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Meine Eltern

Die große Leidenschaft meines Vaters von früher Jugend an galt dem Theater. Er studierte offiziell in München Volkswirtschaft und Jura, während er gleichzeitig heimlich Schauspielunterricht nahm. Nachdem er zu seiner zweiten Prüfung zum Assessor nicht angetreten war, musste er es seinen Eltern beichten. Sein Vater war wütend und enttäuscht, hatte sein Sohn doch eigentlich die Papierfabrik übernehmen sollen. Dennoch versprach er ihm, die Schauspielschule zu bezahlen, wenn er denn unbedingt Schauspieler werden wolle. Bedingung war allerdings, dass es die beste Schule Deutschlands sein müsse. Und dass er, wenn er sie beendet hätte, keinerlei Unterstützung mehr von zu Hause zu erwarten habe, sondern ab dann ganz alleine »schwimmen« müsse. Und genauso kam es auch.

Mein Vater sprach am Max-Reinhardt-Institut in Berlin vor. Obwohl er eigentlich schon zu alt war, wurde er dort angenommen. Damit war die Sache klar. Mein Großvater hielt Wort, zahlte die Schauspielausbildung, und nach Beendigung der Schauspielschule erhielt mein Vater keinen Pfennig mehr von ihm. Auch die junge Ehe wurde nicht unterstützt.

Ich kam ungeplant auf die Welt. Durch diese Verantwortung und weil meine Eltern nie Geld hatten, denn von einem regelmäßigen Einkommen konnte keine Rede sein, war die Ehe von Anfang an belastet. Sicherlich hat diese Situation auch die berufliche und künstlerische Entwicklung meines Vaters stark beeinflusst.

Als junger Schauspieler musste er ständig an verschiedenen Theatern in der Provinz spielen, in Halberstadt, Gera und anderen Orten mehr, immer in der Hoffnung, irgendwann an ein größeres Theater zu kommen, nach Berlin, Hamburg oder München. Dies waren ganzjährige Theater, während die kleineren über die Sommermonate hinweg schlossen und die Schauspieler in dieser Zeit drei bis vier Monate arbeitslos ­waren.

In der spielfreien Zeit versuchte mein Vater auf andere Art, den notwendigen Unterhalt für die Familie zu verdienen. Zum Beispiel kalkte er auf Bauernhöfen die Ställe, eine jammervolle Arbeit, die meine Mutter wenig würdigte. Sie hatte sich damals bei den Aufführungen der Schauspielschule in Berlin in den Prinzen von Homburg, in den Don Carlos und den Ferdinand aus »Kabale und Liebe« verliebt, zumal mein Vater ein sehr schöner Mann mit einer eindrucksvollen Stimme war. Doch die harte, entbehrungsreiche Alltagsrealität mit Lutz Schwiers war für meine Mutter nur schwer zu ertragen und verlangte ihr viel an Einschränkung, Improvisation und Flexi­bilität ab.

Wir sind unzählige Male umgezogen, von Engagement zu Engagement, von Stadt zu Stadt. Ich habe fünfzehn Mal die Schule gewechselt. Wir wohnten in dieser Zeit zwangsläufig nur möbliert. Als wir in Koblenz die erste richtige Wohnung bezogen, war ich zehn Jahre alt. Endlich konnte meine Mutter ihre geerbten Möbel bringen lassen, darunter eine wertvolle Rokoko-Kommode aus der Werkstatt Abraham Roentgens von 1755, auf die sie sehr stolz war. Meine Mutter legte viel Wert auf Stil und hatte einen ausgezeichneten Geschmack. Sie war eine elegante, sensible Frau, die es schaffte, in unserem ärmlichen Haushalt ein gewisses großbürgerliches Niveau zu halten. Ihre Kindheit und Jugend auf dem Rittergut in Zietlow, die ländliche adlige Lebensart, hatten sie geprägt. In gewisser Weise ist sie auch immer das naive Kind vom Lande geblieben. Die verlorene Heimat war und blieb der Fixpunkt ihres Lebens, und die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend waren ihr ganzes Leben lang sehr präsent. Sie lebte gewissermaßen in der Vergangenheit, von der sie viel erzählte. Mit fünfundachtzig Jahren schrieb sie ihre Kindheitserinnerungen auf. »Das Paradies liegt in Pommern« wurde verlegt und ein Erfolg, und zum ersten Mal in ihrem Leben verdiente sie eigenes Geld.

Meine Mutter konnte gut Leute unterhalten und stand gerne im Mittelpunkt. Außerdem war sie eine hervorragende Gastgeberin. Trotz der geringen Mittel, über die wir verfügten, führten meine Eltern ein offenes Haus und hatten häufig Besuch. Auch die Theater­leute kamen oft nach den Proben zu uns, dann wurde viel über das Theater und die Inszenierungen diskutiert. Meine Mutter goss »Wasser zur Suppe«, und jeder war willkommen. Es war immer Leben im Haus, und auch wir Kinder genossen dadurch eine gewisse Freiheit, denn wir waren Teil dieses unkonventionellen Lebens und dieser Lebendigkeit.

Mein Bruder Gösta wurde fünf Jahre nach mir geboren. Ich hatte allerdings von der Schwangerschaft meiner Mutter nichts mitbekommen und bin auch in keiner Weise auf die Ankunft eines Geschwisterchens vorbereitet worden. Als meine Eltern zur Entbindung losfuhren, ließen sie mich ohne Erklärung bei den Nachbarn zurück. Ich fühlte mich allein und verlassen. Als ich ein paar Tage später in ein Kloster mitgenommen wurde, lag da meine Mutter in einem riesigen Zimmer, mit meinem Bruder, der meiner Meinung nach viel zu viel Aufmerksamkeit bekam, so dass ich eifersüchtig auf ihn war.

Die Erziehung von uns Kindern oblag meiner Mutter, die Wert auf eine humanistische Bildung legte, wie sie es von zu Hause her kannte. Sie war im Grunde allein­erziehend, denn mein Vater war zu sehr mit sich und dem Theater beschäftigt. Später, als wir älter waren, musste er dann in den Krieg.

Mein Vater war ein feinsinniger, philosophischer, nachdenklicher Mensch, der mit den alltäglichen Anforderungen des Lebens nicht zurechtkam. Die Familie mit zuletzt drei Kindern, der Beruf, all das überforderte ihn. Er konnte das Leben nicht meistern. Er konnte auch nicht kämpfen, nicht für sich selber einstehen oder seine Gage angemessen verhandeln. Mit seiner Karriere ging es aus verschiedenen Gründen nicht voran. Hätte er eine gemacht, hätte ihn meine Mutter gewiss respektiert. So aber war sie eine enttäuschte und frustrierte Frau, die das Leben nicht führen konnte, das sie sich wünschte. Sie versuchte ständig, meinen Vater voranzutreiben, aber er verweigerte sich und zog sich immer mehr in sich selbst zurück.

Er wurde auch regelmäßig vor jeder Premiere krank vor Lampenfieber. Es war tragisch. Dabei hatte er als Schauspieler durchaus Erfolg und war beliebt, nicht nur beim Publikum. Auch das Feuilleton der Tageszeitungen wusste seine schauspielerische Leistung zu schätzen. Doch ihm fehlte das für diesen Beruf nötige Selbstwertgefühl, die Souveränität und das entsprechende Auftreten. So ist mein Vater weit hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben. Seine Zurückhaltung und Bescheidenheit machten ihn andererseits aber auch sympathisch und liebenswert.

Meine Eltern lebten im Grunde beide in ihrer eigenen Welt und waren, jeder auf seine Art, lebensfremd. Sie standen den Anforderungen, die das Leben mit sich brachte, oft hilflos gegenüber. Sie waren nicht gewieft oder gar gerissen, konnten sich keine Vorteile sichern und auch keine Wege finden, sich das Leben einfacher zu machen.

Dass ich lebensuntüchtige Eltern hatte, wurde mir schon recht früh klar. Auf der anderen Seite hatte das auch Vorteile für mich, denn sie waren dankbar und fanden es toll, wenn ich die Initiative ergriff und Verantwortung übernahm. Das haben sie mich auch spüren lassen und mich in meinem Drang, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, nicht gehemmt, sondern unterstützt und sich nicht eingemischt, so dass ich mich frei entwickeln konnte.

Wegen der andauernden Geldsorgen haben sich meine Eltern oft furchtbar gestritten. Meine Mutter war dann sehr ungerecht zu meinem Vater und stellte ihn als Versager hin, ließ ihn seine Unsicherheit, seine mangelnde berufliche Souveränität spüren. Es ist schlimm, wenn in einer Ehe die gegenseitige Achtung fehlt. Bei meiner Mutter waren Achtung und Liebe offensichtlich verloren gegangen. Mich als Kind brachte das in eine schreckliche Situation, denn so verlor auch ich zwangsläufig den Respekt vor meinem Vater.

Später, als ich heranwuchs und mir eine eigene Meinung bilden konnte, habe ich den Wert meines Vaters erkannt und gemerkt, was für ein interessanter, geistvoller und gütiger Mensch er war, der die Anerkennung seiner Ehefrau sehr wohl verdient hätte. Als ich dann ebenfalls am Theater war, hatten wir viel miteinander zu tun. Wir befanden uns auf Augenhöhe und konnten gut zusammenarbeiten. Es war selbstverständlich, dass ich seine Rollen mit ihm erarbeitete. Dabei war es unerheblich, dass ich Anfängerin war. Er hat meine Unterstützung dankbar angenommen.

Weil sie kein Geld hatten, konnten meine Eltern sich auch nicht scheiden lassen. Erst im Alter, nachdem alle Kinder aus dem Haus waren, gelang es ihnen, eine friedliche Altersbeziehung zu führen. Sie haben sogar noch im Kreise der Familie ihre Goldene Hochzeit gefeiert.

Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens war mein Vater unter der Intendanz von Hans Fitze am Altonaer Theater in Hamburg engagiert. Er hat bis zum Schluss auf der Bühne gestanden.

Ich habe immer versucht, meine Eltern an meinem Leben teilhaben zu lassen, sie zu unterstützen, wo es ging, auch finanziell. Ich wollte einen Ausgleich für all die Entbehrungen schaffen, die sie in ihrem Leben auf sich nehmen mussten. Ich wollte, dass sie sich wertgeschätzt fühlten.

Als ich meiner Mutter viele Jahre später einen edlen Mantel mit einem Nerzkragen zu Weihnachten schickte, hörte ich nach den Feiertagen und auch in den Tagen danach nichts von ihr, was ungewöhnlich war. Schließlich rief ich sie an und fragte, ob mein Weihnachtspaket nicht angekommen sei. Meine Mutter antwortete entrüstet: »Was hast du dir nur dabei gedacht? Bei welcher Gelegenheit soll ich diesen Mantel denn anziehen? Und was dazu? Ich habe doch keine passenden Handschuhe, keine Handtasche, keinen Hut, keine Schuhe, kein Winterkleid.«

Ich war gekränkt und verletzt und heulte mir die Augen aus dem Kopf. Dann kratzte ich Geld zusammen, kaufte für sie die nicht vorhandenen Dinge und schickte ein weiteres Paket, ich wollte, dass sie glücklich war. Ich hörte nichts von ihr, und wir haben auch nie mehr darüber gesprochen. Statt ihr eine Freude zu bereiten, hatte ich ihr mit meinen Geschenken offenbar ihre eingeschränkte Lebenssituation noch einmal deutlich vor Augen geführt, wenn auch unabsichtlich.

Dich hat der Esel im Galopp verloren

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