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Kindheit

Ich sehe mich auf einer Blumenwiese sitzen. Ich bin vier Jahre alt. Um mich herum sind unzählige Schmetterlinge, Grashüpfer und Grillen, die es in Hülle und Fülle gab. Ich höre ihr Zirpen, spüre die Weite der Wiese, die Weite des Himmels. Es war eine wunderschöne Welt, eine reiche Natur, die ich liebte und in der ich mich geborgen fühlte, glücklich, frei und unbeschwert. Für mich war die Welt in Ordnung. Ich habe sehr gerne gelebt und in mir war ein Gefühl von großer Dankbarkeit und Glück. Dieses Gefühl von Dankbarkeit hat sich bis heute erhalten. Ich habe mein Leben lang nie daran gezweifelt, dass es aufregend schön und ein großes Geschenk ist, auf der Welt zu sein, trotz des Schmerzes und Elends, die ich auch erlebt habe.

Schon als Kind war das Leben ein großes Abenteuer für mich. So habe ich mein Dasein empfunden: als großes Abenteuer. Dieses Abenteuer galt es zu bestehen. Das ist die Aufgabe – das Leben ist eine Aufgabe.

Lange wollte ich Naturforscherin oder Archäologin werden, denn in meiner Kindheit gab es noch weiße Flecken auf der Welt. Das hat mich fasziniert und meine Phantasie beflügelt. Natur und Tiere haben mich be­­geistert.

Ich habe mir so sehr einen Hund gewünscht, doch das war mit unserem unsteten Leben und den beengten Verhältnissen nicht vereinbar. Also habe ich mir ersatzweise Mäuse und Hamster auf dem Feld gefangen, und mein Vater baute aus Zigarrenschachteln ein Gehege für sie. Die Schachteln wurden so miteinander verbunden, dass für die Tiere Gänge entstanden. Obendrauf legte mein Vater eine Glasplatte, damit ich die Tiere beobachten konnte. Doch am nächsten Morgen hatten sie sich durch die Holzschachteln genagt. Meine Mutter bekam einen Anfall. Denn es war klar, dass die Viecher nun irgendwo in unserer Wohnung herumspazierten. Auf allen vieren krochen wir durch die Wohnung, um jeden Spalt und jede Ritze zu untersuchen. Schließlich konnten wir sie einfangen, und mein Vater schlug die Holzschachteln in einem zweiten Versuch nun mit Blech aus.

Ich hatte immer irgendwelche Tiere. Auch eine Kröte hatte ich als Haustier. Hänschen, so nannte ich sie, lebte im Keller. Und wenn ich sie rief, kam sie angesprungen. Hänschen war einen Sommer lang mein ganzes Glück, bis böse Buben kamen und Hänschen in die Lahn schmissen. Ich war untröstlich.

Tiere sind bis heute ein Konstante meines Lebens. Sie bedeuten mir viel und sind wichtige Partner meines Daseins.

Mein Großvater mütterlicherseits war Landwirt und hatte eine große Liebe zur Natur, die ich mit ihm teilte. Er liebte alles, was wuchs und gedieh, und ich liebte diesen Großvater. Oft nahm er mich mit auf seine langen Spaziergänge durch den nahe gelegenen Stettiner Wald. Jede Frucht, jeden Baum, jede Pflanze erklärte er mir und erzählte dabei wunderbare Geschichten. Er brachte mir bei, die Wetterseite der Bäume zu erkennen und spielte mit mir »Bäume erraten«, wobei ich die Bäume nicht an ihren Blättern oder der Borke erkennen, sondern allein von der Krone her benennen sollte.

Ich habe auch leidenschaftlich gerne Blumensträuße gepflückt. Die Wiesen waren damals noch voller Blumen, Blüten und Insekten. Die große Artenvielfalt meiner Kindertage gibt es nicht mehr. Es macht mich wehmütig, dass ein Drittel der heimischen Tier- und Pflanzenarten inzwischen vom Aussterben bedroht ist. Ein bedrückender Zustand, denn wir sind es, die Menschen, die die Lebensräume zerstören, die Umwelt verschmutzen, die Monokulturen anbauen, die Pestizide einsetzen. Diese Liste ließe sich endlos weiterführen. Heutzutage würde ich keinen Strauß mehr pflücken wollen. Mir tun die paar armseligen Blumen, die noch auf den Wiesen ­stehen, leid.

Mein Großvater war ein feinfühliger, taktvoller und sensibler Mann, ein echter Herr und eine imposante Erscheinung. Groß und stattlich, ein schöner Kopf mit riesigen Augen und einem Schnurrbart wie Kaiser Wilhelm.

Meine Großmutter wiederum war von enormer Durchsetzungsfähigkeit, eine tüchtige, energische Frau, vor der ich gewaltigen Respekt hatte. Sie hat mir oft Märchen vorgelesen, und ihr verdanke ich auch ein großes Repertoire an Liedern.

Großmutter war eine »Hatscherte«. Das heißt, sie hatte einen Buckel. Sie war mit einer Hüftdeformation auf die Welt gekommen. Laut Volksmund brachte das Anfassen eines Buckels Glück. Heute sieht man kaum noch bucklige Leute, weil die betroffenen Babys bereits früh versorgt werden. Doch meiner Großmutter ist ihr Buckel »vergoldet« worden. Sie brachte hunderttausend Goldmark als Mitgift mit in die Ehe, als sie ihren Cousin zweiten Grades heiratete.

Mein Großvater ist über Umwege Landwirt geworden. Obwohl er für diesen Beruf wie geschaffen war, musste er als der zweitgeborene Sohn zunächst Soldat werden. Landwirt zu werden war allein dem Erstgeborenen vorbehalten. So wollte es die Tradition. Sofern es einen dritten Sohn gab, konnte der nur noch Pfarrer werden.

Großvater besuchte die Kadettenschule zeitgleich mit einem entfernten Verwandten, dem Freiherrn Rüdiger von der Goltz. Eine glückliche Fügung, wie sich herausstellte, da es zwischen den beiden zu einer Vereinbarung kam. Von der Goltz bat meinen Großvater, seine drei Rittergüter in Hinterpommern als Güterdirektor zu verwalten. Dafür wollte er ihm ein Studium auf der Landwirtschaftlichen Hochschule in Halle an der Saale finanzieren, und mein Großvater konnte schließlich doch noch seiner Berufung nachgehen. Das Ganze war ein geheimnisvoller Deal, und niemand aus der Familie ist je dahintergekommen, was der eigentliche Grund für diese Abmachung war. Es kursierte das Gerücht, dass Vetter von der Goltz ein Mädchen schwängerte und mein Großvater ihm geholfen habe, dies zu vertuschen.

So wurde mein Großvater Gutsdirektor, und meine Großeltern zogen auf das hinterpommersche Rittergut Zietlow. Im Ersten Weltkrieg musste mein Großvater dann die Verantwortung für insgesamt fünf Güter übernehmen.

Vier Kinder gebar meine Großmutter: Zwei Töchter, meine Mutter Liselotte und meine Tante Jutta, genannt Jette, und zwei Söhne. Der ältere, Kurt, wurde der Tradition folgend Landwirt und der zweite, Harry, Offizier.

Meinen Onkel Kurt habe ich nie kennengelernt. Er hatte als Praktikant auf einem Gut in Schlesien die Tochter des Gutsbesitzers kennen und lieben gelernt. Die beiden wollten heiraten, doch als es so weit war und die Familie sich zur Hochzeit aufmachte, traf sie zu seiner Beerdigung ein. Kurt war ein paar Tage zuvor von einem Stier auf die Hörner genommen worden. Weil er die Hochzeit nicht gefährden wollte, hatte er niemandem etwas davon gesagt und war innerlich verblutet.

Mein Onkel Harry wurde gleich am Anfang des Zweiten Weltkrieges in einem Sonnenblumenfeld in der Ukraine erschossen. Noch immer habe ich den Schrei meiner Großmutter im Ohr, als sie das Telegramm mit der Todesnachricht erhielt. Noch heute denke ich oft an sie und frage mich angesichts meines eigenen Schicksals, ob sie den Tod ihrer beiden Söhne jemals verkraftete.

Nach Ende des 1. Weltkrieges beschloss von der Goltz, alle seine Güter selbst verwalten. Mein Großvater musste von heute auf morgen seine Tätigkeit beenden und mit seiner Familie aus Zietlow fortziehen. Sie gingen nach Stettin. Durch die Hyperinflation von 1923, einer Spätfolge der enormen Kapitalvernichtung des Ersten Weltkrieges, wurde auch noch ihr ganzes Geld, das sie für den Kauf eines eigenen Gutsbetriebes angespart hatten, von heute auf morgen wertlos. Weil mein Großvater nun auch nicht mehr in Lohn und Brot stand, waren sie plötzlich bettelarm. Um zu überleben, mussten sie nach und nach ihre Antiquitäten verkaufen. Meine Mutter und ihre Schwester Jette hatten in dieser Situation natürlich keine Aussichten mehr auf eine »gute Partie« und mussten einen Beruf ergreifen. Tante Jette wurde Krankenschwester, meine Mutter ging als Gouvernante nach Berlin.

Die unternehmungslustige Jette nahm meine Mutter eines Tages mit zu den Abschlussaufführungen der Schauspielschule, ein Vergnügen, das sie sich leisten konnten, denn sie hatte herausgefunden, dass es keinen Eintritt kostete. Dort lernte meine Mutter einen jungen Schauspieler namens Ludwig Schwiers, meinen Vater, kennen.

Jette, die die Durchsetzungskraft und Zähigkeit meiner Großmutter geerbt hatte, wollte die Situation ihrer Eltern nicht länger hinnehmen und schrieb Reichspräsident Hindenburg einen Brief, in dem sie ihm die Lage meiner Großeltern schilderte. Und sie hatte Erfolg. Ihr Schreiben bewirkte immerhin, dass die Familie von der Goltz meinem Großvater von da an eine Rente zahlen musste.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs sind meine Großeltern von Stettin nach Greifswald geflohen. Dort ist mein Großvater, der inzwischen dement war, verhungert. Meine Großmutter ging nach seinem Tod in ein Altenheim und starb bald darauf.

Das Verhältnis zu meinen Großeltern väterlicherseits war nie sehr eng, und wir besuchten sie nur selten. Es gab kaum Kontakt, obwohl sie, wie die Eltern meiner Mutter, ebenfalls in Stettin wohnten. Das lag vor allem an meiner Mutter, der die Familie meines Vaters nicht lag, weil sie in ihren Augen »neureich« war.

Mein Urgroßvater besaß zwei Maschinenfabriken in Bremen, und besagter Großvater, der zum Ingenieur ausgebildet worden war, übernahm sie gemeinsam mit seinem Bruder. Die Einführung der Goldwährung nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und das schnelle europäische Wirtschaftswachstum samt Fortschritts­euphorie hatten eine lang anhaltende Deflation zur Folge. Die Banken kündigten Kredite, und durch die eintretende Wirtschaftskrise verlor die Familie die Fabriken. Mein Großvater ließ sich als Ingenieur anstellen und wurde schließlich Prokurist und Leiter der technischen Abteilung der »Feldmühle«, einer großen Papierfabrik. Später gründete er in Stettin eine eigene Papierfabrik.

Mein Großvater galt als Eigenbrötler, und er war, was man einen »Spökenkieker« nennt. Die Gabe des Hell­sehens erbte er wohl von seinen Vorfahren. 1717 hatte eine Gesine Schwiers in Bremen die große Sturmflut vorausgesagt und dadurch vielen Menschen das Leben gerettet. Mein Großvater konnte eintretende Todesfälle vorhersehen. Einige Tage zuvor überfiel ihn dann stets ein starkes Grausen, ihm war, als sträubten sich ihm die Haare, und er hätte am liebsten losgeschrien. Zum Glück konnte er nicht prophezeien, wen das Todeslos traf, zumindest sprach er nie darüber. Aber es war immer ein Freund oder naher Verwandter, und es belastete ihn sehr. Weil er fürchtete, das »zweite Gesicht« könne ihn jederzeit überfallen, fuhr er nie selber Auto. Lieber nahm er den Güterzug zur Fabrik, der dort Material anlieferte und abholte. Dieser Zug hielt an einer breiten Schneise, an deren Ende die Fabrik lag. Eines Tages kam ihm sein Prokurist ent­gegen, als mein Großvater schrie: »Die Fa­brik brennt, seh’n Sie das nicht!« Die Fabrik brannte nicht, aber der Prokurist beschwor ihn daraufhin, die Versicherungssumme zu erhöhen. Schließlich war die Gabe meines Großvaters bekannt. Wie immer versuchte er auch dieses Mal strikt, sein »zweites Gesicht« zu ignorieren und weigerte sich, dem Drängen des Mitarbeiters nachzu­geben. Kurz darauf brannte die Fabrik tatsächlich ab, es blieben nur einige riesige Papierballen übrig. Mit diesem nicht verkohlten Rest gründete mein Großvater kurzerhand seine eigene Firma, die NORPA, die Norddeutsche Papiergroßhandlung.

Ich wusste lange nicht, dass ich mit der gleichen Gabe, dem zweiten Gesicht, geschlagen war, allerdings bei Weitem nicht so stark wie mein Großvater. Vor allem als Kind und junges Mädchen habe ich manchmal Ereignisse vorhergesehen. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit meiner Mutter in der Küche stand und ihr sagte, dass meinem Bruder Gösta etwas zustoßen würde. Tatsächlich hatte er zur selben Zeit einen Unfall mit der Straßenbahn. Die meisten meiner Vorahnungen haben meine Eltern allerdings als kindliche Phantasie abgetan, die ich reichlich hatte, und sie gingen meinen Vorhersagen auch nicht weiter nach. So bekam ich in den meisten Fällen keine Rückmeldung darüber, ob sie sich bewahrheiteten, und konnte sie auch nicht einordnen. Mit dem Älterwerden hat sich diese Gabe verloren. Auch die Schwester meines Vaters, meine Tante Agnes, hatte das zweite Gesicht.

Ich bin in Stettin, in der Wohnung meiner Großeltern mütterlicherseits, zur Welt gekommen. Es muss eine komplizierte Hausgeburt gewesen sein. Ich wollte offenbar partout nicht das Licht der Welt erblicken, sondern rutschte immer wieder zurück in den Mutterleib. Die Nabelschnur war mehrfach um meinen Hals gewickelt. Endlich entschloss sich der Arzt zu einem erlösenden großen Schnitt, und ich kam nahezu erstickt und blau auf die Welt. Meine Mutter hatte viel Blut verloren, weshalb man sich zunächst um sie kümmerte, während man mich zwischen ihren Beinen ablegte, wo ich im Blut und Fruchtwasser fast ertrunken wäre. Noch Wochen später, so wurde mir erzählt, hätte ich immer wieder niesen müssen.

Mein Großvater väterlicherseits war enttäuscht, dass es ein Mädchen war. Er zeigte wenig Interesse an mir und beachtete mich kaum. Meine Großmutter stand völlig unter seinem Pantoffel. Ende 1945 sind diese Großeltern vor den Russen von Stettin nach Lübeck geflohen. Dort lebte ihre Tochter, die ihnen in ihrem Haus ein Zimmer zur Verfügung stellte.

Bereits ein Vierteljahr nach meiner Geburt begann mein unstetes Leben, das von Anfang an vom Beruf meines Vaters und seinen häufigen Theaterwechseln bestimmt war. Er hatte ein Engagement nach Mainz bekommen. Es war eine lange Reise von Stettin bis an den Rhein. Meine Eltern mieteten ein Zimmer bei einer Frau, die mich sofort ins Herz schloss und »adoptierte«. Sie liebte mich, ihr »Kindsche«, vom ersten Augenblick an. »Dat Kindsche hat mich anjestraalt, dat schreit ja überhaupt nisch!« Trotz meiner schwierigen Geburt war ich offensichtlich von Anfang an ein glückliches und zufriedenes Kind.

Dich hat der Esel im Galopp verloren

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