Читать книгу P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben - Elsbeth Schneider-Schöner - Страница 10

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Alles schien ruhig, selbst aus Hermanns Zimmer kam kein Geräusch. Wahrscheinlich war ihr Bruder mit seinen Pimpfen irgendwo unterwegs und sammelte Altmetall oder ließ sie marschieren und mit Schlagbällen auf Vogelscheuchen werfen, um sie so auf den Kampf mit der Handgranate vorzubereiten. Was früher nur notwendig oder sinnvoll gewesen war oder einfach Spaß gemacht hatte, hatte sich in einen Kampf für das Vaterland verwandelt, dachte Charlotte Voss – die Arbeit, die Freizeit, der Schlaf, so als lebte man in einem permanenten Belagerungszustand, in dem schon das Wort »Spaß« unanständig erschien. Sie lauschte noch einmal in die Diele hinaus, bevor sie Briefe und Zigaretten zuunterst in den Korb legte, zwei Äpfel dazupackte und alles mit einem Geschirrtuch abdeckte, um es vor neugierigen Blicken zu schützen. Dann knotete sie sich ein Kopftuch um, griff nach ihrer Jacke und verließ das Haus.

Das Anwesen der Familie Voss war ein repräsentatives, mächtiges Gebäude, das mit seinen Stuckverzierungen und dem schmiedeeisernen Tor überhaupt nicht in das Ortsbild von Laifingen passte. Alle im Dorf wussten, dass Charlottes Mutter Erika aus einer Fabrikantenfamilie stammte und sich schlicht geweigert hatte, in die Dachgeschosswohnung der Schule zu ziehen wie die früheren Oberlehrer. Stattdessen hatte sie ihr umfangreiches Erbe eingesetzt und gemeinsam mit ihrem Mann Arnold dieses Haus bauen lassen, sobald sich abgezeichnet hatte, dass sie die nächsten Jahrzehnte in dem Ort wohnen würden. Wo ursprünglich eine pingelig gestutzte Rasenfläche mit Rosenlaube und Blumenrondell demonstriert hatte, dass hier jemand Besseres wohnte, erstreckten sich seit diesem Frühjahr bescheidene Gemüsebeete mit Karotten, Buschbohnen, Zwiebeln und Salat. Charlottes Vater hatte selbst mit Hand angelegt, um den Boden umzugraben und mehrere Schubkarren voll Mist einzuarbeiten, die der alte Fahrner ihnen vorbeigebracht hatte. Dieser Krieg, so hatte Arnold Voss erklärt, werde nicht nur auf den Kampffeldern in ganz Europa gewonnen, sondern auch an der Heimatfront. Deutschland müsse sich unabhängig machen von Rohstoffeinfuhren aus dem feindlichen Ausland, und er selbst gedenke sich durch die Anlage eines Gemüsegartens an der Erzeugerschlacht zu beteiligen. Der belehrende Tonfall war ihm im Laufe seines Berufslebens so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es ihm nie ganz gelang, ihn abzulegen, egal, ob er vor einer Schulklasse stand, in irgendeinem SA-Heim einen Vortrag hielt oder einfach nur im Wohnzimmer mit seiner Familie sprach. Bis sie Fahrners näher kennengelernt hatte, war Charlotte davon ausgegangen, dass es gar keinen anderen Tonfall gab, in dem ein Vater mit seinen Kindern umging. Aber es war sinnlos, sich darüber zu beschweren und zu erwarten, von ihm ernst genommen zu werden. Solange sie in diesem Haushalt wohnte, solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst, wie ihr Vater es ausdrückte, solange würde sich nichts daran ändern.

Die ausgesäten Gemüsepflanzen sahen bisher nicht vielversprechend aus – kein Wunder, da sich niemand wirklich verantwortlich dafür fühlte. Erika Voss hatte sich mit dem Hinweis, vom Bücken bekomme sie Migräne, geschickt aus der Affäre gezogen, und Hermann war durch seine kriegswichtigen Arbeiten als Fähnleinführer selbstverständlich viel zu eingespannt, um regelmäßig zu gießen oder Löwenzahn auszujäten. Von ihrem Vater selbst ganz zu schweigen – der Dienst für die Partei ließ ihm neben seiner Lehrertätigkeit ja praktisch keine freie Minute! Während sie selbst, Charlotte, doch vorhatte, in einen Bauernhof einzuheiraten. Da war ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn sie sich auch im elterlichen Garten ein wenig nützlich machte?

Ein paar Kannen Regenwasser würden vermutlich schon reichen, dachte sie, holte sich die Kanne und goss, bis es vier Uhr läutete. Wenn sie jetzt nicht ging, würde sie vermutlich ihrem Vater in die Arme laufen und konnte gleich ganz zu Hause bleiben. Sie durchquerte den Garten, lief an den Kartoffeläckern entlang und über die Streuobstwiesen, bis sie einen alten Hohlweg erreichte, der steil zum Schönbuchtrauf hinaufführte. Bis vor dem Krieg hatten die Breitmeyers hier noch Wein angebaut, aber seit die beiden Söhne vor zwei Jahren eingezogen worden waren, hatte der alte Bauer den Weinberg kaum noch gepflegt, und die Reben waren mittlerweile von Unkraut und Brombeeren überwuchert. Charlotte kletterte die Weinbergtreppe hoch und bahnte sich einen Weg zwischen den dornigen Ranken an Breitmeyers Werkzeugschuppen vorbei bis zu dem Trampelpfad, der zu dem aufgelassenen Steinbruch führte. Bis vor zehn, fünfzehn Jahren hatte man hier Sandstein abgebaut, Stubensandstein; ein Material, das zwar als Baustoff eingesetzt wurde, gleichzeitig aber so instabil war, dass man es zwischen den Fingern zerbröseln konnte. Der Steinbruch veränderte fortwährend sein Gesicht – hier kam ein ganzer Abschnitt ins Rutschen, dort bildeten sich Sandhügel am Fuß einer Abbruchkante. Steine bröckelten auseinander, und Wurzeln wuchsen in die entstehenden Spalten hinein, so dass diese sich immer weiter öffneten und schließlich Frost und Eis ganze Felsformationen zum Einsturz brachten. In hundert Jahren, dachte Charlotte, würde der Wald alle Spuren zugedeckt haben, die Menschen hier hinterlassen hatten. Es war ein guter Platz, wenn man seine Ruhe haben wollte, ein Platz ohne das Gedudel des Volksempfängers, ohne Fahne und Führerbild an der Wand.

Charlotte legte ihre Jacke auf die Erde und lehnte sich gegen eine immer noch sonnenwarme Felswand. Sie schloss für ein paar Minuten die Augen und genoss es, dass niemand ihr über die Schulter sah und irgendwelche Aufträge erteilte. »Fräulein Voss, können Sie das nicht gleich beim ersten Mal fehlerfrei schreiben?« Martha Belser war jahrelang die einzige Schreibkraft auf dem Rathaus gewesen und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie Charlotte für unfähig und überflüssig hielt. »Machen Sie noch eine Abschrift hiervon und bringen Sie sie mir dann zur Vorlage, ich brauche das noch vor dem Mittagsläuten … Laufen Sie doch schnell zum Postamt und geben Sie die Briefe auf … Ach, und wenn Sie schon unterwegs sind, fragen Sie gleich bei Frau Ries nach, ob sie meine Blusen fertig gebügelt hat, und bringen Sie sie mit!« Niemals hätte sie sich freiwillig auf diese Stelle beworben, aber ihre Eltern hatten ihr keine andere Wahl gelassen, als sie in Tübingen mit der Stenotypistinnen-Ausbildung fertig gewesen war. Mit neunzehn Jahren hatte sie keine Möglichkeit gehabt, sich ihnen zu widersetzen. »Sei doch dankbar, dass dein Vater dir diese Stelle besorgt hat und du nicht in irgendeiner Fabrik Maschinengewehre zusammenschrauben musst«, war der Kommentar ihrer Mutter gewesen. »Und dann erst die Zeit, die du einsparst, weil du nicht noch in die Stadt fahren musst! Da kannst du mir noch ein bisschen im Haushalt helfen oder Joachims Mutter, die braucht es nötiger als ich!« Im Unisekretariat hätte sie anfangen können, das Angebot hatte sie schon schriftlich in den Händen gehalten. Und sie hätte auch deutlich mehr verdient. Aber Arnold Voss hatte alle ihre Wünsche und Ambitionen vom Tisch gewischt. »Wenn du volljährig bist, kannst du machen, was du willst, aber bis dahin entscheide ich, was du zu tun hast. Und ich habe entschieden, dass du hier bei Bürgermeister Lanz anfängst. Lanz ist ein guter Mann, schon ewig bei der Bewegung … Der kennt jeden in der Verwaltung bis nach ganz oben! Gute Verbindungen kann man immer brauchen. Du wirst mir noch einmal dankbar dafür sein.«

Sie blies sich die Haare aus der Stirn und kramte in ihrem Korb nach den Zigaretten. »Die deutsche Frau raucht nicht«, flüsterte sie vor sich hin, während sie den ersten Zug nahm. Ihr Vater würde durchdrehen vor Wut und Entsetzen, wenn er sie jetzt sehen könnte. Aber er konnte sie nicht sehen. Solange sie tat, was er wollte, interessierte er sich selten für sie. Solange sie in dem Rahmen blieb, den er ihr gesetzt hatte: Ein. Deutsches. Mädel. Gefährtin des Mannes, patent, hilfs- und opferbereit und dabei immer das hohe Ziel vor Augen, Mutter zu werden und Kinder zu gebären, am besten gleich ein Dutzend. Deutsche Jungen, hart wie Kruppstahl und so weiter. Joachim, da war sie sich sicher, dachte anders darüber. Joachim, der sie hier, genau hier, zum allerersten Mal geküsst hatte; der sie schließlich an dem Abend, bevor er eingerückt war, überredet hatte, sich mit ihm auf die mitgebrachte Wolldecke zu legen. Richtig verloben, hatte er es genannt, mit allem, was dazugehört! Dann kann uns nichts mehr trennen. Du willst es doch auch, Lotti, oder? Du willst es? Sie war sich an dem Abend nicht sicher gewesen, ob sie es wollte, aber er hatte sie so flehentlich angesehen und ihre Brüste gestreichelt, dass sie einfach nicht gewusst hatte, wie sie ihn abweisen sollte, ohne ihn an ihrer Liebe zweifeln zu lassen. Und dann war es einfach passiert, viel schneller und prosaischer, als sie erwartet hatte. Die Erde stand keineswegs still, und auch sie selbst war kein anderer Mensch dadurch geworden. Sie war eben noch völlig unerfahren gewesen, sagte sie sich. Aber wenn sie in ihrem Bett lag, stellte sie sich gern vor, wie es wäre, ihn neben sich zu spüren; wie er ihr das Nachthemd hochstreifen und mit zärtlichen Händen über ihren Körper streichen würde, wie er sie leidenschaftlich küssen und dann mit dem Mund über ihre Haut gleiten würde … Es war gut, dass sie gemeinsam diesen Schritt getan hatten, dachte sie, und dass sie dabei nicht gleich schwanger geworden war. Niemand konnte ihr das wegnehmen, niemand konnte es rückgängig machen. Sie hatte einen entscheidenden Schritt in Richtung Erwachsenwerden getan.

Ob Eva wohl kommen würde?, überlegte sie. Eva war Joachims Schwester und seit der Kinderzeit ihre beste Freundin. Heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit hatten sie sich kurz gesehen, als Eva draußen vor dem Haus die Hühner gefüttert hatte. Im Vergleich zu der Freundin, dachte Charlotte, hatte sie es im Rathaus vielleicht doch gar nicht so schlecht getroffen. Immerhin durfte sie arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen (wenn sie auch mehr als die Hälfte davon zu Hause abgeben musste), während Evas Eltern nach der Einberufung ihres Ältesten klipp und klar gesagt hatten, dass sie auf die Hilfe der einzigen Tochter nicht verzichten könnten. Für Eva war das ein harter Schlag gewesen. Vorher hatte sie noch gemeinsam mit Charlotte die Mädchenrealschule in Tübingen besucht und geplant, eine Ausbildung zur Schneiderin zu machen, aber der Wille der Eltern ging natürlich vor – der Wille der Eltern und der Hof. Der Hof ging immer vor.

Charlotte verscharrte den Zigarettenstummel im Dreck und holte die Briefe heraus, die sie hier in Ruhe lesen wollte, den alten und den, der heute erst gekommen war. Allzuviele Briefe kamen nicht; Joachim war kein großer Briefeschreiber, das hatte sie vorher schon gewusst. Seiner Meinung nach gab es für richtige Männer Wichtigeres zu tun als lesen und schreiben, und jetzt im Dienst im Osten hatte er vermutlich sowieso kaum Zeit und Ruhe dazu. Aber darauf kam es auch gar nicht an, dachte Charlotte. Worauf es ankam, war, dass er sie aus dem Herrschaftsbereich ihres Vaters herauslösen würde, dass er ihr helfen würde, endlich frei zu sein und zu tun, was sie selbst wollte. Joa sah gut aus, verwegen geradezu in seinem Schwarzhemd und der Uniformmütze; er war ehrlich, geradlinig, zuverlässig und außerdem ein Zauberer, was Motoren anging und alles, was Räder hatte. Irgendwann, sobald der Krieg vorbei war, würde er sich ein eigenes Auto kaufen, und sie würden zusammen über die Landstraßen brausen und Berlin besuchen, Rom, Paris … Brennend gern würde sie auch selbst fahren lernen. Joachim hatte schon angeboten, es ihr beizubringen, aber natürlich waren ihre Eltern dagegen gewesen, die deutsche Frau und so weiter. Sie seufzte und faltete das Blatt auf, dessen Text sie inzwischen fast auswendig konnte.

»Mein liebes Lottchen, ich liege hier in meiner Koje und denke daran, wie schön es wäre, dich hier bei mir zu haben und dein süßes Mäulchen und noch mehr zu küssen! Aber das müssen wir wohl aufschieben bis zum nächsten Heimaturlaub. Ich habe hier mit drei anderen Jungs von der Sipo eine kleine Wohnung mit zwei (!) Stuben, eine zum Schlafen und eine zum Wohnen. Es ist zwar eng und einfach, könnte aber schlimmer sein, schließlich haben wir Krieg!«

Daneben hatte er ein paar Bildchen gezeichnet, die seine Kameraden darstellen sollten: Einer davon hatte furchtbar abstehende Ohren, ein anderer schielte. Joachim hatte immer schon eine gute Hand fürs Zeichnen gehabt, auch wenn er sich in den letzten Jahren meistens auf irgendwelche technischen Dinge konzentriert hatte. Aber Charlotte konnte sich noch gut an ein paar ziemlich freche Karikaturen ihres eigenen Vaters erinnern, auf denen der Oberlehrer wie ein aufgeplusterter Gockel vor einer vollgekritzelten Tafel hin und her stolziert war.

»An der Front sieht’s viel übler aus. Wir Deutschen haben hier in Warschau ein Stadtviertel für uns, und das ist ein Segen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie heruntergekommen und dreckig die Leute hier sind, Männer wie Frauen! Auf den Straßen fühlt man sich oft seines Lebens nicht mehr sicher. Außerhalb des Dienstes kommen wir aber kaum mit ihnen zusammen. Wir essen gutes deutsches Essen in unserer eigenen Kantine, haben unsere eigenen Kneipen und Kinos und natürlich die Kameradschaftsabende. Aber du kannst dir sicher vorstellen, um wie viel lieber ich mit dir zusammen wäre! Richtig zusammen!!! Wie dumm waren wir, dass wir so lange gewartet haben! Schon der Gedanke daran lässt es bei mir jucken und zucken! Bist du auch brav, mein Frauchen, und wartest auf mich?…«

Das »richtig« war so fett unterstrichen, dass sie es nicht missverstehen konnte, ebenso wie die vielen Ausrufezeichen. Charlotte faltete den Brief wieder zusammen und legte ihn zurück in den Korb. Sie hatte Eva ein bisschen daraus vorgelesen, aber vieles lieber auch nicht. Eva musste nicht unbedingt mitkriegen, wie Joachim von den Erfahrungen schwärmte, die er an dem besagten Abend gemacht hatte. Der neue Brief knisterte in ihren Händen; sie hielt ihn kurz an die Nase und roch daran. Wenn überhaupt, dann meinte sie, eine leichte Spur Motoröl zu riechen – Joachim war nicht der romantische Typ, der seine Briefe parfümierte.

»Mein kleines Mädle, du fragst mich nach Warschau.«

Nachdem sie erfahren hatte, dass Joachim in Warschau war, hatte sie gleich auf der großen Europakarte im Flur nachgeschaut, auf der ihr Vater – wie er es auch in der Schule tat – mit verschiedenfarbenen Stecknadeln den Verlauf der Front markierte. Für den Osten benutzte er Weiß. Wegen der langen Winter, hatte er erklärt. Der viele Schnee! Immerhin war die weiße Linie beruhigend weit von Warschau entfernt, als dass sie hätte befürchten müssen, Joachim könnte gleich in Kämpfe verwickelt werden.

»Warschau ist eine große Stadt, viel größer als unser Stuttgart. Die Weichsel fließt mittendurch. Wir haben sogar schon darin gebadet, es war hundekalt! Es gibt eine Altstadt mit einem Markt, ein paar Parks sowie große Straßen mit mehrstöckigen Häusern daran, alles verlottert und heruntergekommen.«

Auf der Skizze daneben sah es allerdings ganz hübsch aus, schöne alte Häuser, eine Art Schloss und davor ein Brunnen.

»Besonders in den Vororten, aber auch im Zentrum ist von vielen Gebäuden nur noch ein Trümmerhaufen übrig – da haben die Jungs von der Luftwaffe ganze Arbeit geleistet!«

Es knackte im Gebüsch, und Charlotte sah hoch.

»Eva! Ich hatte schon gedacht, du kommst nicht mehr!«

Eva lachte leise. Sie war nur ein paar Monate jünger als Charlotte, wirkte aber noch wie eine Vierzehnjährige – ein schmales Mädchen mit blonden Zöpfen und einem Kindergesicht, dessen zartem Körperbau man nicht ansehen konnte, dass es ein Bauernkind war und schwere körperliche Arbeit gewohnt. Eva streckte die Nase in die Luft und schnüffelte.

»Puh, hier stinkt’s! Hast du geraucht?«

Charlotte nickte. »Willst du auch eine?«

»Igitt, nein! Außerdem würde ich einen Mordsärger zu Hause kriegen, wenn die mich mit einer Zigarette erwischen.«

»Na, ich doch auch. Deshalb mache ich es ja.« Sie klopfte neben sich auf den Boden. »Setz dich hierhin, ist noch ganz warm.«

Eva ließ sich nieder und kreuzte die Beine. »Fast wäre ich nicht mehr weggekommen … Die Zwillinge sind krank, haben irgendetwas Verkehrtes gegessen. Den ganzen Tag schon putze ich hinter ihnen her.«

Hans und Emil waren die Nachkömmlinge im Hause Fahrner; als sie gezeugt worden waren, war ihre Mutter schon zweiundvierzig Jahre alt gewesen und hatte vermutlich nicht mehr damit gerechnet. Anfangs hatte es nicht so ausgesehen, als ob auch nur einer der beiden winzigen Säuglinge die ersten Lebenswochen überstehen würde, aber sie hatten sich verbissen an das Leben geklammert und die kritische Phase überstanden. Auch an der Bäuerin hatte die späte Schwangerschaft gezehrt. Nach der schwierigen Entbindung hatte sie wochenlang im Bett gelegen und war seitdem nicht wieder richtig auf die Beine gekommen, so dass der damals zwölfjährigen Eva ganz natürlich die Aufgabe zugefallen war, sich um die Kleinen zu kümmern. Sie liebte ihre kleinen Brüder abgöttisch, obwohl sie ein Grund dafür waren, dass sie selbst immer hatte zurückstecken müssen. Eva reckte ihr Gesicht in die Sonne und schloss die Augen.

»Joachim hat geschrieben«, sagte Charlotte.

Mit einem Ruck war Eva wieder munter. »Dir schreibt er viel häufiger als uns. Meine Mutter ist schon ganz traurig deswegen.«

»Vielleicht sind meine Briefe interessanter?«

Eva zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Mutter schreibt ihm wirklich jeden Tag, und so viel Neues gibt es von uns gar nicht zu berichten. Was steht denn drin? Lies vor!«

Charlotte überflog noch einmal die ersten Zeilen.

»Er ist in Warschau, aber das weißt du ja. Vieles ist während der Belagerung kaputtgegangen, aber trotzdem scheint es nicht so schlecht dort zu sein. Auf jeden Fall interessant: Auf den Straßen herrscht ein unbeschreibliches Durcheinander. An jeder Ecke hat jemand einen Stand aufgebaut und verkauft seinen Kram: alte Kleider, Blumentöpfe, kaputte Möbel, Kohl, was du dir nur denken kannst! Dazu schreien sie herum in dieser schrecklichen Sprache, die kein normaler Mensch verstehen kann. Und überall wird geschachert und gefeilscht. An diesem Geschacher merkt man schnell, wie verjudet diese ganze Gesellschaft hier ist! Kraftwagen gibt es nur die, die wir selbst mitgebracht haben. Ein paar Polacken fahren mit Pferdedroschken durch die Stadt, andere verdienen sich ein paar Złoty damit, Leute mit Fahrradrikschas durch die Gegend zu kutschieren.«

Von diesem eigenartigen Gefährt hatte Joachim wieder eine Skizze angefertigt. Charlotte zeigte Eva das Bildchen, wobei sie gut darauf achtete, dass sie den übrigen Text dabei mit der Hand verdeckte.

»Wie die schlitzäugigen Kulis in China, und genauso gerissen! Ich habe mich auch schon mal rumfahren lassen, nur so zum Spaß, und natürlich hat dieser Gauner versucht, mich dabei übers Ohr zu hauen … aber nicht mit mir! Du kannst dir vorstellen, dass der Kerl sich in Zukunft zweimal überlegen wird, sich mit einem deutschen SiPo anzulegen.«

»Und weiter?«

Charlotte überflog den restlichen Brief. »Was dann kommt, ist persönlich.«

»Ach so.« Eva schlang die Arme um die aufgestellten Knie. »Was meint er wohl mit dem, was er zum Schluss geschrieben hat? Das mit diesem Rikschafahrer?«

»Weiß auch nicht. Vermutlich hat er sich einfach geärgert und dem Kerl ordentlich den Marsch geblasen. Der Pole ist feige, sagt mein Vater zumindest immer. Wenn man den einmal anbrüllt, kuscht er.«

»Na ja. Brüllen kann Joachim jedenfalls, das weiß ich. Und zulangen auch. Die Zwillinge haben von ihm schon mehr Ohrfeigen gekriegt als von beiden Eltern zusammen.«

»Wahrscheinlich ärgern sie ihn auch mehr.« Charlotte faltete den Brief zusammen und ließ ihn in ihrem Korb verschwinden. »Ich wünschte, Joachim wäre schon wieder zurück aus Warschau«, sagte sie.

Eva sah sie mitfühlend an. »Hast du so große Angst um ihn?«

»Nein. Aber es ist so schrecklich langweilig hier! Nur noch alte Leute, Frauen und Kinder! Niemand mehr da, mit dem man tanzen oder wenigstens mal ins Kino gehen könnte!«

Eva kicherte und gab Charlotte einen freundschaftlichen Knuff. »Du kannst ja Hermann oder einen von seinen Pimpfen fragen, die gehen bestimmt liebend gern mit. Wenn du sie einlädst!«

»So weit kommt’s noch!« Charlotte lehnte sich zurück und genoss die Abendsonne auf ihrem Gesicht. »Hermann war schon immer eine grauenhafte Nervensäge. Schon immer. Aber seit er Fähnleinführer geworden ist und meine Eltern ihm diese Uniform gekauft haben, ist er vollständig unerträglich.«

Vom Dorf her waren die Glocken zu hören: fünf Uhr. Eva stand auf und klopfte sich den Sand vom Rock. »Ich muss gehen. Bei uns gibt’s Bratkartoffeln heute Abend, willst du zum Essen kommen?«

Charlotte schüttelte den Kopf, stand dann auch auf und reckte sich. »Geht nicht. Mein Vater will, dass ich ihm mit den Diktaten der Mittelklasse helfe. Wahrscheinlich wartet er schon sehnsüchtig, dass ich komme. Aber wir können wenigstens noch zusammen runterlaufen.«

»Morgen gehen wir in die Johannisbeeren. Wenn du Zeit hast, kannst du ja dazukommen.« Kein Tag, an dem auf dem Fahrnerhof nicht irgendetwas gearbeitet werden musste. Es war bekannt, dass sie »schaffige Leute« waren – das größte Kompliment, das die Dorfgemeinschaft jemandem machen konnte. Im Vergleich dazu kam Charlotte sich oft träge und nutzlos vor. Aber Obst zu ernten und zu verarbeiten war eine der wenigen Arbeiten in Hof und Garten, die auch ihr Freude machten, und sie würde die Gelegenheit nutzen, ihre Zeit morgen zusammen mit Eva und deren Mutter zu verbringen statt bei sich zu Hause.

Insgeheim war sie erleichtert, dass Joachim keinerlei Ehrgeiz zeigte, die Landwirtschaft seiner Eltern zu übernehmen, sondern alles darangesetzt hatte, als Kraftfahrer und Mechaniker Karriere zu machen. Bevor er in die Schule gekommen war, konnte er schon Fahrrad fahren, hatte dann später begeistert bei der Motorsportgruppe der HJ mitgemacht und war so früh wie möglich dem Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps in Tübingen und später als Kraftfahrer der Schutzstaffel beigetreten. Auch jetzt in Warschau bestanden seine Pflichten im Wesentlichen in Chauffeurdiensten für die höheren Chargen sowie in der Pflege und Wartung des Fuhrparks – das jedenfalls war es, wovon er schrieb. Wenn der Krieg erst zu Ende und er wieder zu Hause war, wollte er eine Reparaturwerkstatt aufmachen, am besten in Tübingen, wo auch Charlotte viele Möglichkeiten hätte, als Bürokraft oder in der Buchhaltung mitzuhelfen. Hauptsache, ihr stand keine Zukunft als Bäuerin bevor! Sollte Eva mit dem Mann, der sich früher oder später für sie finden würde, ruhig den Hof übernehmen, Charlotte gönnte es ihr von ganzem Herzen. Leider konnte sie mit Eva nicht darüber sprechen, da Joachim seine Eltern noch nicht in seine Pläne eingeweiht hatte. Der alte Fahrner rechnete felsenfest damit, dass sein zweiter Sohn nach dem Soldatentod des Ältesten in Russland den Hof übernehmen würde. Die Nachricht, dass Joachim sich sein Leben ganz anders vorstellte, würde die Familie wie ein Erdbeben erschüttern, da war sich Charlotte sicher.

»Und du meinst, dein Vater ist zu Hause?«, fragte Eva, als sie eine halbe Stunde später vor dem Voss-Haus angekommen waren. »Dann komme ich noch kurz mit rein und entschuldige die Zwillinge für morgen.« Charlotte nestelte ihren Schlüssel heraus, öffnete und zog Eva hinter sich herein. Aus dem Wohnzimmer hörten sie gedämpfte Stimmen.

»Da sind sie«, sagte Charlotte, ging voran über die Steinfliesen und trat in die Stube.

»Aber Lotti, wo warst du so lange?«, ertönte die tadelnde Stimme ihrer Mutter. Dann erst hatte sie Eva entdeckt. »Oh, Eva, schön, dich zu sehen.«

»Guten Abend«, murmelte Eva und blieb an der Schwelle stehen, aber Arnold Voss war schon aufgesprungen und reckte die rechte Hand.

»Heil Hitler, Mädchen! Nur herein! Und, wie geht’s zu Haus? Was macht der tapfere Kraftfahrer?« Charlottes Vater war ein stattlicher Mann, dem schon Dutzende kichernder Schulmädchen eine gewisse Ähnlichkeit mit Hans Albers nachgesagt hatten. Er leitete die Dorfschule und hatte alle Laifinger Kinder schon unterrichtet. Jetzt stand er vor Eva und wartete auf eine Antwort, als wäre sie eine Zehnjährige, die ihre Aufgaben nicht gemacht hat.

»Danke der Nachfrage«, sagte sie endlich. »Aber Charlotte weiß es besser als ich, sie hat heute einen Brief bekommen. Joachim ist immer noch in Warschau und betreut dort die Kraftwagenflotte. Wir hoffen sehr, dass sie ihn nicht zu den kämpfenden Truppen an die Front schicken.«

»Jeder nach seinen Fähigkeiten, Eva! Der Endsieg für Deutschland wird schließlich nicht nur mit der Waffe in der Hand erkämpft. Wenn auch unser Hermann darauf brennt, dass er endlich einrücken kann und sie ihm ein Gewehr in die Hand geben.« Bei diesen Worten ließ Erika Voss ihren Stopfpilz in den Schoß sinken und sah auf.

»Du musst es doch nicht auch noch beschwören, Arnold!«, tadelte sie. »Manchmal glaube ich, wenn du nicht immer davon sprechen würdest, dann hätte der Junge niemals solche Flausen im Kopf!«

»Flausen? Seit wann sind das Flausen, wenn ein deutscher Junge für sein Vaterland kämpfen will?«

»Er ist doch erst sechzehn, Arnold. Unser einziger Sohn.«

»Eben deshalb! Wenn wir nicht bereit sind, das Beste zu geben, was wir haben, wie soll dann Deutschland …«

»Eva will noch ihre Brüder entschuldigen«, unterbrach Charlotte. »Sie sind krank.«

Arnold Voss wandte sich wieder den Mädchen zu. »Was Ernstes?«

»Nein, Herr Voss, nur eine Magenverstimmung … Aber morgen sind sie bestimmt noch nicht so weit, dass sie wieder zur Schule kommen können.«

Er nickte. »Gut, ich weiß Bescheid. Sag einen lieben Gruß zu Hause, Eva, ja? Und komm gut heim! Heil Hitler!«

Charlotte schob Eva energisch aus dem Wohnzimmer in die Diele und schloss die Zimmertür.

»Jeden Tag, sag ich dir. Jeden Tag muss ich mir das anhören. Hermann, seine Gesundheit, seine schulischen Leistungen, seine Berufsaussichten und jetzt eben seine Zukunft bei der Wehrmacht – als ob es nichts anderes gäbe, über das sie reden könnten!«

»Will Hermann wirklich an die Front?«, fragte Eva.

Charlotte verzog das Gesicht. »Na klar. Erst mal weg von zu Hause und dann zeigen, was für ein toller Kerl er doch ist. Aber wer will schon wissen, was Hermann will! Ich jedenfalls nicht.« Eva zuckte mit den Schultern.

»Ich muss los!«

»Bis morgen dann, Eva!« Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, blieb Charlotte noch ein paar Augenblicke im schummrigen Flur stehen. Irgendwo draußen krähte ein Hahn. Aus der Stube kam immer noch Arnold Voss’ Stimme.

»… solche Jungen wie Hermann sind es doch, die der Führer meint! Mutig, intelligent, pflichtbewusst, deutschnational erzogen …«

Charlotte holte die Briefe heraus und drückte sie an ihre Brust. Komm gesund zurück!, murmelte sie. Bitte, komm bald zurück!

P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben

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