Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 88
5. Kapitel
Nesthäkchens sechzehnter Geburtstag
ОглавлениеAm Nachmittag füllte sich der Geburtstagstisch noch erheblich. Jede der Kränzchenschwestern wollte Annemarie eine Freude machen. Vera, die Intima, hatte ihr sogar eine Handarbeit verehrt, ein wunderhübsches Sofakissen für ihr Zimmer.
»Ich wünschen dirr Glück für deine ganze Leben, und wenn du liegen auf meine Kissen, du sollst denken, ich kissen dirr.«
»Küssen heißt es aber,« verbesserte Margot gewissenhaft. Margot Thielen stand in ständigem Wettbewerb mit Vera, Annemaries beste Freundin zu sein. Diesmal stach sie dieselbe aber aus. Margot hatte mit großer Handgeschicklichkeit und peinlicher Sauberkeit ein Büchlein in mattrosa Seide mit weißen Lederecken selbst eingebunden und auf den Deckel in weißer Seide gestickt: »Meine Lieblingsgedichte.« Drinnen auf die erste Seite hatte sie mit ihrer schönen, akkuraten Schrift folgenden selbstverfaßten Vers eingeschrieben:
»Was die Dichter einst ersonnen,
Was erfüllet mich mit Wonnen,
Was mir lieb in all den Jahren,
Dieses Büchlein soll’s bewahren.«
»Margot, ist das rührend von dir! Das hast du alles ganz allein gemacht?« Annemarie wußte nicht, was sie zuerst daran bewundern sollte, die hübsche Idee oder die mühselige, gelungene Ausführung. »Seht bloß mal, Kinder – wie geschickt! Du hast mir eine Riesenfreude gemacht, Margotchen!« Ein Riesenkuß besiegelte die Riesenfreude.
»Margotchen« strahlte. Frau Doktor aber zupfte ihr Töchterchen am Ohr: »Nimm dir nur ein Beispiel, Lotte, an diesem Fleiß, dieser peinlichen Sauberkeit und Ausdauer. Kannst du so etwas machen?«
»Nee,« gab Annemarie ehrlich zurück. »Wenigstens würde der weiße Seidendeckel bei mir sicher eine schwarze Farbe bekommen haben, so lange hätte ich daran rumgemurkst. Dafür ist Margot ja auch unser Tugendschäfchen.«
Marlene und Ilse, die Unzertrennlichen, waren auch in ihrer Gabe unzertrennlich. Sie hatten Annemarie zusammen einen Band Storm gebracht.
»Wir haben uns vorgenommen, dir jedes Jahr einen Band dazu zu schenken, bis du den Storm vollständig hast,« erklärte Marlene.
»Wie alt muß ich dazu werden?« erkundigte sich Annemarie vorsichtig.
»Es ist die Ausgabe in vier Bänden. Zu deinem neunzehnten Geburtstag sind wir fertig.«
»Na, das werde ich ja hoffentlich erleben, tausend Dank,« lachte das Geburtstagskind.
»Wenn wir nicht vorher miteinander schuß sind,« meinte Ilse nachdenklich.
»Du scheinst ja nette Absichten zu haben!« – »Ilse beurteilt uns nach sich, weil sie solch kleiner Zankdeibel ist.« – »Ach wo, Ilse ist gar nicht unverträglich, wir zanken uns nie.« Das war natürlich Marlene, die sich ihres zweiten Ichs annahm.
»Wo bleibt denn Marianne? Der Kaffee wird kalt – ach, fangen wir doch ruhig ohne sie an.« Verlangende Mädchenaugen überflogen die einladende Tafel mit den leckeren Kuchenschüsseln.
»Es klingelt« – »das ist sie« – »wenn es Kuchen gibt, kommt unser Mariannchen sicher nicht zu spät,« so schwirrte es lustig durcheinander.
Es war aber nicht die Erwartete, sondern Tante Albertinchen mit den weißen Pudellöckchen. Die war noch viel älter als Großmama und wackelte beim Sprechen schon mit dem Kopf. Und alle die weißen Löckchen wackelten mit. Annemarie war ihr ganz besonderer Liebling. Auch diesmal hatte sie die fleißigen Finger wieder für sie geregt und ihr einen allerliebsten weißen Mullpompadour mit Valenciennespitzen gearbeitet. »Für die weißen Sommerkleider, wenn ihr Sonntags ins Freie fahrt, Annemiechen,« erklärte sie.
»Ja, und für die Tanzstunde im Winter! Ach, Tante Albertinchen, ist der Pompadour süß. Kein bißchen altmodisch.« Annemarie zerquetschte die zierliche kleine Tante in ihrer Begeisterung.
»Warum sollte er denn altmodisch sein?« verwunderte sich Tante Albertinchen und zupfte ihr in Unordnung geratenes Spitzentuch wieder zurecht.
»Na, weil du doch selbst so – – –« Annemarie stockte plötzlich und wurde rot. »Weil du selbst doch schon alt bist,« vollendete sie dann erleichtert. Da hätte sie doch bei einem Haar gesagt, »weil du selbst so altmodisch bist«. Aber das wäre ein schlechter Dank für Tante Albertinchens liebevolles Geschenk gewesen.
Der große Napfkuchen war beinahe aufgefuttert, und auch die Streuseltorte näherte sich ihrem Ende! Und immer noch fehlte Mariannes rundes Gesicht mit dem braunen Zopfkranz im Kreise der Freundinnen.
»Ich werde mal bei ihr anläuten, was los ist!« Das Geburtstagskind lief zum Telephon. Aber bevor sie noch Anschluß hatte, was mal wieder eine kleine Ewigkeit dauerte, erschien Marianne Davis in höchsteigener Person. Ein wenig abgehetzt, ein wenig verlegen und ein wenig verweint.
»Was hat’s denn gegeben« – »warum kommst du denn so spät« – »au weh, da scheint es was gesetzt zu haben« – »war es wegen der Zensur?« so bestürmte man die Nachzüglerin.
Aber Marianne schüttelte auf alle Fragen verlegen den Kopf.
»Ich habe mich nur verspätet,« stotterte sie.
»Das haben wir gemerkt. Aber weshalb denn, hast du was ausgefressen?« Annemarie war ziemlich neugierig.
»Laß doch die Marianne in Ruhe, die hat viel nachzuholen,« legte sich Frau Doktor Braun ins Mittel. »Komm, setz’ dich hierher, Kind. Lotte, du sorgst für sie.«
Das ließ sich Marianne nicht zweimal sagen. Sie stürzte sich auf Kaffee und Kuchen, als ob sie all ihren Schmerz darin versenken wollte. Annemarie legte ihr immer von neuem auf, als könnte sie dadurch ihre taktlose Frage von vorhin wieder gut machen. Allmählich bei der erheiternden Beschäftigung des Kuchenessens hob sich Mariannes gesunkener Lebensmut etwas. Als die Schokoladentorte ihr entgegenlachte, da lachte auch sie wieder.
»Annemie, ich habe ja ganz vergessen, dir dein Geschenk zu überreichen – da – ich glaube, damit macht man einem jetzt die größte Freude.« Marianne beurteilte die Freundin nach sich selbst. Aber sie irrte sich nicht. Annemarie, das Naschkätzchen, freute sich sehr über den Kasten Konfekt.
»Danke vielmals – fein ist das Konfekt!« Ein Kuß erfolgte. Aber gleich darauf hielt sich Annemarie, das Naturkind, die Nase zu. »Puh, wie riechst du denn? Wie eine gesengte Gans!«
»Haach – du hast dir ja ein großes Loch in deine Haare gesengt, bist du dem Herdfeuer zu nahe gekommen?« Ilse hatte scharfe Augen.
Bis zu dem Loch in dem glatten Braunhaar wurde die Marianne rot vor all den neugierigen Augen, deren Zielscheibe sie plötzlich war.
»Na, dann will ich’s nur lieber sagen.« Ein schneller Blick ins Nebenzimmer, wohin die Damen sich inzwischen zurückgezogen hatten. Die waren im eifrigen Gespräch über das Streuseltortenrezept und hörten nichts. »Also ich wollte heute zum Geburtstagskaffee gern auch so krauses Haar haben wie Annemie. Und – und da habe ich es mir heimlich mit der Tollschere, die zum Plätten benutzt wird, gebrannt.«
Lautes Lachen verhinderte Marianne am Weitersprechen.
»Ach Gott, ist das komisch« – »den ganzen Schopf hast du dir herausgebrannt« – »Annemarie hat doch von Natur krauses Haar« – so ging es über die arme Marianne her. »Du sehen aus wie eine gescherrte Pudel.« Vera lachte am meisten.
»Ja, und Muttchen war schrecklich böse darüber, ich sollte zur Strafe nicht gehen. Nur weil Vater für mich gebeten hat, bin ich schließlich doch noch gekommen.«
Der letzte Bissen Schokoladentorte verschwand zwischen den frischen Lippen. Marianne hatte jetzt wirklich ihr Möglichstes getan und alles nachgeholt.
»Ich sollte erst auch nicht kommen,« berichtete Marlene. »Mein Vater meinte, es wäre möglich, daß es wieder zum Streik kommt. Diesmal sollen es die Elektrizitätswerke sein. Aber weil Ilse ging, durfte ich auch.«
»Meine Onkel hat gesprrechen auch von es, aberr err sagen, das werrden gemacht vorrherr viel mehrr schlimmer, als es werrden nachher,« schloß sich Vera an.
»Ach, Kinder, laßt doch die dummen Streikgeschichten, was gehen die uns denn an,« rief Ilse. Die blonde Ilse ahnte nicht, wie bald sie diese »dummen Geschichten« etwas angehen sollten.
»Ja, wir wollen lieber Gesellschaftsspiele zum Raten spielen,« schlug Marlene vor.
»Au ja – fein – Muttchen, Großmama und Tante Albertine müssen auch mitspielen.« Die ganze Gesellschaft stürmte ins Nebenzimmer. Auch Klaus, der es eigentlich unter seiner Würde hielt, außer bei den Fütterungen sich an Mädchengesellschaften zu beteiligen, erschien auf der Bildfläche. Das ausgelassene Lachen zog ihn herbei.
Man spielte »Teekessel«. Zwei der Gesellschaft hatten sich draußen ein Wort, das verschiedene Bedeutungen hatte, überlegt. Nun mußten sie sich in die Mitte des Kreises auf den Teppich setzen und über das Wort sprechen, indem sie immer »mein Teekessel« statt des betreffenden Wortes sagten. Wer das Wort erraten hatte, durfte es nicht sagen, sondern mußte sich dazu setzen und auch von seinem Teekessel mitsprechen. Bis die ganze Gesellschaft unten auf der Erde saß. Das gab natürlich viel Stoff zum Lachen.
Margot und Annemarie hatten das Wort Atlas genommen.
»Mein Teekessel knistert« – »mein Teekessel ist hoch bis an den Himmel« – »meins gebraucht man in der Schule.« – Bums, da saß Marlene bereits bei den beiden und redete mit: »Mein Teekessel ist jetzt sehr teuer geworden – meiner ist mit Schnee bedeckt – – –«
»Ich hab’s,« meldete sich Tante Albertinchen und vor stolzer Freude begannen die Pudellocken wie Glöckchen hin und her zu schwingen. »Ich hab’s, es ist – – –«
»Nicht sagen – nicht sagen – du mußt dich auf die Erde setzen und mitreden, Tante Albertinchen,« unterbrach sie Annemarie aufgeregt.
»Auf die Erde setzen – nein, mein Kind, dazu bin ich schon zu steif,« wehrte sich die alte Tante. »Und dann, ich halte ja deine Mutter für eine sehr saubere Hausfrau, aber mit meinem guten Schwarzseidenen möchte ich mich doch nicht auf den Teppich setzen.« Die Pudellocken schüttelten sich energisch.
Aber alles Schütteln hals ihnen nichts Annemaries Überredungskunst gegenüber. »Wer mitspielt, muß auf der Erde sitzen, Tante Albertinchen – wir legen dir ein Kissen für dein Schwarzseidenes unter – es ist so gemütlich hier unten, komm’ nur,« erklang es bittend.
Unter Lachen wurde ein Kissen herbeigeholt und das alte Tantchen nebst dem Schwarzseidenen, allen Schwierigkeiten ungeachtet, von Klaus in die Unterwelt verladen.
»Na, bequem sitzt man hier gerade nicht,« sagte sie, einen wehmütigen Blick zu ihrem leeren Stuhl hinaufsendend.
»Du mußt mitreden – wie ist dein Teekessel, Tante Albertinchen?«
»Mein Teekessel ist mit Musik und Tanz – – –«
»Musik und Tanz, das stimmt nicht – – –«
»Doch – doch – Tante meint den Atlas als Ballkleid,« flüsterte Annemarie Marlene ins Ohr. »Wie ist dein Teekessel noch, Tantchen?«
»Er springt, ist rund und ein beliebtes Kinderspielzeug – – –«
»Nee, das ist nicht richtig, rund und Kinderspielzeug – –« Die drei Freundinnen auf der Erde sahen sich verblüfft an. »Sag’ mir’s mal leise, Tante Albertinchen, welches Wort du denkst,« verlangte Annemarie.
Tante Albertinchen neigte sich zu ihrem Liebling, daß die Pudellöckchen Annemarie an ihrer rosigen Ohrmuschel krabbelten und flüsterte so leise, daß die Umsitzenden es rings verstanden: »Ball«.
»Falsch – ganz falsch – – –«
»Tante Albertinchen muß wieder zurück!« Lebhafter Tumult erhob sich.
»Ach, laßt mich nur hier unten bleiben, Kinderchen,« beschwichtigte sie die alte Dame, die das Beharrungsgesetz liebte und sich inzwischen auf ihrem Kissen drunten ganz gemütlich eingerichtet hatte. »Ich werde es ja doch bald raten und dann muß ich die Reise noch mal antreten.«
»Das geht nicht« – »ausgeschlossen« – »nur wer es erraten hat, darf unten sitzen!« Voll Spieleifer erklang von allen Seiten Widerspruch.
Arme Tante Albertinchen! Das war noch ein schwereres Stück, sie wieder auf ihren Platz zurückzubefördern, als vorhin die Reise zum Fußboden hinab. Zwei mußten an jeder Hand ziehen, zwei von hinten nachhelfen, so gelang es allmählich, das steifknochige Tantchen wieder auf ihre Füße zu stellen. Gab das ein Lachen und Juchhei.
Der Fußboden bevölkerte sich allmählich. Einer nach dem andern wanderte hinunter. Selbst Großmama hatte zu Annemaries Freude dort unten Platz nehmen müssen. Großmama war niemals Spielverderberin und verstand es, mit der Jugend jung zu sein. Nur Tante Albertinchen und Vera thronten noch auf einsamer Höhe. Letztere beherrschte die deutsche Sprache nicht genügend, um die verschiedenen Bedeutungen desselben Wortes zu erraten.
»Mein Teekessel wird viel zum Brautkleid verarbeitet,« sagte Mutter, die es den beiden erleichtern wollte.
»Ach, nun haben sie’s bestimmt – das gilt nicht, daß man es so leicht macht,« regte sich das Töchterchen auf.
Wirklich, nun hatte es Tante Albertinchen. »Aber noch mal gehe ich nicht in die Versenkung,« erklärte sie.
»Doch – du mußt die Spielregeln innehalten, nur wer zuletzt übrig ist, kann oben bleiben – komm nur, dein Kissen ist noch frei.«
Tante Albertinchen hätte nicht das gute alte Tantchen sein müssen, wenn sie ihrem Liebling etwas hätte jemals abschlagen können. Die zweite Auflage erfolgte. Von vielen hilfsbereiten Händen wurde Tante Albertinchen zum zweitenmal dort unten verstaut.
»Halb zog sie ihn, halb sank er hin,« zitierte Großmama, die sich ebenso belustigte wie die jungen Mädel.
»So, Vera, nun nimm mal all deinen Grips zusammen. Was ist das?« Annemarie tat die Busenfreundin leid. »Meinen Teekessel braucht man in der Geographiestunde.«
»Derr Seidlitz.«
»Quatsch, das Geographiebuch meine ich nicht. Was braucht man denn noch in der Erdkunde?«
»Das Landkarrte.« Vera amüsierte sich gottvoll.
»Menschenskind, ist das in deinem Kopf düster – – –« Jäh verstummte Annemarie.
»Nanu?« machten sie alle.
Denn plötzlich war es nicht nur in Veras Kopf »duster«, sondern auch in dem Zimmer. Das elektrische Licht, das sanft von der Decke herabstrahlte, war verlöscht.
»Sicher Kurzschluß« – »irgendwas in der Leitung entzwei« – »Vater bringt es schon wieder in Ordnung,« so erklang es unter ausgelassenem Lachen vom Fußboden, wo die ganze Gesellschaft im Dunkeln hockte.
»Du, Margot, bist du das« – »wer drängelt hier denn so« – »ach, Kinder, ich graule mich tot im Dunkeln« – »au, Klaus kneift.« Die Mädels waren ganz aus dem Häuschen. Sie hielten die ganze Sache für einen Spaß. Doch bald sollte es Ernst werden.
»Ach, wär’ ich nur oben geblieben – wär’ ich nur oben geblieben,« jammerte Tante Albertinchen, und Großmama scherzte: »Kinder, ich finde hier meine Beine nicht wieder heraus.«
»Ein jeder suche die seinigen.« Wieder begann ein übermütiges Greifen und Juchzen, ein Gewirr von Beinen und Händen.
»Ruf’ den Vater, Klaus,« ordnete die Mutter an. Da hörte man bereits Doktor Brauns Stimme von der Tür: »Kinder, was macht ihr denn hier für einen Radau im Finstern? Man kann ja mit seiner Stimme gar nicht durchdringen. Das elektrische Licht scheint in der ganzen Wohnung zu versagen. Ich habe einen Patienten gerade zur Untersuchung vor. Ich kann ihn unmöglich da im Dunkeln liegen lassen. Du mußt für Beleuchtung sorgen, Elsbeth. Irgendwo steht noch eine Karbidlampe aus dem Felde.«
Wieder erfolgte eine Lachsalve der ausgelassenen Backfische, die es zu komisch fanden, daß der Patient im Stockfinstern drin auf dem Untersuchungssofa liegen mußte.
Dazwischen rief Hanne erbost von der Küche herein: »Jnädige Frau, ich sitze mittenmang in’n Heringssalat – is das jetzt ’ne Zucht!« Das kleine Hausmädchen meinte: »Nu geht die Welt unter – mit Düsternis soll’s immer anfangen.« Und Tante Albertinchen lamentierte: »Wenn ich doch bloß erst wieder auf meinem Stuhl säße!« Die Mädels aber quiekten und johlten. Ein unsagbares Durcheinander.
Frau Doktor Braun und ihre Mutter versuchten mit aller Energie das Wirrwarr zu durchdringen.
»Ruhe, Mädels, jetzt seid mal still und helft mir. Hanne, lassen Sie Ihren Heringssalat und stecken Sie die Küchenlampe an, da muß noch Petroleum drauf sein. Heulen Sie nicht, Minna, so schnell geht die Welt nicht unter. Holen Sie lieber die Karbidlampe.« Ruhig und sachlich gab Frau Doktor Braun ihre Anordnungen.
»Ich kann ja nichts sehen, ich finde ja die Karbidlampe nicht, wo es so stockduster is,« heulte das Hausmädchen.
Da blitzte plötzlich Licht in der schwarzen Finsternis auf. Zwar nur ein winziges, aber es wurde doch immerhin ein wenig hell.
»Und es ward Licht!« schmetterte der Mädchenchor aus der Haydenschen Schöpfung.
Klaus war auf den guten Gedanken gekommen, seine Taschenlaterne herbeizuholen.
Wie ein Glühwürmchen flog er jetzt von Zimmer zu Zimmer, leuchtete mit seinem Zitterschein Vaters Patient, daß er wieder in seine Kleider kam, der schimpfenden Hanne, daß sie die Küchenlampe anzünden konnte, dem heulenden Hausmädchen und der jammernden Tante Albertinchen, damit letztere wieder festen Fuß auf der Erdoberfläche fassen konnte.
Nicht lange dauerte es, da war alles wieder in schönster Ordnung. In Vaters Zimmer verbreitete die Karbidlampe zwar keine Helligkeit, aber dafür einen um so durchdringenderen Duft. Im Wohnzimmer blakte und rauchte die altmodische Stehlampe, die längst ausrangiert war und deren sich Großmama plötzlich wieder in der Not erinnert hatte, wie ein Schornstein. Draußen in der Küche aber räsonierte Hanne: »Bei die feenhafte Beleuchtung kann kein Mensch nich’n Heringssalat jarnieren.« Dabei brannte ihre Küchenlampe noch am besten.
Allmählich beruhigten sich auch die Gemüter, die Fluten der Erregung ebbten ab. Doktor Braun bastelte an der elektrischen Hauptleitung herum unter Assistenz seines Sohnes Klaus. Die jungen Mädchen wollten eben trotz des mangelhaften Lichtes ein neues Gesellschaftsspiel vornehmen, da wurden sie wieder jäh aus ihrem seelischen Gleichmaß herausgeschleudert.
»Das Elektrische versagt im janzen Haus, allenthalben sitzen se im Dustern – se sollen streiken,« verkündete Hanne mit lauter Stimme.
»Also doch! Dann hat meine Arbeit hier keinen Zweck, wenn der Strom von den Elektrizitätswerken fehlt.« Doktor Braun eilte ans Fenster. Die ganze Gesellschaft folgte.
»Ich grraulen mirr.« Vera umfaßte Annemarie.
Pechschwarz lag die Straße da. Keine Bogenlampe sandte ihren sanft milchigen Schein wie sonst herab. Keine Gaslaterne brannte. Keine Lichtflut ergoß sich aus den Geschäften. Die Fensteraugen der Häuser starrten blind und tot in das undurchdringliche Schwarz. Nur hier und da blinzelt eine flackernde Kerze aus einer Wohnung trübselig in die Nacht hinaus.
»Die Gaswerke scheinen auch zu streiken – – –«
»Allemal,« schrie Hanne wütend dazwischen – »möchte wissen, wo ich heute das Teewasser machen soll.«
»Hu, ist das ungemütlich.« Ilse schmiegte sich an Marlene.
»Gut, daß ich hier im Hause wohne und nicht auf die dunkle Straße zu gehen brauche, in solcher Finsternis kann man überfallen und ausgeraubt werden,« frohlockte Margot menschenfreundlich.
Den anderen wurde bei der Aussicht etwas unbehaglich zumute. Marlene zeigte sich wieder als Verständigste.
»Ich glaube, es ist besser, wir fahren bald nach Hause. Unsere Eltern sorgen sich am Ende,« schlug sie vor, trotzdem es ihr schwer wurde, Annemaries Geburtstagsfeier frühzeitig zu verlassen.
»Fahren – womit denn? Es geht ja keine Elektrische, wenn’s keinen Strom gibt.« Klaus brachte erst den Frieden.
Himmel – was nun? In der Tat, keine elektrische Bahn bimmelte die Straße entlang. Es war, als ob die sonst so lärmende Großstadt plötzlich ausgestorben wäre. Unwillkürlich legte sich einem diese ungewohnte Stille beklemmend auf die Brust.
»Ja, das hilft nichts, nach Hause müssen wir. Dann müssen wir mit der Stadtbahn fahren, die geht,« erklärte Marlene.
»Aber da müssen wir noch solch Ende vom Bahnhof laufen, und wenn die Straßen so pechrabenschwarz sind –« Ilse machte ängstliche Augen in Erinnerung an Margots Raubüberfälle.
»Nein, Kinder, ich lasse euch keinesfalls in der Dunkelheit allein gehen,« erhob Frau Doktor zu Ilses Erleichterung Einspruch. »Telephoniert nach Haus, daß man euch um neun Uhr vom Bahnhof Alexanderplatz abholt. Dann könnt ihr noch mit uns Abendbrot essen.«
»Au ja – fein!« Die beiden Cousinen eilten ans Telephon.
Inzwischen regte sich Tante Albertinchen so sehr auf, daß ihre Pudellöckchen überhaupt nicht mehr zur Ruhe kamen.
»Ach Gott – du mein Gott, was mache ich denn nun bloß? Ich fahre doch sonst mit der Elektrischen von Tür zu Tür. Stadtbahn kommt für mich nicht in Betracht.«
»Fahre doch Hochbahn, Tante Albertinchen,« schlug das Geburtstagskind vor.
»Idiotenhäuptling! Die Hochbahn wird doch auch durch Elektrizität getrieben.« Trotz des Geburtstages hielt Klaus mit seiner brüderlichen Liebkosung nicht zurück.
»Dann bleibst du eben bei uns über Nacht!« Doktors Nesthäkchen war niemals um einen Ausweg verlegen.
Aber auch dagegen sträubten sich Tante Albertinchens Pudellöckchen energisch. »Wo denkst du hin, Kind, wie werde ich euch die Wirtschaft machen. Und ich muß auch meine gewohnte Ordnung haben.«
»Na, darüber läßt sich ja noch reden,« mischte sich Großmama hinein. »Bei mir kannst du gut übernachten, Albertine. Es steht immer ein Fremdenbett bei mir bereit, weil alle Verwandten von außerhalb von jeher bei mir absteigen.«
»Ja, und Großmama wohnt nahe, da bringt euch Klaus nachher nach Hause,« pflichtete Annemarie bei.
Doch auch davon wollte Tante Albertinchen nichts wissen. Sie hatte keine Nachtjacke bei sich und keine Zahnbürste und keine Lockenwickler. Nein – es ging wirklich nicht!
Inzwischen rissen Marlene und Ilse unter vereinten Kräften das Telephon beinahe ab. Sie knipsten an dem Seitenhaken, sie rissen wütend an der Leitungsschnur, ja, Ilse bumberte sogar gegen den Telephonkasten. Aber das half den ungeduldigen jungen Damen alles nichts. Sie bekamen keinen Anschluß.
Doktor Braun, der von dem Besuch bei einem Patienten in der Nachbarschaft zurückkehrte, sah belustigt die vergeblichen Anstrengungen der beiden.
»Ja, Kinder, da werdet ihr euch wohl gedulden müssen, bis der Streik der Elektrizitätswerke zu Ende ist. Das Telephon streikt ebenfalls.«
Darauf waren die Schlauköpfchen noch nicht gekommen.
»Was machen wir denn jetzt bloß, Marlenchen?« Ilse weinte fast vor Ausregung. »Unsere Eltern werden sich mächtig um uns sorgen.«
Marlene nickte stumm. Sie wußte keinen Ausweg.
»Aber, Kinder, laßt euch doch deshalb bloß keine grauen Haare wachsen. Ihr bleibt einfach alle bei uns. Vera kann bei mir schlafen, Marianne im Eßzimmer, Marlene hier im Wohnzimmer und Ilse im Sprechzimmer. Da muß sie allerdings morgens früh heraus – fein geht’s!« Annemarie schaffte sogleich Rat.
»Ein paar können mit zu mir hinüberkommen,« meldete sich auch Margot.
»Na also! Dann wollen wir doch ruhig weiterspielen. Schlagt was vor!« Annemaries leichtes Temperament war trotz Petroleumdunst und Dunkelheit wieder obenauf.
»Aber Annemie, wo denkst du hin! Wir können doch nicht einfach fortbleiben und unsere Eltern im Ungewissen lassen, wo wir sind. Wir müssen unbedingt nach Haus.« Marlene griff bereits nach ihrem Matrosenhut.
»Ihr werdet sicher abgeholt werden, bleibt doch noch.« Annemarie machte ein unglückliches Gesicht, daß die Geburtstagsfeier so schnell abgebrochen werden sollte.
»Bei uns ist Wäsche. Das Mädchen kann heute abend nicht mehr den weiten Weg nach Charlottenburg herauskommen.« Trotzdem Ilse Hermann brennend gern geblieben wäre, zog sie ebenfalls, wenn auch zögernd, den Mantel an.
»Ja, Kinderchen, was machen wir da bloß?« Frau Doktor sah sorgenvoll drein.
»Ich begleite Marlene und Ilse bis nach Haus.« Klaus konnte wirklich manchmal nett sein. »Und Marianne kann ich auch gleich dabei abladen, das ist kein großer Umweg.«
Marianne fand diese Hilfsbereitschaft von Klaus nun weniger nett. Besonders im Hinblick auf den Heringssalat zum Abendbrot.
»Ach, ich werde bestimmt abgeholt. Ich wohne ja nicht so weit,« versicherte sie.
»Sag’ mal, Ernst, gehen denn keine ärztlichen Gespräche durch?« wandte sich Frau Doktor Braun an ihren Mann. »Dann könnte man Marlenes oder Ilses Eltern vielleicht verblümt davon benachrichtigen, daß sie an der Stadtbahn erwartet werden.« Der Mutter war es unbehaglich, selbst den unternehmungslustigen Primaner in die Finsternis hinauszulassen.
»Man kann’s versuchen. Ärztliche Gespräche müssen erledigt werden, wenn auch der Privatverkehr gesperrt ist.«
»Aber das Amt hat sich doch gar nicht gemeldet.« Marlene stand wie auf Kohlen.
»Vielleicht hat es sanft geschlafen.« Wirklich, als Doktor Braun den Hörer abnahm, meldete sich nach einem Weilchen Amt Steinplatz.
»Ärztliches Gespräch nach Alexander,« verlangte er. Und als er mit dem Anwaltsbureau von Marlenes Vater verbunden war, teilte er kurz mit: »Hier Doktor Braun. Bestellen Sie, bitte, daß die Patientin Marlene Ulrich, die augenblicklich in meiner Sprechstunde ist, um 9 Uhr vom Bahnhof Alexanderplatz abgeholt werden soll.«
Die Patientin Marlene Ulrich lachte wie ein Kobold über das gelungene Telephongespräch. Auch Ilse, die nur ein paar Häuser von der Cousine entfernt wohnte, strahlte, daß sie den Mantel wieder ausziehen konnte. Am meisten aber freute sich Marianne, daß sie von Klaus nicht gleich mit abgeladen wurde.
»Meine Onkel und Tante werrden kommen, mirr zu holen,« meinte Vera Burkhard ganz unbesorgt.
»Hoffentlich nicht, daß du wenigstens bei mir schlafen kannst.« Am liebsten hätte Annemarie dem ganzen Kränzchen Obdach gewährt.
Man ging wieder daran, das unterbrochene Spiel aufzunehmen. Aber die rechte Ruhe fehlte dazu. Bald lief die eine ans Fenster, ob schon wieder Licht brannte oder Bahnen gingen, bald die andere zur Eingangstür mit der Behauptung, es hätte geklopft. Denn auch die elektrische Klingel versagte.
Das Abendbrot bei der »Tranfunzel« wurde noch höchst fidel. Was kümmerte die glückliche Jugend die ernste Streiklage und ihre einschneidenden Folgen auf das wirtschaftliche Leben, welche die Erwachsenen still und besorgt machte. Das lachte, schwatzte und scherzte, ließ sich trotz der »feenhaften Beleuchtung« Hannes schön mit eingelegten Früchten garnierten Heringssalat munden und aß sich in der Dunkelheit ausgelassen gegenseitig die mitgebrachten Butterbrote fort. Denn für soviel hungrige Mäuler langte Doktor Brauns Brot nicht. Die kamen bei Klaus’ und Nesthäkchens gesundem Appetit sowieso kaum mit ihrer Wochenration aus.
Die einzige, der es nicht so recht schmeckte, war Tante Albertinchen. Die konnte es nicht verwinden, daß sie heute nicht ihre gewohnte Ordnung haben sollte, und ohne ihre eigene Nachtjacke und ohne Lockenwickler zu Bette gehen mußte. »Wie können die jungen Mädchen nur so sorglos sein wegen ihres Heimkommens,« meinte sie kopfschüttelnd und ihre Pudellöckchen bekräftigten ihre Ansicht.
»Das Telephon – das Telephon geht!« Die Mädel schrien, als sei dies das größte Weltwunder. Dabei stand bei Brauns das Telephon für gewöhnlich nicht still.
»Ihr braucht euch nicht aufzuregen, Kinder – irgendein Patient – – –«
Es war aber der Vater von Marianne, ein Kollege von Doktor Braun, der ebenso schlau war wie dieser. Er teilte ärztlich mit, die Patientin würde abgeholt werden.
Keiner war glücklicher als Marianne. Aus Freude lud sie sich noch mal einen niedlichen Berg Heringssalat auf.
Die Jugend behielt recht mit ihrer Sorglosigkeit trotz Tante Albertinchens Kopfschütteln. Jede von ihnen kam sicher nach Hause. Vera wurde sogar von Onkel und Tante, die mit der Familie Braun befreundet waren, persönlich abgeholt.
»Schade, Lotte, daß dein Geburtstag durch die dumme Streikgeschichte so beeinträchtigt wurde,« meinte die Mutter beim Gutenachtsagen, als ihr Nesthäkchen sich nochmals für alles bedankte.
»Beeinträchtigt – aber das war doch gerade fein, Muttchen. Das war doch mal was Besonderes. Gesellschaftsspiele und Torte gibt’s bei jedem Geburtstag. Aber im Stockdunkeln haben wir noch nirgends gesessen. So haben wir noch nirgends gelacht wie heute.«
Glückliche Backfischzeit!