Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 90
7. Kapitel
Berlin auf Rädern
ОглавлениеEs ging auf die großen Sommerferien zu. In der Schule wurde nirgends mehr ernst gelernt. Allenthalben spukten Badeanzüge, Nagelschuhe und Rucksack, Hängematte und Koffer in sämtlichen Größen durch die Köpfe der Schüler und Lehrer. Die Obersekunda des Schubertschen Lyzeums machte davon keine Ausnahme. Im Gegenteil, unser Kränzchen schmiedete eifrig Ferienpläne. Ulrichs gingen an die Ostsee und nahmen Ilse Hermann mit. War das eine Seligkeit, daß die beiden Inseparables nun Tag und Nacht zusammen sein konnten. Marianne reiste mit den Eltern in den Harz. »Da brauche ich zum Glück nur eine Lodenpelerine, keinen Mantel.« Das schien Marianne das beste von der Reise. Denn sie hatte die Strafpredigt wegen der ohne Erlaubnis verschenkten Kleidungsstücke noch nicht vergessen. Vera begleitete ihre Tante nach Kissingen, wo diese die Kur gebrauchte. Margot blieb zu Hause, da alles so schrecklich teuer in diesem Jahre war und die Familie kinderreich. Aber sie tröstete sich damit, daß Annemarie Braun wohl auch nicht verreisen würde. Dann konnte man täglich zusammen morgens mit Frühstück nach dem Grunewald hinausfahren; man würde nach Halensee gemeinsam schwimmen gehen und auf dem Balkon nebeneinander sitzen mit Handarbeiten oder Büchern. Eigentlich war das noch viel schöner, Annemarie ganz für sich allein zu haben, als zu reisen. Dann war sie fünf Wochen lang ihre beste Freundin.
Da machte ein Brief die schönen Pläne Margots zunichte. Die beiden Backfische saßen, mit Schularbeiten beschäftigt, jeder auf seinem Balkon. Durch die dünne Wand, welche sie voneinander trennte, verständigten sie sich ab und zu mittels ihrer Klopfsprache. Die stammte noch aus ihrer Kinderzeit her und wurde eifriger geübt als Englisch und Französisch. Langsames Pochen bedeutete, ich bin traurig oder ich komme mit meiner Arbeit nicht zurecht. Schnelles Tempo zeigte eine Freudenstimmung an.
Der Briefträger kam die Straße herauf. Margot beobachtete ihn nicht weiter. Annemarie aber eilte hinaus, ob er nicht Nachricht von Bruder Hans brächte. Außerdem war es auch recht angenehm, die langweiligen Mathematikaufgaben mal zu unterbrechen. Nicht lange dauerte es, da trommelten Annemaries beide Fäuste einen wahren Jubelhymnus gegen die Balkonwand.
Margot schlug einmal zurück. Das hieß in der Übersetzung: »Was ist los?«
Das Klopflexikon der beiden Freundinnen war ziemlich reichhaltig. Aber für das, was Annemarie augenblicklich auf dem Herzen hatte, langte es doch nicht. Sie ließ ein Brieflein an einem Bindfaden über die Balkonwand flattern. Darin stand: »Hurra! Ich bin für die Ferien von Onkel Heinrich und Tante Käthchen auf Arnsdorf eingeladen. Ich soll bei der Ernte helfen.«
Eine ganze Weile hörte man nichts. Dann kamen drei Schläge, langsam und schwer, von Margots Balkon. Auf deutsch: »Ich bin sehr traurig.«
Annemarie erschrak. Ach Gott, daran hatte sie in ihrer ersten Freude nicht gedacht, daß Margot nun allein zurückbleiben würde. Wieder wanderte ein Briefchen über die weinumsponnene Wand.
»Sei nicht traurig, Margotchen, wenn ein Eisenbahnerstreik kommt, kann ich nicht fahren, sagt Vater,« las Margot drüben unter feuerroten Pelargonien mit etwas weniger hoffnungslosen Augen.
»Wenn doch bloß Streik kommen würde,« dachte Margot inbrünstig. Sie überlegte in ihrer Enttäuschung nicht, wie kindisch und unreif dieser Wunsch war; daß Tausende von Menschen dadurch geschädigt werden, daß die Arbeit eines ganzen Volkes unterbrochen werden sollte, damit ihr kleines Ich befriedigt wurde.
Dennoch schien es, als ob Margots Wünsche in Erfüllung gingen. Es lag mal wieder allenthalben Streit in der Luft. Ja, man munkelte sogar von einem Generalstreik.
»Was ist das, ein Generalstreik?« hatte Margot sich bei Annemarie über die Balkonwand hinweg erkundigt.
»Du, Schlaukopf, das liegt doch auf der Hand. Dann streiken natürlich die Generale.« Ohne sich zu besinnen, erfolgte Annemaries Belehrung.
Da aber erschallte aus Vaters Zimmer, dessen Erkerfenster an den Balkon grenzte, ein so herzliches Lachen, daß Annemarie doch ein wenig unsicher wurde.
»Lotte, da hast du dir ja was Famoses geleistet.« Der Vater konnte sich gar nicht beruhigen. »Den Witz muß ich dem Ulk einschicken.«
»Na, wieso denn, wenn es doch Generalstreik heißt?« verteidigte sich sein Nesthäkchen unwillig.
»General heißt allgemein, das mußt du doch aus der lateinischen Stunde wissen, Obersekundaner. Allgemeiner Streik bedeutet es – hahaha – die Sache ist köstlich.«
»Vaterchen, du erzählst keinem Menschen was davon, nein? Auch Mutti und Klaus nicht. Ich schäme mich so. Und mit dem Ulk einschicken, das war nur Ulk, nicht?« Durch das Fenster angelte Annemarie und streichelte und beschwor den Vater, doch bloß keinem Menschen was von ihrer Dämlichkeit zu verraten. Auch Margot mußte Stillschweigen geloben.
In den Ulk kam Annemaries Schlauheit nicht. Wohl aber wanderte sie als »Histörchen« nach Freiburg zum großen Bruder Hans, der das Schwesterlein nicht schlecht damit aufzog. Klaus hatte irgendwie Wind von der Sache bekommen, wahrscheinlich hatte Margot nicht reinen Mund gehalten. Denn auf Vater war Verlaß, wenn er etwas versprach.
Auch die Kränzchenschwestern machten ab und zu etwas peinliche Andeutungen. Ob es auch wohl zu einem Majorstreit kommen würde und dergleichen. Man scherzte so lange, bis es Ernst wurde.
Eines Nachmittags kam der Vater ein wenig erregt mitten aus der vollen Sprechstunde heraus.
»Wir werden gut tun, Elsbeth, uns mit Lebensmitteln zu versehen, vor allem mit Brot. Es waren soeben verschiedene Arbeiter bei mir, die mir erzählten, daß heute abend noch der Generalstreik in Kraft treten soll. Was sind das für Zeiten!« Doktor Braun ging mit ernster Miene wieder an seine Tätigkeit, ein Meer von Aufruhr zurücklassend.
»Hanne, laufen Sie schnell zum Bäcker und holen Sie soviel Brot, wie wir noch Marken haben. Minna zum Kaufmann nach den Wochenrationen. Lotte, du springst schnell zur Großmama herum und sagst, daß sie ebenfalls Vorkehrungen trifft. Auf dem Rückweg bringst du vom Schlächter unsere Fleischration mit. Klaus, sorge, daß Karbid im Hause ist, falls die Beleuchtung versagt.« Frau Doktor gab ihre Anweisungen, trotzdem sie innerlich selbst erregt war, klar und ruhig wie ein Feldherr.
Aber ihre Hilfstruppen wirbelten wie ein aufgescheuchtes Volk Hühner im Kreise herum.
»Ach Jotte doch, Jotte doch, wo hab’ ich denn bloß die Brotmarken jelassen.« Hanne riß sämtliche Kästen und Schübe in der Küche auf und durchstöberte sie in Hast. Dabei lagen die gesuchten Karten mitten auf dem Tisch, wo sie dieselben bereits hingelegt hatte.
Minna hatte den Kopf ganz und gar verloren. Sie stand plötzlich anstatt im Kolonialwarenladen, nebenan im Barbiergeschäft und wußte nicht, was sie dort sollte. Klaus machte alle mit seiner Karbidlampe verrückt und wollte in der Eile noch irgendeine Erfindung machen, daß sie weniger duftete. Annemarie hatte ihre Sinne noch am meisten beisammen. Die alarmierte nicht nur die Großmama und versetzte sie mit ihrer Nachricht in gelinde Aufregung, sondern sie machte ihr auch gleich die notwendigen Besorgungen. Der Hanne, die räsonierend von einem Bäckerladen zum andern jagte, weil überall das Brot bereits ausverkauft war, nahm sie unterwegs die Marken ab und schleppte noch drei Brote, die sie Gott weiß wo aufstöberte, heim. Unverdrossen lief Doktors Nesthäkchen treppauf, treppab, denn auf der Straße und in den Geschäften war es heute hochinteressant. Auf den Straßen kribbelte es geschäftig wie in einem Ameisenstaat durcheinander. Hier traf sie Margot Thielen, dort ein anderes Mädel aus der Schule. Und alles rannte, kaufte und schleppte, als ginge es gleich los mit dem Verhungern. Vor den Lebensmittelgeschäften staute sich das Publikum. Und als man dann endlich alles zu Hause hatte, gab’s neue Aufregung. Margot Thielen trommelte Sturm gegen die Balkonwand.
»Du, Annemie, ihr sollt gleich alle Eimer und Gefäße, die ihr habt, mit Wasser füllen, läßt Mutter euch sagen. Die Wasserwerke streiken, in Moabit gibt’s schon kein Wasser mehr. Meine Tante hat’s eben telephoniert.«
»Mutti – Hanne – das Wasser wird abgesperrt, schnell noch soviel Wasser als möglich einlassen, sonst müssen wir verdursten und können uns nicht mehr waschen.« Nesthäkchen war in grenzenloser Aufregung. Es begann, kleine Milchtöpfe, die zur Zierde auf dem Küchenbrett standen, schleunigst mit Wasser zu füllen – bums – da lag einer in Scherben auf den Steinfliesen.
»Verdrehte Zucht,« knurrte Hanne und lief mit sämtlichen Kochtöpfen, Tiegeln und Suppenterrinen zur Wasserleitung, als ob es brenne.
»Vor allen Dingen die Badewanne voll Wasser, die Krüge, Eimer und Karaffen, daß es schafft.« Doktor Braun erschien in höchsteigener Person, um Anweisungen zu geben.
»Lotte, bist du denn nicht gescheit, daß du die zinnernen Humpen herausschleppst! Fülle lieber die Waschschüsseln. Der Klaus hat doch nichts als Dummheiten im Kopf. Da füllt er sämtliche kleinen Likörgläschen mit Wasser. Bengel, mach, daß du aus der Küche kommst!« Die Verwirrung war unbeschreiblich. Einer lief immer dem andern in den Weg.
»Is ja man allens bloß umsonst. Die denken ja jar nich dran, das Wasser abzusperren,« brummte Hanne wütend, die sich aus dem Labyrinth von Eimern, Töpfen und Gefäßen nicht mehr herausfand.
Aber die schlaue Hanne irrte sich diesmal. Als Annemarie gerade noch schnell die Gießkanne mit Wasser versehen wollte, damit ihre Tausendschönchen und Tomaten auf dem Balkon nicht Not leiden sollten – schwupp – da war’s zu Ende.
Am Abend kroch die ganze Braunsche Familie mit einbrechender Dunkelheit ins Bett. Klaus hatte seine Erfindung an der Karbidlampe so glänzend gemacht, daß sie nun auch wie Gas und Elektrizität zu streiken begann und überhaupt nicht mehr brannte. Nur gut, daß man im Monat Juni und nicht im Dezember war.
Am andern Morgen, als Annemarie und Margot zur Schule gingen, war das Straßenbild völlig verändert. Keine Bahn fuhr, weder die Elektrische noch die Stadt-oder Hochbahn. Kein Auto, keine Droschke. Alles lief geschäftig zu Fuß. Auch in der Schule gab es ein Durcheinander. Lehrer und Schülerinnen, welche in den Vororten wohnten und auf Bahnverbindung angewiesen waren, fehlten. Vor allem aber fehlte der nötige Ernst und die richtige Sammlung zur Arbeit.
»Wir streiken auch, wir kommen morgen auch nicht zur Schule. Wenn Generalstreik ist, brauchen wir allein nicht zu arbeiten,« ließ sich ein Faulpelz hören.
Dieser Vorschlag wurde allgemein begeistert angenommen. Allerdings nur von den Schülerinnen. Fräulein Drehmann, der man den Entschluß in der Geographiestunde unterbreitete, hielt den Mädeln eine tüchtige »Standpauke«. Das war die übliche Bezeichnung für Strafpredigt. Ob sie sich denn nicht schämten, das Unheil, das durch die Streiktage wieder über das deutsche Volk hereinbräche, noch vermehren zu wollen. Daß jeder die Verpflichtung habe, in solcher Zeit doppelt alle Kräfte anzuspannen. Und daß ganz besonders die Jugend daran arbeiten müsse, das zu Boden liegende Deutschland wieder in die Höhe zu bringen.
Da verzichtete die Obersekunda großmütig auf ihren Streik. Marlene Ulrich machte der Generalstreik schwere Sorgen. Allerdings nicht wegen der durch denselben gefährdeten Volkswohlfahrt, trotzdem sie sonst ein verständiges Mädchen war. Nein, ihre Geburtstagsfeier sollte dadurch ins Wasser fallen. Man hatte einen Dampferausflug an die Oberspree geplant, mit Kaffeekochen und selbstgebackenem Kuchen und mitgenommenen Abendbrotstullen. Eine richtige Berliner Landpartie. Alle Kränzchenschwestern waren schon wochenlang dazu geladen. Und nun streikte auch die Dampfschiffahrt. Solche Ruppigkeit!
»Und ob meine Mutter überhaupt Kuchen backen kann, ist noch sehr die Frage. Man muß doch seine Mehl-und Fettvorräte in solcher Zeit zusammenhalten,« tat Marlene betrübt den nicht weniger betrübten Freundinnen kund.
Annemarie Brauns fröhlicher Sinn ließ sich durch solche Kleinigkeiten nicht niederdrücken. »Dann bringen wir uns jeder unsere Marmeladenstullen zum Kaffee mit. Wir kommen auf alle Fälle, und wenn wir den weiten Weg hin und her auf Schusters Rappen machen,« tröstete sie.
Aber die verschiedenen Eltern hatten leider auch noch ein Wörtchen mitzusprechen. Bei der Gluthitze, die in den Großstadtstraßen doppelt siedend empfunden wurde, sollte weder Annemarie, noch Marianne und Vera die weite Strecke bis in den Mittelpunkt der Stadt zu Fuß zurücklegen. So sah es mit Marlenchens Geburtstag bös aus, wenn nicht noch ein Wunder eintrat.
Und das Wunder geschah.
Nicht etwa, daß der Streik zu Ende ging. Aber eines Morgens, als man zur Schule zog, war es da. Wie aus der Erde emporgewachsen: Wagen in allen Größen, von allen Formen und sonst den verschiedensten Zwecken dienend. Jetzt aber hatten sie nur den einen Zweck, Menschen zu befördern. War das ein merkwürdiges Bild! Auf den Plätzen eine richtige Wagenburg. Man war plötzlich wieder aus dem Zeitalter der Elektrizität um hundert Jahre zurückversetzt. Ein Gekribbel und Gekrabbel von Wagen und Pferden. Ein Ausrufen und Durcheinanderschreien der Kutscher und Besitzer. Und mitten unter ihnen thronte der Berliner Volkswitz und schwang lachend sein Zepter.
»Hier, junge Frau, können Sie für zwei Märker bis nach dem Stettiner Bahnhof jondeln« – »ein Platz hier noch in meiner Equipage« – »na, Mutterken, soll ick Ihnen auf’n Bock verladen« – »fünfzig Fennich hier de Kremserfahrt, es jeht so schnell wie mit’s Luftschiff,« schrien sie durcheinander.
Annemarie, Margot und Vera waren starr vor Staunen. »Seht doch bloß, da fahren ja Leute mit ’nem Möbelwagen. Bänke und Stühle haben sie daraufgestellt – nein, ist das ulkig!«
»Und da im Schlächterwagen werden auch Menschen statt Ochsen aufgeladen,« gab Annemarie lachend zurück.
»Oh, die schwarze Kohlenwagens, da ich nicht möchten fahren mit.« Vera schüttelte sich. Und trotzdem war er dicht besetzt mit Menschen, die alle in die Stadt mußten und nicht laufen wollten.
»Einsteigen, Fräuleinchen, immer rin! Mit mich fahren Se trotz fünfundzwanzig Jrad Hitze kühl wie auf’n Nordpol,« rief es von einem Kutscherbock herab den drei hübschen Mädeln zu. Der Wagen trug ein Schild »Norddeutsche Eiswerke«.
War es da ein Wunder, daß sie über all das Außergewöhnliche und Belustigende, was die Straße heute bot, den Schulanfang versäumten? Daß Fräulein Neuberts Eulenaugen strafend den Verspäteten entgegenfunkelten? Und daß mitten in der Stunde die lebhafte Annemarie plötzlich in schwer verhaltenen Jubel ausbrach: »Marlene, wir machen an deinem Geburtstag eine Kremserlandpartie zu dir!«
Keine kam heute pünktlich zu Tisch nach Hause. Es gab zuviel unterwegs zu sehen und zu bestaunen.
»Ganz Berlin auf Rädern,« sagte der Vater, als das Fräulein Tochter erst nach der Suppe zu erscheinen geruhte. »Deine Räder aber scheinen stillgestanden zu haben.« Er sah ärgerlich aus: denn trotz seiner weitverzweigten Praxis hielt er selbst die Mahlzeiten pünktlich inne, sogar jetzt bei den erschwerten Verkehrsverhältnissen. Aber als sein Nesthäkchen in ihrer drolligen Art der Mutter ein treffendes Bild von den Straßenszenen gab, war er bald wieder besänftigt. Ein Teufelsmädel, seine Lotte!
Die Lebensmittelgeschäfte öffneten sich wieder, und Frau Rechtsanwalt Ulrich konnte Geburtstagskuchen backen. In der Obersekunda nahm man lebhaft Notiz davon.
»Seid pünktlich um vier da, sonst wird der Kaffee kalt,« bat das Geburtstagskind.
Das wurde eifrig versprochen. Dabei war eine solche Gluthitze, daß das Lyzeum schon um 11 Uhr seine Pforten hinter der seligen Mädchenschar schloß, und die Aussicht auf heißen Kaffee geradezu beängstigend wirken mußte.
»Ich zieh’ mein weißes Voilekleid an« – »ich mein mattblaues, die Eierflecke sieht man kaum noch« – »ich möchte am liebsten im Badeanzug kommen.« Das war natürlich wieder Annemarie, die solche unmöglichen Wünsche hatte.
Dessen ungeachtet bestürmte sie zu Hause die Mutter, das nagelneue Mullkleid mit den Rosenknospen, das eigentlich bis zur Tanzstunde im Winter bleiben sollte, anziehen zu dürfen.
»Es ist so wundervoll leicht bei der Hitze. Und Marlenes Geburtstag ist doch eine würdige Gelegenheit, es einzuweihen. Bitte, Muttchen, erlaub’s doch.« Nesthäkchen fing nämlich neuerdings an, etwas eitel zu werden.
»Lotte, du hast kein Vergnügen, wenn du dich mit dem neuen Kleid fortwährend vorsehen mußt. Die Wagen, mit denen man jetzt fährt, sind auch nicht allzu sauber. Und möglichenfalls kriegen wir ein Gewitter. Es liegt mir in den Knochen.« Diese drei Gegengründe waren eigentlich durchaus einleuchtend. Aber nicht für Annemarie. Für die bestand angeblich das größte Vergnügen darin, nur auf das neue Kleid zu achten. Die würde sich den feinsten Kremser mit roten Samtpolstern heraussuchen; und in ihren Knochen lag herrlichster Sonnenschein.
Als sie dann eine halbe Stunde später abschiednehmend in dem Rosenknospenkleid erschien – denn mit Bitten und Schmeicheleien hatte sie es wirklich durchgesetzt – da schaute die Mutter doch stolz auf ihr hübsches Töchterchen, das selbst wie eine taufrische Rosenknospe anzusehen war. Auch Puck musterte sie mit verständnisvollem Schwanzwedeln.
Puh – war das heiß! Man sah die Hitze förmlich in den Straßen kochen. Jedes Haus, jede Mauer strömte Siedeatem aus. Die Menschen schlichen ermattet.
Die vier Backfische, die sich am Zoologischen Garten trafen, schienen von der Glut nichts zu merken. Die glühten selbst den Freuden der heutigen Geburtstagsfeier entgegen. Die merkten auch nicht, daß sich der Himmel mit einem feinen weißlichen Schleierdunst bezogen hatte. Regen – ausgeschlossen! Keine hatte einen Schirm bei sich, denn wie hätte sich solch ein schwarzes Ding wohl zu den zarten hellen Kleidern ausgenommen!
Annemies Rosenknospenkleid wurde gebührend bewundert. So eingehend, daß der einzige Kremser, der noch dort stand, inzwischen besetzt war.
»Schadet nichts, auf dem Bock zu kutschieren, macht viel mehr Spaß.« Annemarie schwang sich sofort auf das hohe Rad eines niedlichen Jagdwagens, und von dort aus gewandt auf den Kutschbock. Daß die Frisuren des neuen Kleides dabei gedrückt wurden, merkte das huschlige Fräulein nicht.
»Kommt, Kinder, hier oben hat man ’ne feine Gebirgsaussicht! Margot, sei doch nicht so tolpatschig, auf die Räderspeiche mußt du treten. Vera, du turnst zu mir auf den Bock herauf. Äx, du riechst ja nach einem ganzen Parfümgeschäft, Marianne, wie hast du dich denn bloß einbalsamiert!« Ein Mühlrad kam mit Annemaries Mundwerk nicht mit.
So – nun waren sie sämtlich aufgeladen. Margot, puterrot vor Hitze und Angst bei der ungewohnten Besteigung. Marianne, beschämt und parfümduftend; sie war heimlich an Mutters Toilettentisch gegangen und hatte des Guten zuviel getan.
»Verachen, wir haben den besten Platz.« Stolz thronten die beiden Freundinnen untergeärmelt auf dem Bock.
»Verachen muß wieder runter,« entschied der dicke Kutscher gelassen. »Da komm ich hin.«
»Ach, wir rücken zusammen, wir haben alle drei Platz, Herr Kutscher,« bat Annemarie.
»Nee, bei die Hitze is mich das zu mollig. Mir schwitzt schon so wie nach Fliedertee. Verachen muß runter. Allenfalls kann sie noch hinten zwischen die andern Fräuleinchens sich dünne machen.« Dabei blieb der Kutscher.
Es half nichts, Verachen mußte den gefahrvollen Abstieg antreten.
»O Gott, meine schönes Kleid!« – Da hatte der weiße Schleierstoff an den frischgeteerten Wagenspeichen gestreift und zeigte düstere Färbung. Vera fing fast an zu weinen vor Ärger.
»Wir waschen es gleich bei Marlene aus« – »ist ja Waschstoff« – »bloß sich dadurch nicht die Laune verderben lassen.« Von allen Seiten sprach man ihr gut zu.
»So, Herr Kutscher, nun kann’s losgehen.«
»Erst berappen, meine Herrschaften, zwei Mark pro Mann.«
»Ist das drittel Dutzend nicht billiger?« erkundigte sich die ausgelassene Annemarie.
Das Wägelchen setzte sich in Bewegung. Die drei auf dem schmalen Rücksitz klammerten sich fest aneinander, um nicht herunterzufallen. Man quiekte bei jeder Straßenbiegung. Annemarie hätte am liebsten trotz der Hitze den dicken Kutscher untergeärmelt. Sie schwebte da oben auf der äußersten Bockkante. Denn ihr umfangreicher Nachbar brauchte fast den ganzen Sitz für sich allein.
Wagen über Wagen. Wirklich, ganz Berlin auf Rädern. Vater hatte recht. Scherzworte flogen hinüber und herüber. Das stattliche Jagdwägelchen mit seinen blühenden Insassen wurde öfters die Zielscheibe für den Berliner Witz.
Annemarie antwortete keck. Sie war schlagfertig und verstand auf einen Scherz einzugehen. Margot verkroch sich ängstlich, Marianne kicherte und Vera lachte gleichfalls, ohne alles zu verstehen. Dabei hatten sie nicht acht auf den Weg. Schließlich aber kam Margot, die am zuverlässigsten war, die Gegend doch nicht so ganz geheuer vor.
»Du, Annemie, frage den Kutscher doch mal, ob wir bald da sind.« Sie zupfte an dem vor ihr sitzenden Rosenknospenkleid.
»Wie weit ist es noch, Herr Kutscher?«
»Jleich sind wa Endstation.«
Annemarie sah sich betroffen um. »Hier ist doch nicht das Zentrum von Berlin? Wir wollen doch nach dem Alexanderplatz,« meinte sie unsicher werdend.
»Nee, hier ist der Wedding,« war die ganz gemütliche Antwort.
»Ach, du lieber Himmel!« Die Backfische sahen sich an, und dann brachen sie plötzlich in lautes Lachen aus.
»Aber, Kinder, da ist doch nichts zu lachen. Wie kommen wir denn nun bloß nach dem Alexanderplatz?« rief Margot, vom Lachen jäh in eine weinerliche Stimmung fallend.
»Mit unserer Equipage hier.« Annemarie war noch immer sorglos. »Der Herr Kutscher wird uns schon hinfahren.« Dabei strahlten die blauen Mädchenaugen den Fuhrwerksbesitzer liebevoll an.
»Nee, is nich. Ich und mein Hottehü, wir machen nu Schicht. Wa sind bei die Hitze schon ’n janzen Tag jebraten, nu sind wa knusperig jenuch. Jetzt jeht’s zu Muttern in’n Stall.«
»Aber es steht doch an Ihrem Wagen Alexanderplatz – ich hab’s deutlich beim Einsteigen gelesen – wie können Sie uns denn da bloß nach dem Wedding fahren?« begehrte Marianne auf.
»Ja, und noch dazu uns zwei Mark dafür abnehmen.« Selbst die schüchterne Margot bekam Mut, da es sich um ihr bescheidenes Taschengeld handelte.
»Na nu halten Se aber de Luft an, Fräuleinchen! Können Se nicht lesen? Wedding – Alexanderplatz – Zoo steht an meine Equipage. Wa machen immer ’ne Rundtour, meine Liese und ich. Und nu sind wa anjelangt – nu steijen Se jefälligst ab.« Der Mann wurde von der Hitze und dem unberechtigten Vorwurf nun auch ärgerlich.
»Ach, Herr Kutscher« – noch einmal versuchte Annemarie ihre ganze Liebenswürdigkeit – »seien Sie doch kein Frosch und fahren Sie uns nach dem Alexanderplatz. Dann bringen wir Ihnen auch ein großes Stück Geburtstagskuchen von unserer Freundin mit.«
Aber nicht mal der verfing.
»Nee, det können Se nich von mich verlangen. Da würde meine Liese nicht schlecht aufmucksen.«
»Die Liese sieht doch so sanft aus.« Annemaries Blicke streichelten nun auch zärtlich den fliegenumsurrten Gaul.
Es half nichts. Die vier mußten von Liese und ihrem Besitzer Abschied nehmen.
Da standen sie nun mitten auf dem sonnenblendenden Weddingplatz, in einer ganz anderen Gegend Berlins, als da, wo sie hinwollten. Die Hitze lastete wie ein schweres Brett auf dem Kopf.
»Das haben wir fein gemacht – dreimal gehörnte Kamele sind wir,« verfiel Annemarie in Selbstbetrachtungen.
»Dieses Tier steht nicht in meinem Zoologiebuch,« belehrte sie Margot gewissenhaft.
»Und der Kaffee wird kalt, und den Geburtstagskuchen essen sie inzwischen gewiß auf,« jammerte Marianne.
»Auf heißen Kaffee verzichte ich – aber wir müssen sehen, daß wir ein anderes Fuhrwerk nach dem Alexanderplatz bekommen,« ermannte sich Annemarie.
»Was – noch mal soviel Geld ausgeben?« entsetzte sich Margot. »Können wir nicht laufen?«
»Dann sind wirr heute in die Abend da, Margot, du bist eine geizige Krragen.«
»Und außerdem können wir ’n Hitzschlag kriegen,« stellte Annemarie fest.
»Hier kommt ja ein Wagen nach dem Alexanderplatz – sogar ein Automobil. Damit sind wir schnell da.« Marianne wies auf einen grauen Riesenkasten, der ratternd in einer grauen Staubwolke hielt.
»Da steht ja dran ›Berliner Abfuhrgesellschaft‹ – pfui!« Margot rümpfte das Näschen.
»Macht nichts – die Hauptsache, daß wir schnell hinkommen und der Kuchen noch nicht aufgefuttert ist,« regte sich Marianne auf.
»Immer rauf – es fahren ja noch mehr Leute mit. Mistgeruch soll sogar gesund sein,« entschied das Arzttöchterchen.
Das Hinaufkommen war nicht so einfach. Die hohe Rückwand des grauen Kastens mußte erst heruntergeklappt werden; eine Leiter wurde angestellt; darauf balancierten die jungen Damen mit ihren duftigen Kleidern in das duftende Innere. Hinter ihnen klappte der Wagen wieder zu.
»Pfui Deibel – ist das hier eine Luft!« Der Wagen strömte bei der Hitze einen doppelt widerwärtigen Geruch aus. »Wo ist denn unsere lebendige Parfümflasche? Komm, Marianne, zwischen uns mußt du dich stellen, sonst wird man ohnmächtig.« Man riß sich plötzlich um die nach Veilchenparfüm duftende Freundin. Weder Bänke noch Stühle gab es in dem wenig einladenden Müllwagen. Nebeneinander wie die Ölsardinen wurden die Fahrgäste stehend eingeschachtelt. Bei jeder Ecke fielen sie kreischend aufeinander. Denn an dem schmutzigen Wagen mochte sich keiner festklammern.
»Wie in der Arche Noah,« lachte Annemarie, deren Humor nie versagte.
»Hoffentlich wirr nicht krriegen auch das Sintflut.« Vera schaute bedenklich in den Himmel.
Nanu? Was war denn mit dem vorgegangen? Der war doch vor kurzem noch ganz blau gewesen. Der weißliche Dunst hatte sich verdichtet, zu schweren, unheilvollen Wolken geballt. Fahl und stechend kam ein letzter Sonnenstreif aus grauschwarzem Gewölk.
Sollten Mutters Knochen am Ende doch recht behalten?
»Ehe das Wetter herunterkommt, sind wir da. Unser vornehmes Mistauto rast ja mit uns wie der Deibel mit seiner Großmutter!« Annemaries glücklicher Leichtsinn behielt noch immer die Oberhand.
Aber das drohende Unwetter war doch noch schneller als die Berliner Abfuhrgesellschaft. Zuerst ein Windstoß – ein Staubwirbel, daß man die Augen nicht mehr aufmachen konnte. So – das war der Auftakt. Nun die ersten Tropfen, schwer und langsam. Und jetzt ein blendender Zickzack, die siedenden Luftwellen zerteilend. Gleich darauf ein Krachen, ohrenbetäubend und entsetzenerregend. Nicht nur Margot, die große Furcht vor einem Gewitter hatte, schrie vor Schreck auf, auch die andern klammerten sich angstvoll aneinander.
Als ob der Höllenschlund seinen verderbensprühenden Rachen aufgetan, war die Luft plötzlich von schwefelgelben Feuern durchlodert. Blitz auf Blitz – Dröhnen, Krachen und Bersten – peitschender Gewittersturm – Regengepladder. Mitleidslos durchweichte der Regen die zarten Sommerkleider auf dem offenen Wagen. Wie ein kaltes Sturzbad ging es über die verlechzten Menschen.
»Das tut gut.« Ein Fahrgast nahm seinen Hut vom Kopf und ließ das Regenwetter wie aus einer Dachrinne davon laufen. »Das tut gut,« sagte er nochmals tief aufatmend.
Darüber konnte man geteilter Meinung sein. Die vier Backfische, die fast davonschwammen, sahen entsetzt auf ihren durchweichten Staat.
O Gott, das Rosenknospenkleid! Triefend und unansehnlich wie ein Scheuerlappen klebte es an seiner geknickten Besitzerin. Nun würde am Ende gar nichts aus der Tanzstunde werden. Vera versuchte ihre Teerflecke mit Regenwasser auszuwaschen. Marianne vergaß selbst den Kuchen vor Aufregung. Und Margot sah zum Glück überhaupt nichts: die hielt sich vor den Blitzen angstvoll die Augen zu.
Endlich am Ziel.
Ein schwarzes Bächlein rieselte aus den Haaren und Kleidern der vier herab, bis hinein in die Ulrichsche saubere Wohnung.
Dort wurden sie sehnsüchtig erwartet.
»Das kommt davon, wenn ihr erst so spät zu erscheinen geruht. Wäret ihr pünktlich gewesen, hättet ihr das Wetter nicht abgekriegt,« empfing sie das Geburtstagskind vorwurfsvoll.
»Wir haben doch eine kleine Extratour nach dem Wedding gemacht.«
»Himmel, seht ihr aus! Wie vier Vogelscheuchen. Und riechen tut ihr wie ein Misthaufen!« Ilse hielt sich die Nase zu.
»Wir sind auch von der Berliner Abfuhrgesellschaft befördert worden.« Die muntere Annemarie war ganz kleinlaut. Das verdorbene Kleid und die unbehagliche Nässe trugen die gleiche Schuld daran.
»Kinder, in der Verfassung könnt ihr nicht auf meine Polster und Teppiche. Kommt mal erst in das Badezimmer, daß ihr einigermaßen wieder menschlich werdet.« Frau Doktor Ulrich lachte mit Marlene und Ilse um die Wette über die vier traurigen Gestalten.
»Das beste wäre, man steckt die ganze Gesellschaft nebst ihren Kleidern ins Wasser,« schlug Marlene vor, die von den duftenden Geburtstagsgrüßen nicht gerade entzückt war.
»Ja, ins Familienbad!« Den vieren war recht ungemütlich in ihrer Haut.
Nur Marianne hätte gern zuvor dem Geburtstagskuchen zugesprochen: aber sie mußte sich der Mehrheit fügen. Erst kam die Sauberkeit.
Bald drang ein Lachen und ein Juchhei aus dem Badezimmer, daß Marlenes Mutter verschiedene Male anklopfen mußte, damit die Untermieter sich nicht beschwerten. Es dauerte lange, bis vier reingewaschene Jungfrauen in merkwürdigen Verkleidungen endlich wieder erschienen. Der Kaffeetisch hatte sich inzwischen in einen Abendbrottisch verwandelt, so spät war es geworden. Geburtstagskuchen bekamen sie aber trotzdem noch.
»Wir wollten ja so gern Marlenes Geburtstag am Wasser feiern, nun haben wir das gründlich besorgt, sogar im Wasser.« Annemarie, in einem bis auf die Füße herabhängenden Morgenrock von Marlenes Mutter, war jetzt wieder ganz obenauf.
Die vier Mistkäfer – so hatte Ilse sie getauft – aber hatten in ihren verdorbenen Kleidern noch lange eine Erinnerung an ihre Landpartie mit der Berliner Abfuhrgesellschaft.