Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 101

4. Kapitel
Das erste Kolleg

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Inhaltsverzeichnis

So leicht war es nicht, eine passende Wohnung ausfindig zu machen. Trotz des Verzeichnisses, das die drei Freundinnen in der Universität von den zur Vermietung gemeldeten Zimmern erhalten hatten. Das lag nicht an den Wohnungen, sondern an den drei verschiedenen Köpfen, von denen jeder etwas anderes wollte.

Marlene Ulrich richtete ihr Hauptaugenmerk auf das Praktische. Das Zimmer sollte groß und luftig sein, sauber möbliert und nicht zu teuer. Auch mußte man die Möglichkeit haben, sich abends etwas kochen zu können. Ilse Hermann wünschte vor allem eine Aussicht auf das bunte Gewirr der alten Giebelhäuser, Gäßchen und Straßentreppen, durch welche Tübingen ein so malerisches, mittelalterliches Bild bot, das sie immer aufs neue entzückte. Annemarie dagegen wollte gerade das Entgegengesetzte: Den Blick ins Freie, auf grüne Wiesen, auf die sanftgewellte Bergkette der Schwäbischen Alb, und vor allem ins Neckartal. Darin aber wenigstens waren sie sich alle drei einig, daß es nur ein dreibettiges, gemeinsames Zimmer sein durfte.

Das fand man nicht alles beisammen.

Nach vielem Umherlaufen, treppauf, treppab, wählte man schließlich das geeignetste. Zwei nette »durcheinanderlaufende« Zimmer, wie die freundliche Wirtin sie den jungen Studentinnen anpries. Alles war passend, sauber und den Geldbeutel nicht allzu sehr schmälernd. Ein malerisches Fachwerkhäuslein, von wildem Wein umklettert, für das Ilse sofort eingenommen war. Aus dem zweifenstrigen Zimmer genoß man den Blick auf die altersgraue Burg Hohentübingen mit ihren gewaltigen Quadermauern, Türmen und Zinnen. Das danebenliegende einfenstrige Zimmer ging nach der anderen Seite hinaus, in das Burggärtchen, vom Silberband des Neckars umschlungen. So ergab es sich ganz von selbst, daß die beiden Cousinen das große Zimmer bezogen, und Annemarie das kleine mit dem Neckarausblick. Und schon am ersten Tage meinte Doktors Nesthäkchen mit seinem glücklichen Temperament, an allem etwas Gutes herauszufinden, daß es eigentlich viel besser sei, daß sie nicht alle drei in einem Zimmer hausten. Marlene war ihr nämlich zu ordentlich, oder, wie Annemarie es ausdrückte, zu »pedantisch«. So konnte sie wenigstens unbekümmert ihre Siebensachen auspacken und einräumen, wie es ihr beliebte, ohne von der »Gouvernante Marlene« dabei kontrolliert zu werden. Während Marlene ihre mit rosa Bändchen gebundene Wäsche, wie mit dem Zirkel abgemessen, in die Kommodenkästen fein säuberlich schichtete, und Ilse, die eigentlich von Natur aus etwas liederlich war, sich redlich Mühe gab, es ihrem Vorbild nachzutun, war Annemarie längst mit allem fix und fertig. Am Fenster stand sie und schaute lachend in das Gärtchen hinab, in dem zwei allerliebste Kinder, ein braunlockiger Bub und ein flachshaariges Dirnlein, sich gerade tapfer verprügelten.

»Still bischt!« rief das vielleicht um zwei Jahre ältere Mädel und hielt dem schreienden kleinen Bruder energisch den weit aufgerissenen Mund zu.

»Garscht’ges Mädle, wart’, ich sag’s dem Mutterli«, heulte der Kleine, kaum daß er wieder Atem schöpfen konnte.

Verschmitzt griff die junge Horcherin oben am weinumrankten Fenster nach ihrem Täschchen, und hui – da ging ein Bonbonregen auf die erschreckt innehaltenden kleinen Kämpfer herab.

»Lueg, Vronli, ‘sch regnet Zuckerle.« Mit hellem Jubellaut erwachte der Bub aus seiner Erstarrung. Der süße Regen wurde in der Mütze, den Händchen und dem Schürzchen jauchzend aufgefangen.

»Kaschperle, das musch der heilige Nikolaus gewesche sein.« Ein wenig scheu blickte die größere Schwester zum Himmel empor, aus dem es plötzlich »Zuckerle« regnete.

Droben am Fenster, verborgen von den Weinranken, stand der heilige Nikolaus und lachte wie ein Kobold.

Die Freundinnen kamen verwundert aus dem Nebenzimmer herbei. »Annemie, was gibt es denn?« Neugierig spähten sie ihr über die Schulter in das Gärtchen hinab. Dort saß ein brauner Bub und ein flachshaariges Dirnlein, in seliger Gemeinschaft Bonbons lutschend. Aller Streit, aller Hader war vergessen.

»Dasch ischt dasch Vronli und dasch Kaschperle, unsere Wirtschkinder. Und hier stell’ ich euch den heiligen Nikolausch vor, der Zuckerle regne lascht.« Doktors ausgelassenes Nesthäkchen sprach, seitdem es in Schwaben war, nur noch in Schschlauten, selbst da, wo der schwäbische Dialekt es gar nicht erforderte.

»Annemarie, was stellst du auf – bist du denn überhaupt schon mit Auspacken und Einräumen fertig?« Marlene blickte erstaunt auf den leeren Koffer.

»Ischt schon alles auf’sch beschte erledigt«, behauptete Annemarie stolz.

»Wenn du noch irgendwo ein Plätzchen übrig hast, darf ich dir ein Paar Stiefel in Pension geben, Annemarie?« fragte Ilse. »Wir sind mit unserm Platz ziemlich beschränkt.«

»Beschränkt seid ihr – o weh – und mit solchen Mädels muß ich zusammen hausen. Aber gebt nur her, was ihr nicht unterbringen könnt.« Bereitwillig öffnete Annemarie Kästen, Schübe und Schrank. »Hier ist noch massenhaft Platz – bei mir kann Schutt abgeladen werden.«

»Ja, so sieht es hier auch aus!« entfuhr es Marlene entsetzt. »Um’s Himmels willen, Annemie, das nennst du Ordnung? In deinen Kästen liegt ja alles wie Kraut und Rüben durcheinander, als ob ein Erdbeben stattgefunden hat.«

»Ach, und die Bücher liegen auf den dünnen weißen Blusen, hier hat sich ein Halbschuh in den Kleiderschrank verlaufen – hahaha, und deine Hüte hast du sogar in den Stiefelschrank gesperrt.« Selbst der Ilse kam das Durcheinander denn doch zu bunt vor.

»Das versteht ihr nicht, Kinder. Genialität vermag euer hausbackener Sinn nicht zu fassen. Studentinnen müssen Schneid haben und dürfen keine ledernen Philister sein. Das gehört nun mal zum freien Studentenleben.« Unbekümmert schwang sich Annemarie auf den Tisch und sah mit baumelnden Füßen und eingeschlagenen Armen zu, wie Marlene sachgemäß in das Chaos eingriff, um einigermaßen Ordnung hineinzubringen.

»Heilige Ordnung, segensreiche Himmelstochter, die das Gleiche frei und leicht und freudig bindet« – deklamierte Doktors Nesthäkchen von seinem erhöhten Platz herab voller Pathos, auf die Wäsche zusammenbindende Freundin weisend. »Uns trennt sie, die segensreiche Himmelstochter. Ich bin glücklich, daß ich nicht dein Zimmergenosse bin, Marlene, sondern dich jederzeit, wenn mir dein Ordnungssinn zu sehr ausartet, an die Luft setzen kann.«

Die Freundin nahm diese wenig gastfreundlichen Worte nicht weiter übel.

»Vorläufig artet deine Liederlichkeit aus, Annemie. Deine Mutter hat mir ihr Küken auf die Seele gebunden –.«

»Nur wegen meiner Unbedachtsamkeit, von Ordnung war nicht die Rede.«

»Ja, glaubst du, daß es deiner Mutter hier in deiner Räuberhöhle gefallen würde, Annemie?« mischte sich jetzt auch Ilse, die inzwischen die Hüte von den Stiefeln gesondert hatte, in die Verhandlung.

»Nee, ganz gewiß nicht«, gab Annemarie ehrlich zu. »Schaudern würde es sie. Aber sie kennt auch keine Studentenbuden. Bei den Jünglingen sieht es sicher nicht besser aus. Im Gegenteil, da kommt noch die Tabakspfeife, das Rapier und das Zerevis dazu.«

»Wir bleiben Mädchen, ob wir nun studieren oder nicht, unsere Weiblichkeit darf darunter nicht leiden«, sagte Marlene ernster.

»Die geborene Gouvernante – total hops! Komm her, du weibliches Wesen, hier hast du meine große Wirtschaftsschürze, die ich nur dir zu Ehren mitgenommen. Als Zeichen deiner Würde lege ich dieses Zepter in deine Hände, Marlene«, lachte die unverbesserliche Annemarie.

»Wer die Wirtschaftswoche hat, benutzt die Schürze«, entschied Marlene. »Abwechselnd hat eine jede eine Woche lang für unsern Junggesellenhaushalt zu sorgen.«

»Annemie auch?« Ilse schien nicht sehr zuversichtlich. »Ich halte es für geratener, wenn wir Annemie nicht in den Schürzenbund mit aufnehmen, sonst serviert sie uns, nach den heutigen Erfahrungen, abends am Ende sauern Hering mit Schokoladensoße!«

»I wo, mit Stiefelwichse!« Annemarie, der Faulpelz, war durchaus mit Ilses Vorschlag einverstanden.

Aber nicht Marlene. »Abgelehnt! – Annemie muß zur Ordnung und zum hausfraulichen Sinn von uns erzogen werden. Das ist ebenso wichtig für sie, wie Kolleg zu hören.«

»Unser Kolleg beginnt erst morgen. Ich hab’ heute schon gerade genug Vorlesungen von euch zu hören bekommen und ziehe es vor, mich mit dem Vronli und Kaschperle unten im Garten weiter zu unterhalten. Wenn ihr aus der Wüschte hier eine Oase geschaffen habt, dürft ihr nachkommen.« Sie wollte zur Tür hinaus.

Aber Ilse hatte bereits den Weg verstellt. »Jawoll, das könnte dir so passen, uns deine Arbeit aufzubuckeln und selbst auf der Bärenhaut zu liegen. Willst du das ebenso machen, wenn du mal verheiratet bist? Der arme Mann!«

»Dein Mitleid ist ganz überflüssig, Ilse. Ich habe mich feierlich dem Zölibat ergeben. Also kann ich so liederlich und so faul sein wie ich will. Viel Vergnügen zu eurer Herkulesarbeit!« Lachend war sie zur Tür hinaus.

»Eine wundervolle Mitgabe fürs Leben ist doch diese unbekümmerte Heiterkeit, wie Annemie sie besitzt.« Nachdenklich sah Marlene hinter der Davoneilenden her.

Schon schallte Annemaries helle Stimme vom Gärtchen herauf.

»Grüß Gott, Frau Kirchmäuser, schön haben Sie’s hier. Und unsere Bude ist ganz famos.«

»Bei Ihne daheim ischt’s gewisch auch arg schön«, meinte die Wirtin freundlich.

»Gewisch nit«, beteuerte Doktors Nesthäkchen. »Berlin ischt ein großer Steinbaukasten, arg wüscht ischt’s da. Und Charlottenburg ischt nit viel besser!«

»Haben’sch da gar keine Berg’ nit?« Die einfache Frau konnte sich keine rechte Vorstellung von dem großen Berlin machen.

»Berge – o ja, den Kreuzberg haben wir da. Der ischt fascht so hoch wie ein Maulwurfshügel«, lachte das junge Mädchen.

»Du bischt aber guet«, stimmte jetzt auch Frau Kirchmäuser in das helle Mädchenlachen mit ein, ganz den schuldigen Respekt vor der neuen Mieterin und das steife »Sie« außer acht lassend.

»Soll ich Ihnen beim Salatsetzen helfen, Frau Kirchmäuser?« Gefällig reichte Annemarie der am Boden kauernden Frau die zarten Pflänzchen zu.

»Wenn’sch g’scheit gnua dazu bischt«, meinte diese gleichmütig.

Annemarie amüsierte sich gottvoll. Und die oben am Fenster der Unterhaltung lauschenden Freundinnen nicht minder.

Es zeigte sich aber, daß Doktors Nesthäkchen, das soviel Weisheit zum Abiturientenexamen in seinem hübschen Kopf aufgespeichert hatte, tatsächlich zum Salatsetzen nicht gescheit genug war. Das fand sogar Vronli und Kaschperle, die sich zuerst scheu zurückgezogen hatten, sich allmählich aber wieder heranwagten.

»Lueg, Mutterli, das große Mädle tut noch nit mal richtig pflanze«, flüsterte Vronli strahlend der Mutter zu.

»Dasch kann ja schon halt der Kaschperle!« Breitspurig stellte sich der kleine fünfjährige Bub vor der sich redlich mit der ihr unbekannten Tätigkeit Abquälenden auf.

»Der Kaschperle kann dasch schon, und die Tante Annemie ischt zu dumm dazu«, lachte Annemarie, ließ ihr Salatpflänzchen im Stich und nahm den strampelnd sich wehrenden Bub auf den Arm.

»Arg dumm ischt dasch Tanteli«, bestätigte Kaschperle treuherzig.

»Aber die Zuckerle haben doch fein geschmeckt, gelt, Vronli?« Annemarie strich dem kleinen Flachskopf, der auch seinen Teil von den Liebkosungen haben wollte, über die steif vom Kopf abstehenden winzigen Zöpfchen.

»Arg guet«, bestätigte das Vronli.

»Magst noch einen?«

»Freili – gelt, der heilige Nikolaus hat auch bei dir Zuckerle regne lasse?« Rührend war dieser reine, gläubige Blick aus den großen, dunklen Kinderaugen.

Annemarie schob jedem der Kleinen einen der noch aufgesparten Bonbons in das Mäulchen. Vier kleine Arme umstrickten fest ihren Hals.

»Du bischt guet, Tanteli.« Die Freundschaft war geschlossen.

Noch eine wurde in den Freundschaftsbund eingereiht, »Putzerli«, das schwarzweiße Kätzchen. Das rieb sich das seidenweiche Fell am Rock des jungen Mädchens zum Zeichen, daß dasselbe jetzt in den Familienkreis Kirchmäuser aufgenommen sei.

»Wer zu Kinderle und Tierle lieb ischt, ischt halt a gueter Mensch«, meinte Frau Kirchmäuser, recht zufrieden mit der neuen Hausgenossin.

Inzwischen hatten auch die beiden andern ihre Räumungsarbeit beendigt und stellten sich ebenfalls am Hausbänkle ein.

»Na, seid ihr mit eurer Herkulesarbeit fertig, ist der Augiasstall gereinigt? Hoffentlich habt ihr’s auch ordentlich gemacht?« empfing sie Annemarie.

»Das nenne ich denn doch dreist und gottesfürchtig, tut nichts und hat noch einen großen Mund obendrein«, empörte sich Ilse Hermann.

»Sei friedlich, mein Schatz, du weischt ja, wie ich’s mein’.« Zärtlich umfing Annemarie die Zürnende.

»Wehe dir, wenn du jetzt nicht Ordnung hältst, Annemie. Dann bekommst du nichts zu essen«, drohte Marlene.

»Hören Sie’s, Frau Kirchmäuser, wie ich behandelt werde? Und das nennt sich Freundinnen! Nix zu essen wollen sie mir geben!«

Ganz erschrocken sah die brave Frau, die den Scherz nicht erfaßte, von einem zum andern.

»So hältscht halt bei mir mit. Ich bitt’ um die Ehr’ zu ein Gericht Spätzli zum Nachtmahl.«

»Spätzli – au sein – da halt’ ich mit, Frau Kirchmäuser. Schwäbische Spätzli muß ich kennenlernen, eher bin ich hier nicht daheim«, rief Annemarie begeistert.

»Wenn’sch auch Spätzli möge?« wandte sich freundlich die Wirtin an die beiden bescheiden Danebenstehenden.

»Gern, aber wir möchten Ihnen doch nicht die Mühe machen«, wandte Marlene ein.

»Mühe ischt gar keine nit, Spätzli mach’ i halt doch.« Frau Kirchmäuser packte ihr Gartengerät zusammen und erhob sich, um ins Haus zu gehen.

»Ich würde schrecklich gern zusehen und lernen, wie man Spätzli macht«, bat Ilse. »Meine Mutter freut sich sicher, wenn ich ihr neue Kochrezepte mit heimbringe.«

»Dann weißt du ja, wozu du hier in Tübingen die Universität beziehst«, lachte sie Annemarie aus.

»Ihr könnt halt alle drei beim Spätzlimache helfe«, entschied die Wirtin, die Gefallen an den drei frischen Mädeln fand.

»Famos – wir binden alle drei zusammen unsere Wirtschaftsschürze um«, rief Annemarie. Trapp – trapp – ging es die schmale Stiege hinauf.

Bald standen sie im Trio in der kleinen Küche neben Frau Kirchmäuser. Ilse, als hauswirtschaftlichste, mit der gemeinsamen Wirtschaftsschürze angetan. Marlene hatte sich sorglich ein Küchenhandtuch über den blauen Faltenrock gesteckt. Annemarie aber thronte auf dem Kohlenkasten im Verein mit Vronli, Kaschperle und Putzerli.

Während Ilse das Mehl nach Frau Kirchmäusers Geheiß einrührte und Marlene die eingelegten Zwetschen, mit denen die Spätzli gefüllt werden sollten, auf dem kleinen Herd mit Zucker aufkochte, hatte Doktors Nesthäkchen die Absicht, sich durch Zuschauen an der Arbeit zu beteiligen.

Aber ihre Wirtin schien anderer Ansicht. »Holen’s die Nudel, Fräuli, schauen’s, daß weiterkomme«, kommandierte sie.

Die Nudel? Ratlos blickte Annemarie in der Küche umher. Sie kannte nur die Nudeln, die Hanne daheim zu fabrizieren pflegte.

»Da hängt’sch.« Frau Kirchmäuser wies in die Ecke. Nesthäkchens Gesicht wurde nicht schlauer.

»Bischt halt noch a arg’s Dummerli«, sagte die Frau mitleidig und nahm das Nudelholz vom Nagel. »Kannscht de Spätzli ausrolle.« Annemarie erschien der tüchtigen Wirtin noch so unwissend und ungewandt, daß ihr immer wieder das »Du« in die Anrede kam.

Spätzli ausrollen – da war Annemarie gleich dabei. Das war sicher eine lustige Arbeit. »Nudel – nut – nut – nut – Nudel – nut – nut – nut –.« Übermütig begann sie nach einem Leierkastenlied auf den Teig loszunudeln.

»Nicht so temperamentvoll, Annemie!« Kritisch sah Ilse zu.

Wutsch – da hatte sich der ganze Teiglappen um das Nudelholz gerollt und klebte fest wie Kleister.

»Frau Kirchmäuser, die Spätzli sind davongeflogen.« Ein wenig ängstlich rief Annemarie jetzt doch nach der Meisterin.

»Nehmen’s halt Mehl«, meinte diese gleichmütig.

Annemarie streute Mehl wie eine Lockspeise auf das Brett; aber den Spätzli fiel es nicht ein, anzubeißen.

»Sie sitzen wie die Spatzen auf einer Telegraphenstange hier an meinem Holz fest«, sagte sie.

»Ja, wenn’sch halt auch gar so arg blöd bischt.« Die Wirtin nahm dem jungen Mädel energisch das Nudelholz aus der Hand und rieb den Teig mit Mehl herunter.

»Ich werd’ meine Spätzli schon selber richte, sonst kriege wir am End’ Steine zu esse anstatt d’ Spätzli.«

Mit gewandtem Griff hatte sie den Teig ausgerollt, ihn kunstgerecht geschnitten und mit Zwetschen gefüllt. »So ischt recht – in a Stund’ könn’ mer esse.«

Die drei Küchenlehrlinge waren entlassen.

Einen tiefen Stoßseufzer ließ Annemarie vom Stapel. »So – das erste Kolleg bei der Frau Kirchenmaus wär’ glücklich vorüber. Hoffentlich stelle ich mich morgen im ersten Kolleg bei Professor Bergholz nicht ebenso grützdämlich an. Allgemeine Anatomie ist sicher nicht so schwer wie Spätzli ausrollen.«

»Ich wollte, der erste Universitätstag wäre erst vorüber. Gräßlich ist es mir, morgen zum erstenmal unter lauter fremden Mädeln und Jünglingen zu erscheinen. Ja, wenn wenigstens noch Marlene dabei wäre.« Ilse griff angstvoll zärtlich nach dem Arm ihrer Intima, als gelte es, sich heute schon im voraus daran aufzurichten.

»Natürlich, die Kinderfrau muß dabei sein. Es ist ganz gut für dich, Ilslein, daß du mal lernst, selbständig zu gehen und dich nicht immer von deiner Kinderfrau Marlene gängeln zu lassen«, entschied Doktors Nesthäkchen weise.

»Die Kinderfrau hat selbst einen Bammel, wenn sie an das erste Kolleg morgen denkt. Botanik, Physik und Chemie hören wir ja wenigstens alle drei zusammen«, beruhigte Marlene die Cousine.

»Ja, aber morgen habe ich nur Sprachfächer – o Gott, wenn mich solch oller bärbeißiger Professor bloß nicht beißt!«

»Dann beiß wieder«, lachte Annemarie. »Ich habe nicht die Bohne Bammel vor morgen.«

Untergeärmelt zogen sie unter solchen Gesprächen den Burgberg nach dem Schloß Hohentübingen hinauf. Bis zum Nachtmahl war noch eine Stunde Zeit. Von dort oben genoß man sicher einen schönen Sonnenuntergang. Die vielzackigen Giebel der Altstadt kletterten, je höher die jungen Mädchen kamen, um so tiefer den Burgberg herab. Das war ein lustiges Übereinander und Durcheinander von Zacken und Spitzen. Jetzt standen sie vor dem alten Steinmassiv der mittelalterlichen Burg. Das wuchtige niedrige Steintor mit seinem breiten Rundbogen hemmte sofort Ilses Schritt.

»Wundervoll, das müßte mein Vater sehen!« Das Bauratstöchterlein betrachtete eingehend die kunstvollen Skulpturen, Wappen, eingravierten Sprüche und Zahlen.

»Wieviel Kriegsstürmen mag dieses Tor im Mittelalter getrotzt haben.« Sinnend sah Marlene auf die gewaltigen Steinmauern.

»Eine herrliche Rundsicht muß man oben vom Schloßaltan haben, flink, kommt!« Annemarie drängte weiter.

»In welchem Stil ist das Schloß erbaut?« examinierte Ilse.

»Ist ja ganz schnuppe – die Sonne geht unter, ehe wir den Blick genossen haben. Den Stil können wir ja nachher auch noch ergründen.«

Doktors Nesthäkchen war schon um eine Pferdelänge voraus.

»Renaissancestil ist es, du ungebildetes Ding. Die Sonne hast du auch in Charlottenburg jeden Abend untergehen sehen. Aber das Schloß Hohentübingen bewunderst du heute zum erstenmal.«

»Was mag das Schloß hier während der Bauernkriege alles mit angeschaut haben!« Marlene hatte mehr Sinn fürs Historische.

»Renaissancestil und Bauernkriege – was gehen die uns an einem so herrlichen Frühlingsabend an! Heute leb’ ich – heute genieß’ ich!« Annemarie stürmte kurzentschlossen den andern voran in das Innere des Schloßhofes zu dem »Lueg ins Land«, von dem man den schönsten Ausblick haben sollte.

»Bravo – bravo – hahaha, das nenn’ ich halt lebensfreudig und jugendfrisch! Was kümmert uns Bücherweisheit und steinerne Vergangenheit, wenn das blühende Leben einem lacht.«

»Von all den drei Mädeln so schlank und so hold, gefällt mir am besten die eine; die Augen so strahlend, die Haare wie Gold; errät ihr’s halt, welche ich meine!« Lachende Studentengesichter tauchten an einem der Schloßfenster auf. Keck brachten sie im Chor den drei hübschen Jungfräulein, deren Unterhaltung sie mit angehört hatten, ein Ständchen.

Ilse wurde so rot wie ihr rotweißgepunktetes Musselinkleid. Marlene runzelte hoheitsvoll die Stirn und tat, als ob sie taub wäre. Doktors Nesthäkchen aber rief unverfroren: »Danke vielmals für den musikalischen Kunstgenuß!«

»Nicht doch – wie kannst du nur auf solche Dreistigkeit antworten, so etwas überhört man.« Marlene war ernstlich ungehalten über die ihrem Schutz Anvertraute.

»Du willst dich wohl hier zum Tugendschäfchen Nummer 2 ausbilden, Marlene? Wenn man Studentin ist, darf man sich nicht in einem Glaskasten absperren und etepetete tun. Die jungen Dachse sind doch nur harmlos lustig.«

»Als ob du älter bist als sie. Wen meinten sie eigentlich von uns drei holden Grazien?« Ilse kicherte in sich hinein.

»Mich ganz gewiß nicht. Nicht mal bei diesem herrlichen Sonnenuntergang glänzt mein Haar wie Gold«, lachte jetzt auch Marlene, sich die dunklen Haare, mit denen der Wind spielte, zurückstreichend.

»Wir werden uns um die Ehre duellieren, Ilse. Heute abend beim Zubettgehen wird geboxt.«

Sie waren hinausgetreten auf den »Lueg ins Land« und standen und schauten nun in stummer Andacht. Brennendrot flammten die Ziegeldächer der zu ihren Füßen ruhenden Stadt. Das krause Giebelgewirr hatte die tief im Westen stehende Sonne in purpurne Tinten getaucht. Blitzende Goldfunken sprühte der die Stadt wie ein Flimmergürtel umwindende Neckar. Rosenrote Wiesen dehnten sich unwahrscheinlich märchenhaft bis an die violetten Höhenzüge der Alb.

»Ist das schön, ist das bezaubernd schön!« Annemarie war die erste, die Worte für ihre Begeisterung fand.

»Gelt, am Neckar läscht sich’s lebe?« Die Studenten hatten die Bücher in der Universitätsbibliothek, die im Schloß untergebracht war, schleunigst zugeschlagen, um sich die drei hübschen Mädel, die sie bisher in Tübingen noch nicht gesehen, etwas näher anzuschauen. Mit der den Süddeutschen eigenen Unbefangenheit mischten sie sich in ihr Gespräch.

»Herrlich ist es!« bestätigte Doktors Nesthäkchen mit der gleichen Zutraulichkeit.

Marlene stieß Annemarie heimlich an. Wozu antwortete die bloß? Dann war es natürlich kein Wunder, wenn die Studenten nachher dreist wurden.

»Sie sind halt noch nicht lang dahier?« begann einer von ihnen wieder.

»Erst seit gestern.«

»Hoffentlich nit bloß auf der Durchreis’, sondern für längere Zeit.«

»Ja, für ein ganzes Jahr. Wir wollen hier studieren.« Doktors Nesthäkchen war noch nie in seinem Leben schüchtern gewesen, und diesen lustigen jungen Burschen gegenüber hatte es dasselbe Gefühl, als wenn es daheim mit Klaus und Hans sprach.

»Hurra – Kommilitonen!« Ein buntes Zerevis flog in die Luft. »Seid mir gegrüßt, ihr Schwestern unserer gemeinsamen Mutter, der Alma mater!« Hände streckten sich bewillkommnend den dreien so ehrlich, herzlich und erfreut entgegen, daß selbst die schüchterne Ilse und die zurückhaltende Marlene kameradschaftlich einschlugen.

»Krabbe, Neumann, Egerling, alle drei aus dem Schwabenland.« Die drei klappten die Hacken zusammen und nannten nach allen Regeln des Anstandes ihren Namen. »Und wer seid’s denn ihr?«

»Marlene Ulrich, Ilse Hermann, Annemarie Braun; das ist meine Wenigkeit.« Lachend übernahm Annemarie die Vorstellung.

»Und was wollt’s denn werden?«

»Ich werde Naturwissenschaften studieren.« – »Ich neue Sprachen.« – »Und ich will die arme Menschheit ins Jenseits befördern helfen.« Das war natürlich wieder Annemarie.

»Famos – Spezialkollegin! I bin halt auch Mediziner. Der Krabbe studiert aufs liabe Viehle, und der Egerling wird halt geischtlich. Hören’s auch beim Bergholz?«

»Freilich, morgen früh hab’ ich mein erstes Kolleg.«

»Großartig – da treffe mer uns. Wo seid’s denn daheim?«

»In Berlin – waschecht mit Spreewasser getauft.«

»Brrr – für die Berliner Großschnäuz’ hab’ i nix nit übrig.« Das war Krabbe. »Aber weil’s gar so liab ausschaut, mag’s euch verziehe sein, daß ihr halt Berliner seid.«

»Erstens bin ich aus Charlottenburg, und wenn ihr die Berliner Großschnäuz’ nicht mögt, ich finde die schwäbische Großschnäuz’ nicht netter.« Annemarie war nicht auf den Mund gefallen. Von den dummen Jungens ließ sie sich noch lange nicht ihre Heimat schlecht machen.

»Kratzbürscht, kleine! ‘s ischt ja nur halb so schlimm g’meint«, begütigte Egerling.

»Wenn Sie für die Berliner nichts übrig haben, bitte sehr, Tübingen ist ja wohl groß genug, daß Sie uns bequem aus dem Wege gehen können«, sekundierte nun auch Marlene der Freundin.

»Hu – seid’s doch gemütlich, Kinder. Mit so a süßem Fratzerl darf man nit so arge Worte daherrede. Jetzt kommt die dritte der Grazien wohl gar auch noch heran, na, legt’s los. Wir halten still.«

Ilse, die dritte der Grazien, lachte nur und schüttelte den Kopf.

»Brav ischt’s, und nun kommt’s, Kinderle, gebt’s Patscherl und laßt uns halt Frieden schließe.« Treuherzig sah der lange Neumann sie an.

»Drei schmucke Berlinerinnen mag i halt lieber leide als sechs garstige Widerwurzen von Stuckart.« Krabbe schien der lustigste zu sein.

Da lachten sie alle miteinander, und der Frieden war wieder hergestellt.

»Jetzt kommt’s, Kinderle, daß wir euch mit eurer neuen Heimat bekannt mache.« Die Studenten gebrauchten ganz selbstverständlich das kameradschaftliche »Ihr«, das unter ihnen Sitte war, auch den jungen Mädchen gegenüber.

Selbst Marlene verlor diesem harmlos kollegialen Ton gegenüber ihre zugeknöpfte Zurückhaltung und wurde ebenfalls gemütlich.

»Also, luegt’s, erscht das Schloß. Der Herzog Ulrich von Württemberg hat den Bau begonnen. Das hat schon mehr Fehden mit anschaue müsse als halt die unsrige soeben. Dort in dem Seitenbau ischt die Universitätsbibliothek, wenn’s mal brav sein wollt und büffeln. Und dahier zu unserer Linken, das ischt halt der Haschpelturm, der altersgraue, verwitterte Gesell. Da hat man die Gefangenen früher mit einer Winde in den Hungerturm hinuntergehaschpelt. Daher der Name. Wenn’s wieder mal kratzbürschtig sein, kommt’s ihr da hinein.« Egerling machte ein strenges Gesicht.

»Himmlisch gruselig«, lachte Annemarie.

»Gruselig wird’s erscht. Kommt’s, wir steigen jetzt in die Unterwelt.«

»Was – da hinunter?« Ilse faßte ängstlich Marlenes Arm.

»Natürlich müssen wir das unterirdische Verlies sehen. Schade, daß man nicht mehr hinabgehaschpelt werden kann«, bedauerte Doktors Nesthäkchen aufrichtig.

»Das Mädle hat Kurasch’!« Bewundernde Studentenblicke folgten der mutig die verwitterten, ausgetretenen Steinstufen als erste Hinabsteigenden.

Bei dem unterirdischen grünlichen Dämmerlicht unterschied man in dem Kellergewölbe ein großes Faß.

»Gar so arg haben’s die Gefangenen hier im Hungerturm nicht gehabt. Für den Durst war wenigstens gesorgt«, meinte Marlene belustigt. Während Ilse an dem unheimlichen Orte krampfhaft den Arm der Cousine kniff.

»Ganz ähnlich wie das Heidelberger Faß. Gibt’s hier auch einen Zwerg Perkeo mit dem Fuchsschwanz, der einem plötzlich ins Gesicht fährt? Mein Bruder Hans hat mir davon erzählt.«

»Hier saßen halt andere zu Gericht. Die heilige Feme hatte dereinscht hier ihre gefürchtete Stätte.« Mit Grabesstimme sagte es einer der Studenten, um den Mädchen Angst zu machen. Bei Ilse gelang ihm das auch vollkommen.

»O Gott – ich halt’s hier nicht mehr aus. Ich glaub’, sie hat mich schon am Schlafittchen, die heilige Feme!« Ilse zog mit Gewalt die voller Interesse lauschende Marlene zum Tageslicht zurück.

»Hasenfuß!« lachte sie Annemarie aus. »Hast selbst bei der heiligen Feme zu unserm Abiturientenfest mitgespielt, und jetzt bist du bange davor. Wehe – wehe – wehe!« Mit erhobenen Händen folgte Annemarie der unbehaglich Zurückweichenden.

»Famoses Mädle!« Die Studenten waren begeistert von Annemaries Lebhaftigkeit.

Dann standen sie wieder draußen am Schloßaltan und blickten über den Burggraben hinweg in die verdämmernde Landschaft.

»Schaut’s, da ganz in der Ferne das Schiefergebirg. Die flache Kuppe, das ischt die Achalm. Der Dichter Ludwig Finkh, der hier in Reutlinge daheim gewese, erzählt von der Achalm, daß sie in Urzeiten die Schiefertafel unseres Herrgotts gewese sei. Und hier – – –.«

»Und hier ist mein Fenster – ich kann mein Fenster sehen«, unterbrach Annemarie den Vortrag des Studenten mit gewohnter Lebhaftigkeit. »Gleich da unten hinter dem Burggraben das weinumrankte Häuschen.«

»Gut, daß mer’s weiß, wenn mer euch halt wieder amal a Ständche bringe will«, lachte Egerling.

»Ich glaub’, ich erkenn’ das Vronli und das Kaschperle im Gärtchen. Gewiß schauen sie schon nach uns aus!« rief Annemarie wieder.

»Ich sehe sogar, daß die Zwetschenspätzli unserer Frau Kirchmäuser gerade fertig sind und daß es Zeit zum Heimgehen ist«, scherzte Ilse hungrig.

»Wollt’s wirklich schon heim? Das ischt schad! Aber freili, die Spätzli dürfe nit stehe. Dann schließ i für heut’ mein Kolleg hier. Alsdann auf morgen beim Bergholz!« Man schüttelte sich freundschaftlich die Hände und ging auseinander in dem Bewußtsein, gute Kameraden gefunden zu haben.

Ausgelassen wie junge Füllen sprangen die drei Musentöchter den Burgberg hinab und die Treppchen zum Marktplatz hinunter.

»Ein Kolleg haben wir heute schon bei unserer Kirchenmaus gehört, eins soeben bei den netten Studenten auf Hohentübingen geschunden – ich glaube, wir werden hier nicht verbummeln, Kinder«, lachte Doktors Nesthäkchen. »Mehr kann man für den ersten Tag eines Studienjahres nicht verlangen.«

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