Читать книгу Es kommt schon alles, wie es soll - Elli Poletti - Страница 7
Оглавление3 - Flashback
Mein Leben war jetzt keine „Vom Entlein zum Schwan“-Geschichte. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass mir der Umzug nach Bielefeld gutgetan und einiges in mir bewegt hatte.
Ich liebte mein Leben im Dorf und bei meinen Freunden, aber trotzdem war es Zeit für einen Tapetenwechsel. Im Dorf lebte ich bei meinen Eltern im Haus. Zwar hatte ich dort eine eigene Wohnung, dennoch war Privatsphäre immer noch ein Fremdwort. Als Immobilienkauffrau in einer Verwaltung hatte ich einen nicht allzu spannenden, dafür jedoch einen sicheren Job. Meine Freunde und meine Familie lebten alle in meinem näheren Umkreis. Es war alles schön, bis ich mich Hals über Kopf verliebte. Zum ersten und bisher letzten Mal in meinem Leben.
Ich lernte Mirko auf einem Schützenfest kennen. Es war ein heißes Juliwochenende und ich war mit meinen Mädels tagsüber im Freibad. Damals waren wir zwar nicht alle Single, allerdings noch alle kinderlos, sodass solche Nachmittage keine Seltenheit waren. An diesem Tag waren wir total aufgedreht und wollten unbedingt tanzen gehen. Das war nicht schwer, denn im Sommer war immer irgendwo Schützenfest. Wir radelten schnell nach Hause, machten uns frisch und ließen uns ins Nachbardorf fahren.
Die Musik erreichte uns schon, als wir aus dem Auto stiegen, und wir liefen sofort auf die Tanzfläche. Als die Band Pause machte, brauchten wir auch unbedingt eine Erfrischung und machten uns auf den Weg zur Theke. Wir trafen direkt ehemalige Schulkollegen und gesellten uns zu ihnen in den Kreis. Benni, unser ehemaliger Jahrgangsstufensprecher, gab gerade eine Geschichte aus alten Zeiten zum Besten, als plötzlich ein Tablett Bier neben mir auftauchte und mich zwang, den Kreis zu öffnen.
„Mirko, mit dir trinke ich am liebsten!“, tönte Benni und hob augenzwinkernd sein Glas. Auch der Tablettträger, der offensichtlich Mirko war, nahm sich ein Bier und prostete uns zu. Ich merkte, dass Rebecca große Augen bekam und den Unbekannten anstarrte, als er sich mir zuwandte.
„Und wo hat Benni euch akquiriert?“ Ich musste laut loslachen, weil diese Anspielung so tausendprozentig auf Benni, der mittlerweile Außendienstmitarbeiter mit Leib und Seele war, passte.
„Bei uns hatte er leichtes Spiel, wir kennen uns aus der Schule.“, gab ich zurück, als die Musik wieder einsetzte.
„Lust auf ein Tänzchen?“
Das musste man mich nicht zweimal fragen. Ich rief meinen Mädels noch ein fröhliches „Bin gleich wieder da“ zu, als Mirko mich schon auf die Tanzfläche zog.
Auch dabei entging mir Beccis schnippischer Blick nicht, den ich aber ignorierte. Keine Ahnung, was sie hatte. Ich versuchte das auszublenden, denn ich wollte mir den Abend nicht vermiesen lassen. Ich liebte Becci, aber manchmal war sie etwas eigen. Sie lästerte gerne und viel. Das war durchaus unterhaltsam, konnte allerdings auch wirklich anstrengend sein. Wenn sie wollte, fand sie immer irgendetwas, was ihr nicht passte. Und sie war nicht gerade eine Meisterin darin, ihre Meinung zu verbergen. Doch da wir uns schon unser ganzes Leben lang kannten, hatte ich gelernt, ihr manchmal wirklich unangebrachtes Verhalten einfach zu ignorieren und mir meine gute Laune nicht vermiesen zu lassen. Das klappte nicht immer, an diesem Abend allerdings schon.
Mirko und ich tanzten ein Lied nach dem anderen, und es stellte sich gar nicht die Frage, ob wir zurück zu den anderen gingen. Nicht nur das Tanzen lief wie von selbst. Irgendwie schafften wir es sogar, zwischen tausend Drehungen ein Gespräch zu führen. Mirko war witzig. Es fühlte sich gar nicht so an, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt.
Es stellte sich heraus, dass Mirko zwei Jahre älter war als ich und zusammen mit Benni Fußball spielte. Er wohnte nur ein paar Dörfer weiter, aber ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Das war komisch. Auf dem Dorf kannte schließlich jeder jeden, zumindest vom Sehen. Heute war ich froh, dass es doch noch Überraschungen gab. Die Zeit verging wie im Flug und die Band kündigte das Ende des Abends mit dem typischen Rausschmeißersong „Angels“ von Robbie Williams an. Ich verdrehte die Augen und zog Mirko schon Richtung Theke, als er mich zurückhielt.
„Du willst doch wohl nicht schlappmachen?“ Er zwinkerte mir zu und ich ließ mich bereitwillig zurück auf die Tanzfläche holen.
Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es das Bier war, die laue Sommernacht oder das schmalzige Lied. Wahrscheinlich eine Mischung aus allem, jedenfalls war meine Wahrnehmung ziemlich gedämpft, als Mirko plötzlich die Arme um mich schloss und mich an sich zog.
In meinem Zustand genoss ich die Nähe und wünschte mir ausnahmsweise, dass dieses Lied nicht so schnell zu Ende gehen würde. Mirko schien es ähnlich zu gehen. Als ich meinen Kopf von seiner Brust hob, sah ich direkt in seine tiefgrünen Augen. Er zog mich noch fester an sich und ohne meinen Blick loszulassen, näherte er sich meinem Gesicht immer weiter, bis sich schließlich nicht nur unsere Blicke, sondern auch unsere Lippen trafen. Erst der große Jubel nach den letzten Takten des Songs ließ uns in die Realität zurückkehren.
Auch noch fünf Jahre später überkam mich jedes Mal der Drang, mir mit der flachen Hand vor den Kopf zu schlagen, so klischeehaft, schmalzig und bekloppt war diese Situation schon in meinen Gedanken!
Beim Nachmittagskaffee mit meinen Mädels am nächsten Tag war ich natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Ich war ja selbst schuld. Offensichtlicher als mitten auf der Tanzfläche hätte ich meinen Flirt auch nicht platzieren können. Naja, sollten sie ihren Spaß haben. Am nächsten Tag würde das Thema eh Geschichte sein. Eigentlich doch etwas schade, denn irgendwie mochte ich Mirko sofort. Aber so eine Nummer fiel schließlich immer in die Kategorie „einmalige Sache wegen zu viel Alkohol“.
Das sah Mirko allerdings anders. Noch am gleichen Abend erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht mit einer Einladung zum Kaffee für den nächsten Tag. Ich wusste noch nicht mal mehr, dass ich ihm meine Nummer gegeben hatte. Und irgendwie freute ich mich auch über die Nachricht. Aus diesem Grund, aber mehr noch, weil am nächsten Tag Sonntag war und ich noch nichts vorhatte, sagte ich zu. Der Sonntag mit ihm verging wie im Flug und auch ohne Bier und Schützenfestmusik hatten Mirko und ich riesigen Spaß zusammen. Es blieb nicht bei dieser Verabredung und ich fing an, ihn bei jedem Treffen mehr zu mögen. Mit Mirko war es so leicht und so ungezwungen und trotzdem hatte ich das Gefühl, als würde er sich wirklich für mich interessieren. Schneller, als ich es mir eingestand, war ich hin und weg von diesem tollen Typen aus dem Nachbardorf. Es schien, als würde es ihm ähnlich gehen.
„Der vergöttert dich, Feli!“, waren sich meine Mädels einig.
Ich war eigentlich nicht der Typ, der so etwas über sich sagte. Aber in diesem Fall war es so offensichtlich, dass sogar ich wusste, dass sie recht hatten. Und auch auf die Gefahr hin, dass sich die Geschichte nur noch weiter anhört, wie aus einem Kitschroman kopiert, ich sah es in seinen Augen. Wenn er mir die Tür öffnete, wenn er aus dem Auto stieg, immer, wenn wir uns trafen, fingen seine Augen an zu leuchten. Tatsächlich dachte ich bis dahin, dass es so etwas nur im Film gäbe, aber das war real. Dieses Leuchten zog mich in seinen Bann. Meine anfängliche Unsicherheit, die mich immer begleitete, wenn ich einen Mann datete und bisher immer dazu geführt hatte, dass aus den Dates nichts Festes wurde, verflog immer mehr und ich verliebte mich so sehr in Mirko, dass ich viel zu spät merkte, dass es in unserem Film kein Happy End geben würde.
Denn erst mit der Zeit realisierte ich, dass Mirko zwei Seiten hatte. So unglaublich das Leuchten in seinen Augen strahlen konnte, so schnell konnte es auch erlöschen. Von jetzt auf gleich kippte die Stimmung und Mirko war wie ausgewechselt. Besonders, wenn er gestresst war.
Am Anfang habe ich mir noch nicht so viel dabei gedacht. Eine meiner ausgeprägtesten Charaktereigenschaften war schließlich, dass ich irgendwie immer alles und jeden verstehen konnte. Ich war nie ein Freund vom Schwarz-Weiß-Denken und ich war immer stolz darauf, Dinge aus verschiedensten Perspektiven betrachten zu können und dadurch so manches sah, was anderen verborgen blieb. In diesem Fall stellte sich aber heraus, dass mir genau diese Eigenschaft zum Verhängnis wurde.
Während ich also immer verstand, wenn Mirko gestresst war, und dabei versuchte, ihm so viel wie möglich abzunehmen und selbst so wenig wie möglich zur Last zu fallen, sah ich nicht, dass er eigentlich gar keinen Grund hatte, gestresst zu sein. Sein Bürojob verlangte ihm nicht allzu viel ab, sein bester Kumpel musste nicht verärgert sein, wenn Mirko ihm mal nur fünf Tage anstatt sieben Tage auf dem Bau half und es sollte auch kein Weltuntergang sein, wenn man in Kreisliga C mal keinen Siegtreffer erzielte.
Aber genau das war es für ihn, und ich bekam es zu spüren. Es kam vor, dass er sich einfach nicht mehr meldete und wenn ich ihn anrief, war er wieder gestresst. Er erzählte mir nicht, was in seinem Kopf vorging. Wenn wir zusammen waren, hing er an seinem Handy und beachtete mich nicht. An einem guten Tag verriet er mir, wie sehr er seinen Job hasste und eigentlich lieber etwas Anderes machen würde. Vielleicht etwas mit Sport. Klang für mich logisch, so sehr wie er sich in seiner Freizeit über alles Mögliche darüber informierte. Also ermutigte ich ihn, etwas zu ändern. Er war Mitte 20 und alles andere als verdammt, den Rest seines Lebens etwas zu tun, was er hasste. Natürlich erforderte Veränderung auch immer etwas Mut, aber ich war fest entschlossen, ihn zu unterstützen. Also suchte ich Ausbildungsmöglichkeiten, Fernstudiengänge, Quereinstiege. Alles in unserer Nähe, denn ohne seine Freunde hätte Mirko niemals leben können. Und das war vollkommen okay, denn auch ich liebte unsere Heimat und meine Freunde, wenn auch etwas weniger bedingungslos. Ich versuchte alles, um Mirko zu unterstützen. Wenn er glücklich wäre, würde auch bei uns wieder alles gut sein. Das Strahlen in seinen Augen würde zurückkehren, wenn er mich sah, und ich würde mich wieder wie etwas ganz Besonderes fühlen. Doch er interessierte sich gar nicht dafür und ignorierte mich und meine Hilfsversuche. Stattdessen strafte er mich, für was auch immer, mit Nichtbeachtung, während er unter Leuten der fürsorgliche und witzige Traumtyp blieb. Das ging nicht spurlos an mir vorbei. Und ohne es rechtzeitig zu merken, verwandelte ich mich von einer lebenslustigen jungen Frau in ein kleines Häufchen Elend. Wenn Mirko keine Lust auf mich hatte, wartete ich geduldig auf dem Abstellgleis. Wenn er mich wollte, war ich da. Ich wünschte mir, ihn einfach wieder glücklich zu sehen. Aber das tat ich nicht. Und immer, wenn ich kurz davor stand, einen Schlussstrich zu ziehen und mich nicht weiter so behandeln zu lassen, kam wieder ein guter Tag. Dieses unbeschreibliche Leuchten kehrte in seine Augen zurück, wenn er mich ansah. Dann behandelte er mich wie seinen größten Schatz. Genau diese Tage waren es, die es mich nicht übers Herz bringen ließen, mich von Mirko zu trennen.
Mit jedem dieser guten Tage wuchs mein Glauben an den Menschen, den ich liebte, und daran, dass ich mich nicht so in einem Menschen täuschen konnte. Es war sicher nur eine Phase und alles würde wieder gut werden. Man musste eben auch schlechte Zeiten zusammen überstehen.
Diese „Phase“ wurde leider mehr und mehr zum Alltag. Wenn wir zusammen waren, herrschte gedrückte Stimmung. Mirko kam aus dem Grübeln nicht mehr heraus, war antriebslos. Ständig musste ich ihm bestätigen, dass andere ihn toll fanden und dass das, was er machte, gut ankam. Während ich mir ernsthaft Sorgen machte, weil sein Verhalten immer mehr den Symptomen einer Depression entsprach, ließ er sich bei seinen Freunden weiterhin nichts anmerken. Bei Bier und Fußball war schließlich alles bestens und Mirko war ganz der Alte. Und wenn seine Fassade doch einmal vor anderen zu bröckeln begann, gab es immer eine tolle, aber vollkommen falsche Erklärung.
Für die Welt blieb er also der tolle Typ, für mich war er ein Rätsel. Und langsam machte ich mir ernsthafte Sorgen. Das Einzige, was nicht von einer Depression zeugte, war sein unverändertes Lustempfinden. Das funktionierte wunderbar. Über diesen Teil meines Liebeslebens konnte ich mich also nicht beklagen, in allen anderen Angelegenheiten war er aber einfach nur abweisend zu mir.
Das alles ging nicht spurlos an mir vorbei. Mirkos Zustand beeinflusste mich immer mehr und ich wurde unsicher. Ich wusste nicht, was ich sagen durfte und was ihn aufregte. Ich wusste nicht, wann er meine Nähe genoss und wann er Abstand brauchte. Also versuchte ich, immer auf Abruf zu sein. Darunter litt nicht nur mein Selbstwertgefühl, sondern auch mein soziales Umfeld. In meiner großen Verzweiflung unternahm ich dann doch einen Versuch, mit meinen Mädels über meine Situation zu reden. Aber der war erfolglos. Sie mochten Mirko sehr und hätten sich im Leben nicht vorstellen können, was hinter dieser charismatischen, lebensfrohen Fassade steckte. Besonders Rebecca erstickte jeden meiner Versuche, über meine Gefühlswelt zu reden, im Keim.
„Feli, du kannst dich ja wohl nicht beklagen! Mirko ist ein Glücksgriff. Ehrlich gesagt verstehe ich immer noch nicht, warum er sich damals für dich entschieden hat. Wahrscheinlich steht er einfach mehr auf Brünett. Naja und ich hab ja eh immer Pech.“ Und schon war sie mal wieder bei ihrem Lieblingsthema: ihrem ewigen Single-Dasein. Ich nahm es ihr nicht übel. Diese Sprüche war ich gewohnt und Becci war sich schon immer irgendwie selbst die Nächste gewesen. Auch den anderen war ich nicht böse. Wie sollten sie verstehen, wenn ich versuchte, ihnen etwas zu erklären, was aus ihrer eigenen Erfahrung vollkommen anders war? Die Tatsache, dass ich immer weniger Zeit für sie hatte und immer mehr Treffen absagte, um abrufbar für Mirko zu sein, verbuchten sie als normale Konsequenz einer frischen Liebe.
Ich ließ sie also in dem Glauben und so wurde meine Unsicherheit immer mehr gefördert.
Vielleicht übertrieb ich alles auch ein bisschen und vielleicht sollte ich mich wirklich einfach glücklich schätzen. Schließlich gab es in jeder Beziehung Höhen und Tiefen. Außer dass Mirko manchmal schlecht drauf war und recht laut werden konnte, wenn wir wieder einmal diskutierten, war ja auch alles gut. Er war ja schließlich nicht gewalttätig oder zwang mich zu etwas, was ich nicht wollte oder so. Also blieb ich still, ertrug Mirkos Launen weiter und ließ mich weiter benutzen. Zum Ausheulen, zum Aufbauen, zum Befriedigen. Was ich wollte, spielte schon lange keine Rolle mehr und mittlerweile war ich zu unsicher geworden, mir selbst darüber Gedanken zu machen. Ich wartete wie ein geduldiges Schaf auf die Momente, in denen mich Mirko mal wieder liebhatte.
Rückblickend war es einfach nur erbärmlich, aber das merkte ich damals natürlich nicht. Noch erbärmlicher war es, dass der Höhepunkt meines persönlichen Albtraums eigentlich meine Rettung war.