofen, der die ganze Wohnung beheizte. Links davon gab es eine Tür und rechts ebenfalls. Wenn beide Türen offenstanden, damit alle Räume Wärme bekamen, verschwand der Ofen hinter ihnen und mit ihm das Hitlerbild, das meine Mutter direkt neben dem Ofen platziert hatte.

Dich hat der Esel im Galopp verloren

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