Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 94
11. Kapitel
Tanzstunde
ОглавлениеDie lustigen bunten Astern in den grünen Blumenkästen, die Annemarie selbst vor ihren Fenstern gesät hatte, waren abgeblüht. Novemberregen schlug die letzten bräunlichen Blätter tot. Jenseits der Scheiben neigte sich ein blonder Mädchenkopf in angestrengter Arbeit über dickleibige Folianten und Hefte. Die Feder kritzelte eifrig. Ab und zu trat eine kleine Falte auf die weiße Mädchenstirn. Es war nicht so einfach, sich die Reife für die Prima zu erringen. An die Obersekunda wurden im letzten Halbjahr große Ansprüche gestellt. Doktors Nesthäkchen, so begabt es auch war, mußte fleißig arbeiten, um den Wünschen der Lehrer zu genügen.
Außerdem gab Annemarie noch dreimal in der Woche zurückgebliebenen Schülerinnen unterer Klassen Nachhilfestunden. Der Ordinarius der Obersekunda hatte Umfrage in seiner Klasse gehalten, wer Nachhilfestunden übernehmen würde. Annemarie Braun und Marlene Ulrich hatten sich sofort gemeldet. »Denke nur, Marlene, was wir alles von dem schrecklich vielen Geld, das wir verdienen werden, bestreiten können,« hatte Annemarie frohlockend Pläne gemacht. »Theater-und Konzertbillette, Eisbahn und Tennis – Klaus hat von seinem Stundengeld sogar mit Hans im Sommer eine Wanderung durch den Schwarzwald unternommen.«
Die Eltern waren allerdings nicht so recht einverstanden mit den Plänen des Töchterchens. »Kind, du hast selbst genug zu lernen, um gut im Gymnasium mitzukommen. Und wenn du dich in deiner freien Zeit im Haushalt betätigst, ist dir das gesünder und zuträglicher. Du hast doch selbst als Kindermädel bei Doktor Langes einsehen müssen, wie wenig du noch von wirtschaftlichen Dingen verstehst,« hatte die Mutter zu bedenken gegeben.
»Ich vermiete mich ja so bald nicht wieder als Kindermädel.« Alle Einwürfe hatte Annemarie fortgelacht. »Und es dürfen überhaupt nur Schülerinnen, die gut in der Klasse stehen, Unterricht erteilen. Schlechte Schülerinnen werden zurückgewiesen.«
»Es werden aber unter den guten Schülerinnen sicherlich junge Mädchen sein, die ein Taschengeld notwendiger brauchen als du, Lotte,« hatte auch der Vater eingewandt. »Die sich nicht nur Theaterbillette davon kaufen müssen, sondern in der heutigen schweren Zeit auch Kleider und Schuhe. Ich möchte nicht, daß meine Tochter ärmeren Mädchen ihren Verdienst fortnimmt.«
»Tut sie ja auch nicht, Vatchen. Alle, die sich gemeldet haben, sind berücksichtigt worden und haben Stunden bekommen. Nur schwache Schülerinnen sind ausgeschaltet worden.«
So verwandelte sich Doktors übermütiges Nesthäkchen dreimal in der Woche in eine ehrbare Lehrerin und wurde ein kleiner Krösus, wie Vater sie scherzweise nannte.
Eine Stunde aber gab Annemarie, für die sie keine Bezahlung bekam, und die ihr trotzdem die größte Freude bereitete. Sie unterrichtete ihre Freundin Vera. Die junge Deutschpolin stand schlecht in der Klasse. Annemarie gab sich grenzenlose Mühe, das fehlerhafte Deutsch der Freundin einwandsfreier zu gestalten, und ihr behilflich zu sein, die Schwierigkeiten, die ihr aus dem mangelhaften Verständnis der deutschen Sprache erwuchsen, überwinden zu helfen. Denn ihr Onkel, Herr von Hohenfeld, wollte Vera, wenn sie zu Ostern nicht nach Unterprima kam, vom Gymnasium fortnehmen. »Unnütze Tierquälerei,« nannte er es. Vera sollte ins Lettehaus und Photographie erlernen. Nein, ohne ihre Vera machte Annemarie das Gymnasium auch keinen Spaß mehr. Vera mußte nach Unterprima versetzt werden.
Die fleißigen Bemühungen der Freundinnen hätten auch sicher Erfolg gehabt. Wenn sie nur nicht in diesem Winter gerade Tanzstunde genommen hätten. Tanzstunde – ist es wohl möglich, an deutsche Grammatik, an Geometrieberechnungen und unregelmäßigen Verben zu denken, wenn es zu überlegen gilt, ob man bei dem neuen Tanz Hiawatha erst drei Schritte links, oder drei Schritte rechts machen muß? Welche Tour bei dem One-step zuerst kommt, ob die Schleiftour oder die Knickstour? Das waren Fragen von so ungeheurer Wichtigkeit, daß man darüber wirklich Parallelogramm, Virgil und Hermann-und-Dorothea-Aufsatz vergessen konnte.
Frau Doktor Braun war gleich dagegen gewesen, Annemarie in diesem Winter Tanzstunde nehmen zu lassen. Sie kannte ihr zerfahrenes Töchterchen, das sich dadurch sicher von ihren Pflichten ablenken lassen würde. Sie riet ihrer Lotte, bis nach dem Abiturientenexamen mit der Tanzstunde zu warten.
»Was – bis nach dem Examen? Dann bin ich ja eine Greisin. Neunzehn Jahre bin ich ja dann schon alt. Nee, Mutti, dann bin ich sicher so steifknochig wie Tante Albertinchen. Und die Mädel nehmen doch alle in diesem Winter. Wer weiß, ob Klaus dann gerade in Berlin studiert; dieses Jahr ist er doch noch hier. Und es ist doch gut, für alle Fälle einen Herrn zu haben, der mit einem tanzt, wenn man sitzen bleibt.«
»Wenn man nachher in der Klasse sitzen bleibt, setzt es einen Tanz, der weniger schön ist, Lotte!«
Was nützt alle Mutterlogik den Bitten und Versprechungen des Töchterchens gegenüber. Annemarie nahm mit ihren Freundinnen Tanzstunde und brauchte wirklich keine Angst zu haben, bei einem Tanz sitzen zu bleiben. Das lustige, anmutige Ding war die beliebteste Dame in der Tanzstunde. Selbst Vera, welche die leichtfüßige Grazie der Polin besaß und mit ihrem zarten Gesicht zu dem tiefschwarzen Haar als kleine Schönheit galt, wurde nicht so begehrt wie Doktor Brauns munteres, kindlich frohes Nesthäkchen.
»Ja, wenn die Annemarie ihren Bruder Klaus mit seinen Freunden in der Tanzstunde hat, ist es kein Wunder, wenn sie immerzu aufgefordert wird,« meinten die Kränzchenschwestern. Aber diese Äußerung war nicht ganz frei von Neid, und daher nicht so recht maßgebend.
Annemarie wollte ihrer Mutter beweisen, daß man Tanzstunde haben konnte, ohne seine Pflichten zu vernachlässigen. Darum lernte sie, daß ihr der Kopf rauchte, während draußen der Novemberregen gemütlich gegen die Dachrinne trommelte. Stand doch als Belohnung heute abend die Tanzstunde wieder in Aussicht.
Einen französischen Aufsatz über Chateaubriands »Jerusalem« hatte sie augenblicklich auszuarbeiten. Ziemlich schwierig und »geisttötend«, wie allgemein von den Mädeln Kritik geübt wurde. » Les murs de Jerusalem se lèvent
« – – – da – horch – Musik – ein Leierkasten trotz Wind und Wetter. Was spielte er denn? Ach, das Schwarzwaldmädel. Annemaries frische Lippen begannen die bekannte Melodie, die vom Hof heraufklang, mitzuträllern. »Lalalalala – lalalalala – les murs de Jerusalem se lèvent sur sept collines
– tralala – tralala.« Die Füßchen begannen im Takt auf und niederzuwippen. » Les pierres des murs se composent de granit
– – –« Da stürzten die Mauern von Jerusalem mit Annemaries Pflichtbewußtsein zugleich zusammen. Der Stuhl flog zu Boden, Annemarie aber zwischen Schreibtisch und Bett im Rheinländerschritt auf und nieder. Tralala – lalala. Was kümmerte sie noch, aus welchen Steinen sich die Mauern von Jerusalem zusammensetzten? Hin und her, rechts und links, rund im Kreis tralalalalala.
Das Hausmädchen brachte das frisch geplättete Rosenknospenkleid. Sie blieb vor Erstaunen über ihr herumhopsendes Fräulein starr in der geöffneten Tür stehen.
Aber schon hatte Annemarie sie beim Wickel. »Sie können doch Schwarzwaldmädel, los – Minna!« Tralala – lalala – Minna mußte mit, auf und ab, rings herum – tralalalala – tralalalalala – das geplättete Rosenknospenkleid hoch in der erhobenen Hand. Denn Annemaries Tanzeifer hatte ihr nicht mal Zeit gelassen, dasselbe auf den Bügel zu hängen. Lalalalala – lalalala – knacks – da brach das Konzert unten jäh ab.
»Der Portier, der eklige Kulicke, hat den Leierkastenmann sicher vom Hof gejagt – solche Ruppigkeit!« schalt Doktors Nesthäkchen erhitzt. »Aber das schadet nichts, wir können auch ohne Musik tanzen, ich singe dazu, Minna.«
»Aber Fräulein Annemarie, ich habe doch keine Zeit. Ich muß noch die ganze Rollwäsche plätten.« Das Mädchen eilte davon.
»Dann muß Hanne ran.« Annemaries Tanzwut war jetzt entzündet. »Hanne, können Sie Jas tanzen?«
»Jas? Du bist woll nicht recht bei Troste, Annemiechen! Mit’n Jas habe ich jetzt alle Tage ’n Tanz während der Sperrstunden, wenn es nich brennen will – – –« Hanne sah wütend wie eine Bulldogge drein.
Das half ihr alles nichts. Schon hatte Annemarie die dicke Küchenfee rund um die umfangreiche Taille gepackt, die frischen Lippen pfiffen kunstgerecht die Melodie, und auf und nieder ging es mit der Widerstrebenden. Puck, munter bellend, hinterher.
»Sehen Sie, das ist der neue Tanz Jas, Hanne – den muß jede junge Maid unter fünfzig Jahren können.«
»Quatsch mit die modernen Tänze! Du bist und bleibst ’ne richt’ge Jöre, Annemiechen, trotzdem de nu schon bald an die siebzehn bist. Schämste dir denn jar nich vor Minna, wie soll die denn den notwendigen Respekt vor dich als Fräulein haben?« So schalt Hanne. Zur Strafe wirbelte Annemarie sie jetzt im Galopp herum. »Der Tanz wird Ihnen doch altmodisch genug sein, Hanne!« Damit ließ sie die schwer Japsende los.
»Jeh lieber zu deine Bücher,« fauchte Hanne atemlos.
»Ist das der Ernst, den du zu deiner Arbeit notwendig hast?« erklang es da auch aus dem Nebenzimmer vorwurfsvoll. Die Mutter war von dem Lärm aus ihrer Ruhe aufgescheucht worden.
Annemarie schlich betroffen zu ihrem Schreibtisch zurück, Puck in seinen Korb. Wer konnte denn was dafür, wenn plötzlich ein Leierkasten alle guten Vorsätze über den Haufen warf! Annemarie vertiefte sich wieder in ihren französischen Aufsatz. Aber sie konnte es doch nicht hindern, daß ab und zu das Schwarzwaldmädel zwischen den Mauern von Jerusalem hervorlugte.
Sieben Schläge dröhnten von der großen Standuhr durch die Wohnung. Klapp – erleichtert schlug Annemarie ihre Bücher zu. Nun war es Zeit zum Anziehen. Heute mußte sie sich besonders fein machen. Großmama und Bruder Hans, der dieses Semester in Berlin studierte, hatten versprochen, zum Zusehen in die Tanzstunde zu kommen.
»Na, ist unsere Balldame fertig?« Doktor Braun, der bereits am Abendbrottisch saß, musterte sein hübsches Töchterchen in stolzer Vaterfreude.
»Ja – Klaus nölt natürlich noch. Der läuft ’ne ganze Stunde mit der Schnurrbartbinde herum und denkt, seine niedliche Anpflanzung wird dadurch wachsen. Ich wollte ihm schon an der halben Mandel Schnurrbarthärchen ein Schild mit ›Schonung‹ anmachen – – –«
»Frechdachs!« unterbrach der eintretende Bruder das Wortgesprudel. »Zur Strafe tanze ich heute kein einziges Mal mit dir – – –«
»O Gott, das wirst du mir nicht antun, Kläuschen. Dann muß ich ja den ganzen Abend über Mauerblümchen spielen und die Wand schmücken,« lachte der Kobold.
»Verdienen würdest du’s!« Klaus sah in seinem dunkelblauen Jackettanzug, den Taschentuchzipfel keck aus der linken Brusttasche, nicht weniger schmuck aus als sein hübsches Schwesterchen. Seit Oktober war er Student auf der landwirtschaftlichen Hochschule.
»Was, Klaus, jetzt willst du erst noch essen? Es ist ja schon in fünf Minuten acht. Und ich bin zum ersten One-step bereits von Richter aufgefordert!« drängte Annemarie.
»Dann muß sich der Ärmste gedulden. Meine Käsestulle ist mir wichtiger.«
»Lotte, du ißt auch noch etwas, ohne Abendbrot gehst du nicht fort,« erklärte der Vater.
»Ich kann wirklich nicht, Vatchen, ich bin ganz schrecklich satt.«
»Ballfieber nennt man das bei uns zu Lande,« lachte Hans, ihr Bester, sie aus. »Komm, Kleinchen, ich füttere dich.«
»Lotte, vergiß nicht eine saubere Frisierjacke über das Kleid zu ziehen. Der Mantel ist dunkel gefüttert und kann abfärben. Und Überschuhe bei dem Wetter!« Die Mutter kannte ihr leichtsinniges Mädel, das am liebsten, so wie es war, auf und davon gelaufen wäre.
»Margot ist schon weg – ich habe eben die Tür klappen hören. Wir kommen natürlich immer zu spät.«
Minna zog ihr einen Überschuh an, Hanne den anderen. Hans schob ihr inzwischen die Abendbrotbissen in den Mund. Es war eine Aufregung für das ganze Haus, wenn Tanzstunde war.
»Ich kann ja nicht mehr atmen, Mutti,« wehrte sich das Backfischchen, als die Mutter ihr vorsorglich noch den Kopfschal um den Hals wickelte.
»Auf Wiedersehen« – »auf Wiedersehen« – »erhitze dich nicht zu sehr, mein Mädel« – – – da war das Braunsche Kleeblatt bereits aus der Tür und die Treppe hinab.
»So, nun ist Ruhe im Lande.« Die Eltern atmeten unwillkürlich auf.
»Puh – ist das ein Wetter!« Annemarie schauerte in dem Regengepladder zusammen.
»Wollen wir umkehren?« neckte Hans.
»Jawoll ja – sagt Olja!« übermütig ärmelte Annemarie den einen Bruder links, den anderen rechts unter und nun frisch drauflos.
Die Tanzstunde fand in einem Gesellschaftssaal statt. Eine liebenswürdige junge Dame, Fräulein Steinert, für welche alle Backfische schwärmten, und alle Jünglinge entbrannt waren, gab den Unterricht.
Wohlig und warm empfing die drei Durchnäßten das erleuchtete Vestibül. An der Garderobe drängten sich noch einige Verspätete. Aus dem Saal klang bereits Tanzmusik.
»Flink – flink – es hat schon angefangen.« Annemarie riß Kopftuch und Mantel ab. Da erschien auch schon ihr Kavalier.
»Warum kommt ihr denn so spät – wir sollen heute Boston lernen – flink, Annemarie.« Er zog seine Tänzerin in den Saal. Dort hüpften beim strahlenden Schein der Glühbirnen die weißen, rosa und mattblauen Backfische mit ihren Herren, von denen die meisten noch Kniehosen trugen, auf und nieder. An den Wänden aber saßen die verschiedenen Mütter und Tanten, mit Lorgnetten bewaffnet, und zählten eifrig, ob ihre Tochter und Nichte auch nicht weniger tanzte als eine Freundin. Mitten unter ihnen erblickte Annemarie Großmamas liebes Gesicht.
Musik, Lichterglanz, heiße Mädchenwangen, wehende Haare – dazwischen Fräulein Steinerts Kommandostimme. Annemarie schwamm in einem Meer von Glückseligkeit. Sie nickte zwischen einer langsamen Schleiftour Großmama strahlend zu. Aber was war denn das? Großmama nickte ja gar nicht so freundlich wieder wie sonst. In peinlicher Verlegenheit winkte sie der Enkelin. Und die andern Damen? Die hatten ja alle ihre Lorgnettengläser auf ihre Füße gerichtet. Was gab es denn da bloß zu starren? Annemarie schielte an Richters Hosenbein vorbei auf ihre Füße. Gerechter Strohsack – sie hatte ihre Überschuhe anbehalten. Zwischen all den leuchtenden Goldkäfer-und Lackschuhchen sprangen die schmutzbedeckten Ungeheuer wie plumpe Riesen unter einer graziösen Elfenschar herum. Es war ihr doch gleich ein so merkwürdiges Gefühl an den Füßen gewesen. Aber deshalb mitten im Tanz aufhören – so dumm! Zu den Schleiftouren des One-step eigneten sich die Gummischuhe gar nicht schlecht. Und die Lorgnetten rings im Kreise störten Annemarie kaum in ihrem Vergnügen. Wenn die ihre elegante Fußbekleidung genug in Augenschein genommen, würden sie schon wieder wo anders hinsehen.
Da packte sie mitten in der Humpeltour des One-step das Verderben. Eine Hand, die zu Bruder Hans gehörte, legte sich auf ihren Arm und hielt sie fest.
»Du, Annemie, du sollst sofort aufhören zu tanzen, läßt dir Großmama sagen. Sie schämt sich für dich die Augen aus dem Kopf vor all den fremden Damen. Du sollst dir deine Elefantentreter ausziehen und den fliegenden Holländer, den du da um die Schulter geschlagen hast,« entledigte er sich, lachend auf die merkwürdige Balltoilette der Schwester weisend, seines Auftrages.
»Was soll ich, Hans?« Annemarie ließ Richter los und griff sich an die Schultern, um die in der Tat irgend etwas Merkwürdiges flatterte.
»Herrgott, mein Frisiermantel! Das kommt davon, wenn man solch dämliches Dings unterziehen muß! Wer kann denn in der Eile auch daran denken! Einen Augenblick – der Schaden ist gleich kuriert.« Und unbekümmert um die gestielten Augen ringsherum und um die erstaunten Blicke der vorbeitanzenden Paare, entledigte sich Doktors Nesthäkchen mitten im Saal unter den Klängen des One-step ihres fliegenden Holländers und der Elefantentreter.
Die Damen an den Wänden lächelten. Großmama lächelte gleichfalls, wenn auch etwas gezwungen. Aber als aus der schnurrigen Raupenverkleidung ein graziöser Schmetterling sich entpuppte und lustig weiter im Tanze herumflog, mußten sich die verschiedenen Mütter doch zugestehen, daß Doktor Brauns Nesthäkchen das anmutigste unter all den schwebenden Elfchen war.
Der gute Bruder Hans aber trabte mit Frisiermantel und Überschuhen zur Garderobe und murmelte nur belustigt vor sich hin: »So ’ne Krabbe!«
Der Tanz war zu Ende! Die Jünglinge zogen sich in die eine Ecke des Saales zurück, die Backfische in die entgegengesetzte. Dort wurde geflüstert und gekichert.
»Annemie, warum kommst du nicht lieber gleich mit Pantoffeln zur Tanzstunde?« neckte Ilse.
»Wie kann man nur so vergeßlich sein!«
»Natürlich, dem Tugendschäfchen kann so was nicht passieren.«
»Du haben gesehen aus wie grroßes Fledermaus, das flattert herrum im Saal,« lachte auch Vera. Da entwischte Annemarie vor dem Spott der Kränzchenschwestern zur Großmama.
Großmama, die liebe, gute, hatte die Verlegenheit, in die sie Annemaries Unachtsamkeit gestürzt, schon wieder überwunden. Sie strich ihrem Liebling die übermütigen krausen Blondhaare aus der erhitzten Stirn und händigte ihr eine große Tüte Eisbonbons zur Abkühlung für sich und ihre Freundinnen ein. Von den neuen Tänzen aber wollte Großmama durchaus nichts wissen. Walzer, Polka und Rheinländer, Quadrille und Contre, die Tänze ihrer Jugend, waren doch viel schöner.
Annemaries umfangreiche Bonbontüte lockte auch die jungen Herren unter Anführung von Klaus aus ihrer Ecke heraus. Im besten Schmausen aber erklang das Händeklatschen von Fräulein Steinert: »Drei Paare zum Boston antreten.«
Ein viertel Dutzend Jünglinge stürzten sich auf die erwartungsvoll dasitzenden Backfische und angelten sich drei derselben heraus. Unter ihnen natürlich Annemarie Braun, die mußte ja stets dabei sein.
Fräulein Steinert tanzte Schritte und Drehungen vor. »Immer gegen den Takt wird geschleift, umgekehrt wie beim Walzer – das erste Paar, bitte.«
Klaus mit Vera traten vor.
»Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs – eins – zwei – drei – falsch, umgekehrt den Schritt machen, Herr Braun,« rief Fräulein Steinert.
»Herr Braun« machte den Schritt umgekehrt und ein jammervolles »Au – meine Fuß!« übertönte die Bostonklänge. Vera hüpfte wie eine Bachstelze auf einem Fuß im Kreise herum, während Annemarie Klaus ein liebevolles »Trampeltier!« an den Kopf warf.
»Das zweite Paar antreten!« Marlene mit einem Jüngling, der seiner unheimlichen Länge wegen von den ausgelassenen Mädeln »der Unendliche« genannt wurde. Marlene, die kleine, zierliche, konnte nicht bis zu seiner Schulter hinauflangen. Sie ankerte sich irgendwo oberhalb seines Ellbogens fest und dann ging’s los »eins – zwei – drei – vier –« da hatte der Unendliche seine kleine Dame unterwegs verloren. Jeder machte auf eigene Faust merkwürdige Sprünge, die mehr an den Zoologischen Garten als an Boston erinnerten.
Das dritte Paar trat an. Annemaries Partner war ein netter Primaner, leider aber unmusikalisch wie ein Schellfisch. Die Mädel verschanzten sich, sobald er in Sicht war, denn es war unmöglich, mit ihm in Takt zu kommen. Annemarie Braun pflegte er besonders mit seiner Verehrung zu beglücken. Die Kränzchenschwestern kicherten stets und machten ihre spöttischen Bemerkungen, wenn das Unglückswurm auf Annemarie lossegelte. Auch jetzt saßen sie bereits mit schadenfroher Miene da.
Fräulein Steinert zählte. »Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs« – Lauter aber zählte Annemarie Braun. »Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs –« Bei jeder Zahl schlug sie mit der Linken den Takt auf der Schulter des unmusikalischen Tänzers. Und wirklich, das Kunststück gelang. Das Paar blieb im Takt, und machte seine Sache zur Zufriedenheit. Allerdings trug die rechte Schulter des Kavaliers am nächsten Tage blaue Flecken davon. Denn Annemarie verstand das Boxen von Bruder Klaus her.
Ein Paar nach dem andern. Das eine geschickt, das anders tolpatschig, bis alle den Tanz konnten. Dann wurden die bereits gelernten Tänze wiederholt. Auch Walzer, Polka und Rheinländer wurde zu Großmamas Beruhigung aus der Vergessenheit hervorgekramt.
»Damenwahl.« Das ist eine aufregende Angelegenheit für die Jünglinge. Wird »sie«, die Tanzstundenflamme, vor ihm den kleinen schnippischen Backfischknicks machen? Geht sie vorüber zu einem andern? Sieben Jünglingsherzen schlugen rascher, als Annemaries Rosenknospenkleid angehüpft kam. O weh, es hüpfte weiter, an der ganzen Reihe selbstbewußter Primaner-und Studentengesichter vorbei. Bis zu den Müttern und Tanten hin, unter denen, an das Klavier gelehnt, Bruder Hans stand. Doktors Nesthäkchen versank in einem tiefen Hofknicks. »Darf ich bitten, mein Herr?«
»Nein, Annemie, das kannst du nicht verlangen, daß ich bemoostes Haupt hier die Lämmersprünge mitmache. Sieh mal, da sitzen ja noch genug ›Zavaliere‹ mit sehnsüchtigen Augen.« Seitdem Annemarie als kleines Mädel mal für das Wort Cavalier »Zavalier« gelesen hatte, sprach Hans es niemals anders mehr aus.
Aber es half ihm alles nichts. Annemarie wollte keinen andern »Zavalier«. Hans mußte mit ihr Hiawatha tanzen, begleitet von neidischen Blicken der sitzengebliebenen Verehrer Nesthäkchens. Annemarie strahlte. So fein konnte keiner tanzen wie ihr Hänschen.
Aber Hans verstand noch mehr. Die Tanzstunde war zu Ende. Der Klavierspieler packte schwitzend und erleichtert seine Noten zusammen. Im Saal drängten sich die Backfischchen um Fräulein Steinert: »Ach bitte, bitte – dürfen wir nicht noch ein bißchen nachtanzen?«
Die nette junge Dame lächelte freundlich Gewährung.
»Wenn sich jemand zur Klavierbegleitung findet.«
Ja, da lag der Hase im Pfeffer. Weder die Mädel, noch die Herren Jungen mochten die Hauskapelle übernehmen. Jeder von ihnen wollte tanzen.
»Hänschen muß spielen. Hänschen spielt fein!« Annemarie eilte auf den Bruder los und hinter ihr her der ganze Schwarm Tanzlustiger.
»Hänschen muß spielen – ach, bitte, bitte!« riefen sie alle ausgelassen. Den Bitten so vieler schöner Augen konnte Hans nicht widerstehen. Man schleppte ihn im Triumph zum Klavier.
»Körbchen tanzen – wir wollen Körbchen tanzen,« wurde vorgeschlagen.
»Was ist das denn?«
»Werdet ihr schon sehen – wo kriegen wir bloß Körbe her?« Mehrere Mädel eilten in die Garderobe – doch vergeblich. Ein Korb konnte dort nicht aufgetrieben werden.
Annemarie und Vera waren auf die gute Idee verfallen, unten in der Restaurationsküche nachzufragen. Die eine kam mit einem Riesenmarktkorb, die andere sogar mit einem Waschkorb zurück.
»Aber Kinder, soll man damit etwa tanzen?«
»Es muß ein kleines zierliches Körbchen sein,« erklärte ein junges Mädchen.
»Haben wir nicht, folglich muß es mit dem Marktkorb gehen.«
Eine der Damen wurde auf einen Stuhl gesetzt und der Marktkorb ihr graziös in die Hand gegeben. Zwei Herren traten vor sie hin und machten ihr eine Verbeugung. Der eine bekam den Korb, mit dem anderen tanzte sie lachend davon. Der Herr aber, der den Korb erhalten, mußte nun auf dem Stuhl Platz nehmen und zwei Damen knicksten vor ihm. Jetzt konnte er seinen Korb austeilen und mit der Glücklichen davonschweben. So ging es Schlag auf Schlag, und in Anbetracht der Größe des Körbchens wurde das Tanzspiel ganz besonders spaßhaft.
Die Mädel waren nicht nach Haus zu kriegen. Mütter winkten. Väter und dienstbare Geister, die zum Abholen erschienen waren, gähnten. Auch Großmama hatte schon ganz kleine Augen. Doch das Lachen und das Tanzen wollte kein Ende nehmen.
Da erbarmte sich der Wirt der müden Wanddekoration. Er ließ plötzlich das elektrische Licht ausschalten: denn er hatte seinen Saal nur auf zwei Stunden vermietet.
Das gab nun erst einen Tumult und einen Jubel.
Vera fand ihre Tante nicht, Marianne purzelte in den Waschkorb und Annemarie tanzte selbst in der ägyptischen Finsternis noch den Tanz zu Ende. Hatte eine Mutter glücklich ihr Küken ergattert, war es im nächsten Augenblick wieder übermütig im Dunkeln entwischt.
Schließlich aber hatte man doch alle in die Garderobe spediert. Ein Gewirr von Überschuhen und Beinen. »Kinder, habt ihr schon eure französische Ausarbeitung über Jerusalem fertig?« erkundigte sich Marlene, den rosa Seidenschal um das dunkle Haar schlingend.
»Quatsch – dazu ist morgen noch Zeit« – »heute denken wir nicht an die dumme Schule« – – – Annemarie aber lachte: »Jawohl, sur les murs de Jerusalem nous dansons boston et foxtrott
.«
Großmama zärtlich untergeärmelt, tanzte Doktors Nesthäkchen unter dem aufgespannten Regenschirm im Bostonschritt die regennassen Straßen entlang nach Haus. Die alte Dame mußte mit, ohne Rücksicht auf die spritzenden Pfützen. Der Unband war nicht zu regieren. Noch im Nachthemd tanzte Annemarie ins Bett hinein – und dort ging’s weiter zum Federball.