Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 66

3. Kapitel
Wie es in Nesthäkchens Schule aussah

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Inhaltsverzeichnis

Endlich waren die Fenstervorhänge drüben bei Thielens in die Hohe gegangen. Ein brauner Mädchenkopf erschien am gegenüberliegenden Kinderstubenfenster und nickte strahlend einen Gruß zu Doktor Brauns herüber.

»Komm auf den Balkon, Margot, da können wir besser miteinander reden«, schrie Annemarie, glückselig, die Freundin wieder zu haben, durch die hohl an den Mund gelegten Hände.

Und dann standen die beiden Freundinnen auf den aneinandergrenzenden Balkonen, die durch eine mannshohe Wand getrennt waren. Unter bunten Winden und Bethunien reichten sie sich nach der langen Trennung endlich wieder die Hände herüber.

»Tag, Margotchen, ich glaube, ich bin jetzt größer als du, meine Zöpfe sind bestimmt länger. Bist du immer noch die Erste in der Schule? Und glaubst du, daß die Russen nach Berlin kommen werden? Unsere Hanne sagt es. Mein Vater ist mit im Krieg, in Frankreich ist er, deiner auch? Und Großmama ist jetzt bei uns, und übermorgen kommt mein altes Fräulein wieder.« Das Plappermäulchen ließ die Freundin überhaupt nicht zu Wort kommen.

Kaum konnte Margot ›Ja, mein Papa ist auch im Feld, er hat sich als Freiwilliger gemeldet, und meine Mama und ich, wir haben so geweint, als er fortfuhr‹, einwerfen.

»Meine Mutti ist doch aber in England, bei unsern Feinden, etsch!« übertrumpfte sie Doktors Nesthäkchen.

»Ach, Annemarie, und da freust du dich so?« warf die verständigere Freundin erstaunt ein.

»Na, sie kommt ja bald wieder, vielleicht schon heute oder spätestens morgen«, meinte Annemarie mit der glücklichen Sorglosigkeit der Jugend.

»Hast du mich auch nicht im Kinderheim vergessen, Annemarie, du hast mir so selten geschrieben«, fragte Margot, die ein stilles, tief angelegtes Kind war.

»I, nicht die Bohne! Ich habe zwar da ’ne andere beste Freundin gehabt, die Gerda Eberhard aus Breslau. Aber nun bist du wieder meine allerbeste, Margotchen – ach, ich möchte dir so schrecklich gern einen Kuß geben!« Vergeblich versuchte der Blondkopf zwischen den blauen Bethunien dem braunen Kinderkopf, der aus bunten Winden heraussah, nahe zu kommen. Die abscheuliche Trennungswand sprang zu weit vor.

»Warte, Margotchen, ich komm’ zu dir hinüber, einen Kuß müssen wir uns doch wenigstens geben, wenn wir uns über ein Jahr nicht gesehen haben!«

»Ja, schön – ich mache dir die Tür auf. Aber es sieht noch ziemlich liederlich bei uns aus, weil unser Gepäck eben erst gekommen ist und gerade ausgepackt wird.«

»Macht nichts, ich komm’ gar nicht erst in das Zimmer.«

»Ja, wie willst du denn da zu mir, draußen auf der Treppe ist es doch ungemütlich?« verwunderte sich Margot.

Aber ihre Verwunderung sollte sich noch steigern.

Nachdem es von drüben geheimnisvoll erklungen war: »Du wirst schon sehen – gleich bin ich da!« hörte man ein merkwürdiges Rutschen auf den Steinfliesen des Nachbarbalkons. Ehe Margot recht wußte, was los war, tauchte über der Trennungswand ein lachender Blondkopf auf. Die wilde Hummel hatte sich den Tisch an die Wand gerückt, war hinaufgeklettert und mit dem Berliner Gassenhauer: »Siehste woll, da kimmt er – lange Schritte nimmt er«, ließ sie sich jenseits der Wand auf den Thielenschen Balkon heruntergleiten.

»Fein, was?« Doktors Nesthäkchen fiel der vor Bewunderung erstarrten Freundin um den Hals. Und dann saßen sie. nachdem sie sich zu allererst selbst und dann ihre Zöpfe gegenseitig gemessen, innig umschlungen zusammen auf einem Stuhl und holten nach Möglichkeit das verlorene Jahr in der Unterhaltung nach. Alles kunterbunt durcheinander.

»Denk’ mal, meine Puppe Gerda ist bei der Flucht aus Wittdün in der Nordsee ersoffen – habt ihr noch bei Fräulein Hering Stunde? Marlene Ulrich ist nicht mehr Erste? Ist die immer noch mit Ilse Hermann so befreundet? Und ist die Hilde Rabe noch so frech?« Margot konnte gar nicht so schnell antworten, wie Annemarie fragte.

Da, mittenhinein in das lebhafte Mädchengeplauder hörte man Großmamas Stimme von nebenan: »Annemiechen – Herzchen – komm, wir wollen spazieren gehen. Herrgott – wo ist denn das Kind nun schon wieder hin? Ich habe doch im Nebenzimmer gesessen, es ist bestimmt nicht durchgegangen. Barmherziger Himmel – da wird doch nichts passiert sein?!« Großmama hielt schon wieder ängstlich auf der Straße Umschau, ob der Wildfang auch nicht hinuntergestürzt sei.

Nesthäkchen aber saß hinter der bergenden Wand und kicherte heimlich wie ein Kobold. Nein, war die Sache ulkig!

»Annemie – Annemie – –« Großmamas Stimme klang noch ängstlicher als zuvor.

»Du mußt dich melden«, flüsterte Margot, die ein sehr braves Mädel war, ihr zu.

Da bequemte sich der kleine Übermut endlich zur Rückreise. Natürlich wieder auf demselben Wege. Der Stuhl mußte diesmal den Tisch vertreten. Als Großmama aufs neue ihre Rufe erschallen ließ: »Annemiechen – Herzchen, wo bist du bloß?« erklang es ausgelassen dicht über ihr: »Hier hängt se!« und hast du nicht gesehen, kam es im hellblauen Leinenkleid über die Balkonwand herabgerutscht, gerade zu Füßen der entsetzt die Hände zusammenschlagenden alten Dame.

»Aber Annemie – wie kannst du bloß so wild sein – du bist doch kein Junge – hast du dir auch nicht weh getan, Kind?« fragte Großmama eifrig, ganz glücklich, ihr Enkeltöchterchen wieder gesund vor sich zu sehen.

»Nee, gar nicht, bloß – – –« Nesthäkchen begann plötzlich zu weinen.

Das beunruhigte Großmama natürlich noch viel mehr. Sie forschte und befühlte das Enkelchen von allen Seiten: »Wo tut’s denn weh – wo? Sag doch! Wollen wird zum Arzt schicken?«

»Nee – aber zum Schneider!« Unter Tränen schon wieder lachend, wies Nesthäkchen auf ein großes Dreieck in ihrem hübschen Sommerkleid. Das war ein Reiseandenken, das sie sich mitgebracht.

»Siehst du, Annemie, das kommt davon, wenn man so unmädchenhaft ist. Nun wird es zu spät zum Spazierengehen, wenn du dich erst umkleiden mußt.«

So zog das erste Wiedersehen der beiden Freundinnen betrübende Folgen nach sich. Annemarie aber nahm sich vor, nie wieder unmädchenhaft zu sein. Wie lange würde sie wohl daran denken?

Am nächsten Tage begann die Schule.

Fünf Minuten vor dreiviertel acht traten Annemarie Braun und Margot Thielen zu gleicher Zeit aus ihrer Tür. Wie froh war Margot, wieder den Schulweg gemeinsam mit der Freundin zurücklegen zu können. Annemarie aber war noch viel glücklicher. Sie freute sich unbändig auf die Schule, aus der sie über ein Jahr fort gewesen. Was würden die Kinder nur zu ihr sagen? Und Fräulein Hering, die immer besonders nett zu ihr gewesen!

Der Schulweg war heute tausendmal interessanter als früher. Die Straßen wimmelten von Feldgrauen. Graue Militärautos töfften ratternd dahin. Am Bahnhof kamen und gingen die Truppentransporte. Aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ertönte Orgelton. Dort fand jetzt jeden Morgen Bittgottesdienst für die ins Feld Ziehenden statt.

Vor dem roten Ziegelsteingebäude, dem Schubertschen Mädchenlyzeum, das Doktors Nesthäkchen wie ein guter alter Bekannter grüßte, waren eine Menge Schulkinder versammelt. Warum gingen die denn bloß nicht hinein? Es war doch durchaus nicht mehr zu früh! Das summte wie in einem Bienenstock durcheinander. Je näher die Freundinnen kamen, um so auffälliger wurde die Erregtheit der draußen sich zusammenscharenden Schülerinnen.

Am Ende gab es wieder einen Sieg?

»Geht gar nicht erst rein, die Schule fällt aus!« rief ihnen Erna Rust, eine Mitschülerin ihrer Klasse, schon von weitem entgegen.

»Jawoll«, anführen ließ sich Doktors Nesthäkchen nicht so leicht. Stracks ging es Margot, die ein wenig unschlüssig stehen blieb, voran in den Schulhof.

Hier dasselbe Bild wie draußen. Überall lebhaft beratende Schülerinnen. Dazwischen fremde Männer, welche Bänke und Tische schleppten, und jetzt – laut los lachte der Mädchenchor. Da trug ja Professor Möbus, der französische Lehrer, eigenhändig ein Katheder auf dem Rücken. Ja, war denn die ganze Welt aus den Fugen gegangen? Was bedeutete denn das bloß?

»Tag, Margot – Tag, Annemie, fein, daß du wieder da bist – wißt ihr’s schon?« Die beiden Freundinnen Marlene und Ilse stürzten den beiden entgegen. Jede wollte gern die erste sein, welche die Neuigkeit berichtete.

»Was denn – was ist denn bloß los, hat denn die ganze Schule einen Rappel bekommen?« rief Annemarie ziemlich respektlos. Sie brannte vor Neugier.

Aber ehe Marlene oder Ilse noch zur Antwort ansetzen konnten, überschrie sie die dazukommende Marianne: »Unsere Schule wird als Lazarett gebraucht, wir müssen umziehen.«

»Wa–as?« Margot blieb der Mund vor Staunen offen.

Annemarie aber hatte gleich eine Flut von Fragen bei der Hand.

»Sind die Verwundeten schon drin, werden unsere Lehrerinnen nun Schwestern – haben wir nun während des ganzen Krieges keine Schule?«

»Ja, Kuchen – die Schule zieht um«, schrien die Freundinnen wieder durcheinander. »Aber wir wissen noch nicht wohin.«

Nein, war das interessant. Ein Umzug der Schule hatte noch keine der vielen hundert Schülerinnen des Mädchenlyzeums erlebt. Ging man nun einfach nach Hause, oder mußte man noch da bleiben? Keine wußte es, und das erhöhte natürlich die Aufregung.

»Ich gehe ruhig in die Klasse, es hat doch noch kein Lehrer etwas gesagt«, entschied die fleißige Margot.

»Fällt mir nicht im Traume ein, hier auf dem Hof ist es viel lustiger. Und am Ende sind überhaupt schon Soldaten drin«, Doktors Nesthäkchen strahlte über die unvorhergesehenen Ereignisse.

»Militär ist noch nicht da, es muß erst alles umgeräumt werden«, erklärte Marianne Davis eifrig.

»Höchstens könnten wir mit in die Rumpelkammer verladen werden«, lachte Ilschen mit den blonden Haarschnecken.

Da erklang laut die Stimme eines Lehrers durch all den Tumult, all das Mädchengesumm hindurch: »Ruhe – die Schülerinnen sollen sich in die Turnhalle begeben.«

»Wie gut, daß wir nicht nach Hause gegangen sind!« Margot zog ihre Freundin Annemarie den sich in die Turnhalle Drängenden nach.

Die geräumige Turnhalle war knüppeldick vollgestopft mit großen und kleinen Mädchen, blonden und schwarzen. Die sonst streng voneinander gesonderten Klassen waren willkürlich durcheinander gestreut. Wie der Krieg draußen im großen die sonst voneinander geschiedenen Klassen, reich und arm, Gebildete und Ungebildete, durcheinander wirbelte, so tat er es hier auch im kleinen. Auf den langen Schwebebäumen hatten es sich kecke Dingelchen aus der zehnten Klasse bequem gemacht, trotzdem die erste Klasse meinte, diese Plätze kämen ihr zu. Annemarie Braun aber hatte sogar hoch oben auf einem Barren Platz genommen. Von hier aus übersah sie die Versammlung besonders gut. Margot, die sie in ihrer Tugendhaftigkeit durchaus wieder herunterziehen wollte, hatte damit kein Glück, übermütig baumelte Doktors Nesthäkchen auf ihrem Barren mit den in geringelten Wadenstrümpfen steckenden Beinen.

Ein Teil der Lehrer und Lehrerinnen betraten die Halle. Dicht neben Annemarie tauchte Fräulein Herings liebes Gesicht auf.

»Na, wieder da, Annemarie Braun? Das ist ja schön, daß du wieder zu uns zurückkommst. Wie ein kleines Fischermädel so braun bist du gebrannt!« Fräulein Hering trat näher und reichte der so lange Fortgewesenen freundlich die Hand.

Auch Annemarie streckte ihre Rechte aus – o weh – da verlor sie das Gleichgewicht auf ihrer schmalen Stange. In dem Bemühen, nicht herabzupurzeln, griff sie auch mit der Linken hilfesuchend nach dem, was ihr gerade das Nächste war. Mit beiden Armen fiel sie, ohne es zu wollen, der Lehrerin um den Hals. Die lachte herzlich über die zärtliche Begrüßung, und die Mädel ringsum wieherten förmlich vor Vergnügen.

Das war Doktors Nesthäkchen trotz aller Freimütigkeit denn doch etwas peinlich. Aber zum Glück betrat gerade der Direktor die rasch aus Sprungkästen und Matratzen erbaute Kanzel.

Er räusperte sich, aber er sprach noch nicht. Erst stimmte der Gesanglehrer Herr Lustig, zum größten Erstaunen der Kinder in feldgrauer Uniform, mit seiner schönen Baßstimme »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« an, und hell fielen die Schülerinnen alle ein. Feierlich zogen die Klänge durch die Turnhalle.

Dann sprach der Herr Direktor, schlicht und warm:

»Meine lieben Schülerinnen! Als wir uns vor etwa fünf Wochen trennten, um nach fleißiger Arbeit neue Kräfte in der Erholung zu sammeln, da ahnten wir nicht, welcher gewaltige Sturm über unser teures Vaterland daherbrausen würde. Die deutsche Eiche ist stark in ihren Wurzeln, ob auch viele feindliche Hände sie zu erschüttern suchen, sie wankt nicht. Nur um so fester steht sie da, nur um so herrlicher wird sie grünen. Jede von euch hat wohl ein liebes Familienmitglied mit hinausziehen lassen in den heiligen Kampf um Deutschlands Freiheit, und ist stolz darauf. Aus unserem Kreise haben sich ebenfalls verschiedene Lehrer gelöst, die ins Feld gezogen, mehrere Lehrerinnen haben sich zu Helferinnen des Roten Kreuzes gemeldet. Aber auch von der Schule selbst verlangt der Krieg seine Opfer. Unsere Räume sind dazu ausersehen worden, den Verwundeten eine Genesungsstätte zu werden. Trotz eifrigen Bemühens ist es mir nur gelungen, vier Arbeiter zum Transport der schweren Möbel zu erlangen, auch einige junge Leute vom Pfadfinderbund haben sich uns zur Verfügung gestellt. Der Hauptanteil der Arbeit aber bleibt Lehrern und Schülerinnen. Ich bin davon überzeugt, wie gern eine jede von euch mithelfen wird für die, welche ihr Blut für uns vergießen. Die Schülerinnen von der zehnten bis zur sechsten Klasse gehen nach Haus. Diejenigen der Schülerinnen der Mittel-und Oberstufen, die uns helfen wollen, begeben sich in ihre Klassenräume und empfangen dort die Anleitungen der Lehrer und Lehrerinnen. Die andern können ebenfalls heimgehen, denn es soll eine freiwillige Hilfe sein, die ihr leistet. Wann wir unsern Schulunterricht wieder aufnehmen können, wird noch bekannt gegeben. Das hängt davon ab, ob wir in einer andern Schule unseres Stadtteils ein Unterkommen finden. Voraussichtlich wird der Unterricht nachmittags stattfinden müssen. Lehrer sowohl wie Schülerinnen werden fürs Vaterland auch diese kleine Unbequemlichkeit gern in den Kauf nehmen. Aber die verlängerte Ferienzeit darf nicht müßig hingebracht werden; mehr als je hat jetzt jeder die Pflicht, all seine Kräfte zu regen. Ich fordere deshalb die Schülerinnen zur Bildung einer Arbeitsabteilung für das Rote Kreuz auf. Jede Klasse hat drei Vertrauensschülerinnen zu wählen, die dafür Sorge tragen sollen, daß die Anordnungen der Schule möglichst schnell jeder Schülerin zugestellt werden. Näheres über die Arbeitsabteilung erfahrt ihr später. Und nun, meine lieben Schülerinnen, bevor wir an unser Werk zum Wohle unseres Vaterlandes gehen, stimmt mit mir ein in den Ruf: Seine Majestät, unser allergnädigster Kaiser – hurra – hurra – hurra!«

In brausender Begeisterung einten sich die jungen Mädchenkehlen in dem Hochruf auf den obersten Feldherrn, und jauchzend, in heller Hoffnungsfreudigkeit klang es vielhundertstimmig in den sonnengoldenen Augusttag hinaus: »Heil dir im Siegerkranz«.

So endete die erhebende Feier.

Dann hieß es: An die Arbeit! Neidisch sahen die Kleinen, die nicht gebraucht wurden, den Großen nach. Keine schloß sich von all den vielen Schülerinnen aus, alle meldeten sich zur Hilfe. Und wenn selbst ein kleiner Faulpelz darunter gewesen wäre, der es vorgezogen hätte, heimzugehen, er hätte sich vor den übrigen geschämt.

Ach. wie glücklich war Doktors Nesthäkchen, daß es nun schon in der sechsten Klasse war und beim Umzug mithelfen durfte.

Jeder Klasse fiel eine andere Aufgabe zu. Hier wurden Landkarten säuberlich aufgestapelt, dort physikalische Instrumente fortgetragen. Der Zeichensaal und die Bibliothek mußten geleert, alle Schulbücher und Hefte geordnet und sorgsam verpackt werden. Die Aula und der Turnsaal dienten zur Unterbringung sämtlicher Schulgeräte. Die Lehrer hatten ihre Röcke ausgezogen und schleppten im Schweiße ihres Angesichts wie Ziehleute Tische, Bänke und Pulte fort. Lehrerinnen und Schülerinnen schafften mit heißen Wangen. Wie in einem Ameisenhaufen wimmelte das in eifriger Arbeit durcheinander, ein jedes erfüllte in all dem Gewühl gewissenhaft die ihm zuerteilte Aufgabe.

Die sechste Klasse hatte unter Aufsicht ihrer neuen Ordinaria, Fräulein Konrad, den Klassenschrank ausgeräumt, und die Schülerinnenbibliothek in Waschkörbe gepackt. Dabei geschah es allerdings, daß Ilse Hermann, eine kleine Leseratte, plötzlich in all dem Gewirr, all der Unruhe, ganz vertieft in eine schöne Erzählung war. Mit in die Ohren gestopftem Zeigefinger hockte sie unter all den Vorüberhastenden und hatte gar keine Ahnung mehr, wo sie sich befand.

Annemarie Braun, die gerade ein Pack Bücher vorüberschleppte, gab ihr einen freundschaftlichen Puff, daß der künstliche Turm von Büchern zerbarst und um die ganz verlesene Ilse herniederprasselte: »Du, gefaulenzt wird hier nicht!«

Erschreckt fuhr Ilse auf, während Margot, die Annemarie beim Einsammeln der Flüchtlinge behilflich war, lachend meinte: »Unsere Verwundeten sollen wohl warten, bist du mit deiner Geschichte fertig bist, Ilse?«

Errötend nahm die kleine Leseratte wieder ihre Arbeit auf.

Brrr – war das heiß! Annemaries Gesicht glühte wie ein Plättbolzen, als sie mit ihrer Last treppauf, treppab lief. Aber was tat das – heute empfand keiner irgendwelche Beschwerden.

Einige Pfadfinder trugen die Tische und Bänke aus der sechsten Klasse.

»Vorsehen!« – riefen sie den in die Klasse zurückeilenden Freundinnen zu und – »Hänschen – mein Hänschen!« jubelte es zurück. Zur Belustigung der Mitschülerinnen und Pfadfinder sprang Annemarie Braun auf die Bank, die gerade fortgetragen werden sollte und verabfolgte dem einen Pfadfinder einen Kuß.

»Hänschen – wie kommst du denn hierher?«

Dem Obersekundaner war die Sache, so lieb er sein kleines Schwesterchen auch sonst hatte, äußerst peinlich. Er schielte errötend zu seinen grinsenden Kameraden hin und sagte möglichst militärisch: »Vom Pfadfinderbund zum Dienst befohlen!« Dann machte er mit seiner Bank, daß er fortkam. Nesthäkchen aber war selig über die unvermutete Begegnung.

Margot, als Erste der Klasse, war das Ehrenamt zugefallen, den großen Globus, der nicht viel kleiner war als sie selbst, in Sicherheit zu bringen. Annemarie half ihr getreulich dabei, indem sie neben ihr her trabte und alle paar Sekunden die Hände nach dem glatten runden Ding ausstreckte, um es der Freundin, falls sie ermüdete, abzunehmen. Die aber war äußerst ehrgeizig. Trotzdem ihr die Arme allmählich erlahmten, mochte sie sich nicht schwach zeigen.

»Laß doch«, sagte sie ein wenig gereizt, als Annemarie zum so und sovielten Male wieder ihre Hilfe anbot und machte eine ungeduldige Bewegung. Dabei entglitt die glatte, tückische Weltkugel den müden Mädchenarmen – bumderattada – lag der Globus auf den Steintreppen mit einem tüchtigen Loch.

Margot fing erschreckt an zu weinen, und auch Annemarie machte ein entsetztes Gesicht. Polen war auf der Weltkugel zertrümmert, und Rußland zeigte eine gehörige Beule.

»Du bist schuld, Annemarie – du ganz allein, warum wolltest du auch immer mit anfassen, dann natürlich muß es einem ja aus der Hand rutschen – ach, was wird Fräulein Konrad sagen!« rief Margot unter heißen Tränen.

Annemarie stand starr. Bei ihrer Wahrheitsliebe schmerzte sie die ungerechte Beschuldigung der Freundin aufs tiefste.

»Ich hab’ ja noch gar nicht angefaßt – ich hab’s doch gut gemeint! Aber wenn du so bist, bin ich mit dir schuß auf ewig und gehe von jetzt an immer mit Marianne Davis«, rief Doktors Nesthäkchen kirschrot im Gesicht vor Ärger und fing ebenfalls an zu weinen.

Um die beiden kleinen Streithammel bildete sich sofort ein Auflauf von Neugierigen.

»Na, was gibt’s denn hier?« Professor Herwig, einer der ältesten Lehrer des Lyzeums, lugte über seine Brillengläser hinweg auf die beiden sich gegenüberstehenden heulenden Kinder.

»Der Globus ist heruntergefallen – Polen hat ein Loch bekommen und Rußland eine Beule«, schluchzte Annemarie, denn Margot war so schmerzerfüllt, daß sie keine Auskunft geben konnte.

»Das ist ja eine nette Geschichte!« Der alte Herr Professor griff nach der zertrümmerten Weltkugel. »Na, trocknet nur eure Tränen«, wandte er sich dann lächelnd an die weinenden Kinder. »Die Welt geht jetzt durch den Krieg ja auch in Stücke, was ist diese Weltkugel hier denn besser! Wollen es als eine gute Vorbedeutung für unsere Ostheere ansehen, daß Polen von ihnen erobert wird und Rußland seine Beule wegkriegt – hahaha«, jetzt lachte er dröhnend. Einige Lehrer und Lehrerinnen, die sich inzwischen dazu gefunden, stimmten ein.

Den beiden kleinen Freundinnen aber war noch gar nicht zum Lachen zumute. Unter Tränen griff Doktors Nesthäkchen, da Margot tatenlos ihre in Trümmer gegangene Weltkugel beweinte, nach derselben und transportierte sie weiter. Freundin Margot, das Taschentuch vor den Augen, hinterher.

»Ei, Kinder, was ist denn das hier für ein Leichenbegängnis?« Fräulein Hering hielt die zwei Trauernden an.

Auch sie erfuhr von dem Unglück.

»Wem ist denn das passiert, dir, Annemarie?«

Doktors Nesthäkchen senkte den Blondkopf und gab keine Antwort. Nein, es verpetzte Margot, die einstige beste Freundin nicht! Lieber litt es selbst die Strafe.

Der bisher gesenkte braune Kopf aber hob sich nach heftigem Seelenkampf plötzlich in die Höhe. »Ich habe den Globus hingeworfen«, sagte Margot leise.

»Ich bin aber schuld daran gewesen«, fiel Annemarie lebhaft ein, sie wollte an Edelmut nicht hinter Margot zurückstehen.

»Das ist hübsch von euch, Kinder, daß die eine nichts auf die andere kommen läßt – das ist die wahre Freundschaft!« Freundlich schritt Fräulein Hering weiter, ohne über ihre Ungeschicklichkeit zu schelten.

Die zwei wurden noch röter als rot. Unsicher sahen sie sich an, sie schämten sich des Lobes, das sie doch eigentlich ganz und gar nicht verdient hatten.

War es nun Annemarie oder war es Margot, welche den ersten Schritt zur Versöhnung tat? Das wußten sie nachher alle beide nicht mehr. Aber ihre Hände hielten sich plötzlich wieder gefaßt, und über dem zertrümmerten Polen gaben sich die zwei, die für »ewig schuß« sein wollten, den Versöhnungskuß. Die Rüge von Fräulein Konrad, die in Anbetracht der sich drängenden Arbeit sehr mild ausfiel, trugen sie dann getreulich gemeinsam.

Das wäre ja auch schrecklich gewesen, wenn ein so schönes Werk, wie ihre eifrige Hilfsbereitschaft für die Verwundeten, die beiden Freundinnen entzweit hätte!

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