Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 103
6. Kapitel
Ein Brief aus der Ferne
ОглавлениеDas erste Bild »Fräulein Blaustrumpf unter ihren Kommilitonen« – damit war die Schafherde gemeint – reiste mit verschiedenen anderen photographischen Aufnahmen nach dem Norden. Es war ein dicker Brief, den Doktor Brauns Hanne vom Briefträger morgens früh in Empfang nahm.
»Ihr Jlück, Schultze, daß Se uns endlich mal ‘n Brief von unserm Nesthäkchen bringen tun. Immer bloß die dämlichen Ansichtskarten, wo nur Jeld kosten und nischt drin steht. Jott, was wird sich unser Herr und Frau Doktorn freu’n!«
Die treue Seele überließ das Hineintragen der Post nicht wie sonst der Minna. Über das ganze breite Gesicht strahlend, trat sie an den Frühstückstisch.
»Nu raten jnädje Frau mal, was ich hier haben tue?«
»Einen Brief von unserer Lotte?« Ganz aufgeregt war Frau Doktor Braun.
»Na woll ooch, von de Unversität, von unser Nesthäkchen – und noch dazu so’n jut beleibter.« Stolz, als ob sie selbst die Ursache der Freude sei, legte Hanne das umfangreiche Schreiben vor die Eltern.
Während Frau Doktor die Adresse, welche die steilen, energischen Buchstaben ihrer Lotte zeigte, mit sehnsüchtigen Augen betrachtete, als seien sie die Schreiberin selbst, blieb Hanne breitspurig in der Tür stehen. Die roten Arme in die Hüften gestemmt, wartete sie. Sie hatte Doktors Nesthäkchen auf den Armen gewiegt, sie hatte es erzogen, ihm gute Extrahäppchen zugesteckt und ihm gelegentlich auch mal einen Klaps verabfolgt, wenn das ungebärdige Ding nicht gehorchen wollte. Sie mußte vor allen Dingen wissen, wie es »ihrem Kind« in der Fremde erging. War doch die Ruhe im Haus geradezu beklemmend, seitdem Nesthäkchens helles Lachen nicht mehr erklang und auch Klaus in Pommern Kartoffeln buddelte.
»Na?« sagte sie, als die Mutter noch immer keine Miene machte, den Umschlag zu erbrechen. »Ich hab’ nich so ville Zeit.«
»Recht hat die Hanne – mir geht’s gerade so. Ich muß auch bald in die Sprechstunde. Also laß uns sehen, Elsbeth, was unsere Studentin schreibt.«
Der Brief wurde geöffnet.
»Ach, Bilder!« rief die Mutter beglückt. »Unsere Lotte – sprechend ähnlich!«
Das erste Bild zeigte das Neptunsbrünnle zu Tübingen. Auf der steinernen Einfassung im Dirndlkleid Doktors Nesthäkchen. Darunter stand der Vers:
»Ohn’ Schuh’ und ohne Strümpfe
Geht’s durch Morast und Sümpfe,
Zu sechsen, nicht zu fümfe,
Es grüßt die Brunnennymphe.«
»Hahaha – diese Dichtung ist echt unsere Lotte.« Der Vater amüsierte sich köstlich, während der Blick der Mutter sich nicht von den Zügen ihres Kindes trennen konnte.
»Na?« sagte Hanne und streckte die Hand in nicht mißzuverstehender Bewegung nach dem Bilde aus. »Da jibt’s ja noch mehr.« Ohne Umstände nahm sie ihrem Herrn Doktor das Bild aus der Hand. »Na, so weit sieht unser Kind ja janz mobil aus. Aber daß se da so viel Sumpf in die Jejend haben und denn noch barfuß laufen tun, det kann doch nich jesund sind.« Sie nahm Annemaries Scherzworte für Ernst.
Inzwischen betrachteten die Eltern die Serie photographischer Aufnahmen, die durchweg gelungen war. Da sah man Nesthäkchen mit den Freundinnen am Neckargestade im Grünen ruhend, als Unterschrift »Die drei Grazien«. Die nächste Aufnahme war ein allerliebstes Genrebild. Ein weinumranktes Giebelhaus, auf dem Hausbänklein pfeiferauchend, wie das Urbild aller Gemächlichkeit, der Wirt in Hemdsärmeln, Frau Wirtin stand in der Haustür. Aus den Fenstern lugten Marlenes und Ilses neugierige Gesichter. Nesthäkchen selbst hockte auf den Steinstufen, auf dem Schoß Putzerli, innig umschlungen von Vronli und Kasperle. Selbst die Ziege und die Hühner, die auch zur Familie Kirchmäuser gehörten, fehlten nicht. Wieder ein Vers dazu:
»Hier in dem netten Häuslein,
Bei unsern Kirchenmäuslein,
Lebt sich’s in Saus und Braus –
‘s heißt das ›Dreimäderlhaus‹!«
»Na, fidel scheint die Gesellschaft ja dort zu sein«, schmunzelte der Vater und griff nach dem nächsten Kunstprodukt. Es war die Aufnahme »Fräulein Blaustrumpf unter ihren Kommilitonen«.
»Elsbeth, das Mädel ist doch köstlich – sieh bloß, mit welch ehrpusseligem Gesicht es dasitzt und strickt. Als ob es die Hirtin der Schafherde wäre. Die Kollegen werden nicht sehr begeistert von dem schmeichelhaften Vergleich sein.«
Hanne betrachtete das Bild befriedigt. »Da tut se doch wenigstens ooch mal wat Jescheites an de Unversität. Strümpfe stricken is besser als studieren!«
Frau Elsbeth sprach so gut wie gar nichts. Aber ihre Augen sprachen um so mehr von Freude, Glück, Mutterstolz und Sehnsucht.
Immer neue Bilder. Die Schwäbische Albkette tauchte vor den Blicken der Eltern auf. Auf einem Gipfel, untergeärmelt, mit lachenden Gesichtern eine Schar junger Menschen, Männlein und Weiblein. Rucksack und Wanderstab zu Füßen.
»Bis auf den Hohenstaufe
Sind heute wir gelaufe,
Es grüscht mit Herz und Mund
Der Schwäb’sche Wanderbund.«
»Schwabenland, das so viele Dichter erzeugt hat, scheint auch unsere Lotte infiziert zu haben«, lachte Doktor Braun. »Einem Wanderbund ist sie auch beigetreten, die Krabbe. Na, ich gönn’s ihr. Einmal ist man nur jung!« Die eigenen lustigen Studententage wurden in Doktor Braun lebendig.
»Ich freue mich von Herzen, daß unsere Lotte so herrliche neue Eindrücke in sich aufnimmt. So sehr sie uns auch fehlt, sie speichert Freude und Frohsinn für ihr ganzes Leben auf«, meinte die Mutter innig.
»Das ist bei unserer Lotte nicht nötig. Die wird noch als Großmutter mit weißem Haar ebenso durchtrieben sein wie jetzt. Sieh nur, was sie auf diesem Bilde anstellt.«
»Neschthäkche auf der erschten Mensur« prangte als Überschrift. Mit Zerevis und Schärpe, das Rapier in der Hand, ging Annemarie auf einen den Hieb parierenden Jüngling los.
»Die Krabbe wird doch nicht im Ernst Fechtstunde nehmen.« Doktor Braun betrachtete das Bild, das einen Tisch mit geleerten Bierseideln im Hintergrund zeigte, kopfschüttelnd.
»Eine Affenschande ist’s, sich derart ‘rauszustaffieren, und mit so’n Morddings seine Mitmenschen zuleide zu jehen. Kochlöffel und Quirl sollt’ se lieber in de Hand nehmen!« machte die brave Hanne ungeniert ihrem Unmut Luft.
Die Mutter lächelte. »Es ist sicher nur ein Scherz. Ich kenn’ doch meine Lotte; und sollte ihr Übermut sie wirklich mal zu etwas Ungewöhnlichem hinreißen, ich habe so viel Vertrauen zu unserm Kinde, daß es mit Herzenstakt stets die richtige Grenze einzuhalten wissen wird. Hier ist ja noch ein Bild, das letzte.«
Trümmerreste einer alten Burgruine. Vom Lueg ins Land ins Tal schauend, die drei Freundinnen. »Vier alte Ruinen« war das Bild betitelt.
Jetzt mußte auch die Mutter herzlich lachen. »Na, wenn die alten Ruinen nicht mehr als achtzehn, neunzehn Jahre zählen, sind sie wohl noch nicht allzu baufällig.«
»Hier, unsere Hanne gäbe schon eine etwas ehrwürdigere Ruine ab, was, Sie altes, treues Haus?« Der Doktor hatte stets seinen Spaß mit der ehrlichen Haut. Hanne ließ es sich auch gern gefallen. Heute aber begehrte sie auf: »Ach was, ich rujeniere jar nich ville. Der Topp, den ich jestern zertöppert habe, hatte überhaupt scho’n Sprung. – Aber jetzt muß ich an meine Arbeit, ich hab’ keene Zeit nich mehr für Dummheiten. Und was unse Frau Doktorn is, liest ja doch woll noch bis morjen frieh den Brief.« Raus war sie.
Verständnisvoll lächelnd sahen Doktor Brauns der treuen Alten nach. »Wenn man’s nicht wüßte, wie gut sie’s meint, – nun muß ich aber wirklich den Brief endlich lesen.« Frau Elsbeth entfaltete die eng beschriebenen Bogen.
Der Arzt erhob sich. »Ich werde mir an unserer Hanne ein gutes Beispiel nehmen und mir die Lektüre für die Nachmittagsruhe aufsparen, denn jetzt habe ich auch ›keine Zeit nich mehr‹. Sonst versäume ich Sprechstunde und Klinik. Auf Wiedersehen, Elsbeth, ich lasse dich ja in bester Gesellschaft zurück.« Er nickte seiner Frau liebevoll zu und ging in die Praxis.
Auch Frau Doktor Braun stand vom Frühstückstisch auf. In das nebenan gelegene, jetzt verwaiste Reich ihrer Lotte trat sie. An dem kleinen Schreibtisch, der alle Examensnot Annemaries miterlebt hatte, ließ sie sich nieder. Hier war der richtige Ort, um mit ihrem Kinde allein zu sein. Mit warmen Blicken las die Mutter:
Dreimäderlhaus, den 25. Mai 19..
Meine süße Muzi, geliebter Vater, teures Brüderlein, brummige Hanne, holdes Minchen und innigstgeliebter Puck!
Der erste ausführliche Bericht soll heute steigen. Ich werde jeden Tag etwas daran schreiben. Denn überarbeiten darf ich mich nicht, das bin ich Euch und der auf mich wartenden kranken Menschheit schuldig. Also da wären wir im schönen Schwabenland. Ach Gott, man hat ja in unserm Steinkasten Berlin keine Ahnung davon, wie schön die Welt ist. Unsere neue Heimat Tübingen ist noch tausendmal schöner, als wir uns das in unseren Träumen ausgemalt haben. Die Stadt liegt am Berghang, unten fließt der Neckar, hoch oben auf dem Bergli das Schloß Hohentübingen. Von meinem Fenster sehe ich gerade auf den alten Haspelturm, wo die Gefangenen im Mittelalter geschmachtet haben. Da freue ich mich doppelt und dreifach meiner Freiheit. Ach, Muzi, Muzi, ich bin Euch ja so dankbar, daß Ihr mir das Tübinger Studienjahr geschenkt habt. Ich schreibe alles kunterbunt durcheinander, wie es mir in den Sinn kommt. Gerade so wie all die alten Giebelhäuser hier an dem Berg drüber und drunter in lustigem Durcheinander emporklettern. Ilse Hermann ist begeistert von all den Brünnle, Gäßle, Burgruinen und alten Mauern. Ich hab’ dafür weniger übrig. Land und Leute interessieren mich mehr. Und die sind hier so lieb, oder vielmehr »liab«, um im Bilde zu bleiben. Da sind zuerst unsere Wirtsleute, der Herr Nepomuk Kirchmäuser und seine Frau Veronika. Wir nennen sie natürlich Kirchenmäuse. Aber gar so ärmlich geht’s bei ihnen nicht zu. Der Mann ist an der Bahn und hat sein gutes Auskommen. Auch für uns hungrige Studentlein fällt manch Bröcklein ab. Echt schwäbische Spätzli haben wir im Verein mit Frau Veronika fabriziert und verspeist. Überhaupt die Frau Veronika ist eine tüchtige Wirtin, nächstens soll ich bei ihr Quarkknödel bereiten lernen. Sagt das bitte der Hanne zur Beruhigung. Vorläufig lassen mich die Mädels Marlene und Ilse nicht gern an die Küche heran, nachdem ich die ersten Spiegeleier so knusprig gebraten habe, daß sie mehr schwarz als weiß waren. Mir soll’s recht sein. Am liebsten würde ich mich auch von der »Woche« drücken, die jede abwechselnd übernehmen muß. Aber Marlene läßt nicht locker. Sie spielt sich hier überhaupt sehr als Gouvernante auf und hat von mir den Spitznamen »Pensionstunte« erhalten. Alle Tage revidiert sie wie ein Polizist mein Zimmer, ich werde sie nächstens wegen Hausfriedensbruch verklagen. Also, Muzi, Du kannst ganz unbesorgt sein wegen Deiner ungeratenen Tochter. Ich werde sicher als vollendetes Prachtexemplar in Eure liebenden Arme zurückkehren. Bis dahin ist’s aber noch lange Zeit – Gott sei’s getrommelt und gepfiffen! Bitte letzteres nicht etwa persönlich oder gar übel zu nehmen.
Urfidel und gemütlich geht’s in unserm Dreimäderlhaus zu. Diesen Namen verdankt es unsern Schwaben und Wanderbrüdern, mit denen wir Freundschaft geschlossen haben. Da ist aber gar nichts dabei. Hierzulande duzen sich viele Studenten und Studentinnen, und unsre Schwaben sind so drollig und harmlos, daß man sie gar nicht ernst nehmen kann. Besonders wenn sie reden. Das ischt zum Totlache. Ich stelle sie Euch im Bilde auf dem Hohenstaufen vor. Der kleine Schmächtige, das ist der Krabbe, ein urfideles Haus, von mir »Viehmuse« genannt, weil er Tierarzt werden will. Aber er hört trotzdem beim Bergholz Kolleg, weil das besonders interessant ist. Der lange Semmelblonde – ach so, das kann man ja auf der Photographie nicht erkennen – ist mein Spezialkollege Neumann, öfters etwas elegisch angehaucht, dann wirkt er blödsinnig komisch mit seinen melancholischen Karpfenaugen, die mit seinem lustigen schwäbischen Dialekt in krassem Widerspruch stehen. Der dritte unsrer getreuen Vasallen ist Egerling, vierschrötig wie ein Bauer. Er ist auch eines Dorfschulzen Sohn aus der Umgegend und wird »geischtlich«. Aber er taugt mit seinem ausgelassenen Übermut so wenig zum Geistlichen, wie ich zur Kloschternonne. Nun stelle ich Euch noch Ziegenhals und Steinbock vor, dann habt Ihr den Schwäbischen Wanderbund, der alle Samstag das Land unsicher macht, beieinand’, wie man hier sagt. Ziegenhals, die kleine, kugelige, ist ein gutmütiger Kerl. Meistens nennen wir sie »die kürzeste Frist«, weil sie ohne Komma und ohne Punkt futtern kann. Steinböcklein ist sehr intelligent, wie schon der Kneifer beweist. Sie studiert alte Sprachen, ist aber sonst harmlos und nicht gemeingefährlich. Nun habe ich Euch mit der ganzen Gesellschaft, all meinen Tübinger Freunden bekannt gemacht. Ach nee – die Hauptsache fehlt ja noch: Vronli und Kaschperle, die kleinen Kirchenmäuse, meine allerbesten Freunde. Gleichzeitig als Weckuhr patentiert. Jeden Morgen, Punkt sieben, erklingt vor meinem Fenster ein Duett: »Tanteli, hascht auschg’schlafe? Bischt nimmer müd?« Könnt Ihr Euch denken, wie mir Faulpelz, der daheim nicht aus den Federn finden konnte, dabei zumute ist? Aber hier ist’s doch was andres. Die Vögel bringen einem schon in aller Herrgottsfrühe ihr Ständchen, die Sonne scheint hier ganz anders als in Berlin und lockt hinaus ins Gärtle, wo alle Frühlingsblumen, die es nur gibt, bunt durcheinander blühen. Am runden Tisch unter der Linde, welche mit grünen Nasenstübern besät ist, die wir uns als Kinder so gern auf die Nase klebten, wird der Kakao von der, welche »die Woche« hat, serviert. Einmal habe ich ihn erst anbrennen lassen. Dann geht’s meist im Sturmschritt ins Kolleg. Am interessantesten finde ich Professor Bergholz, der gleichzeitig der diesjährige Rektor der Universität ist. Er spricht über Anatomie, Knochenbau und Zellenlehre. Ich habe bei ihm auch Besuch gemacht, das ist hier so Sitte. Dafür wird man im Juni zu dem sogenannten »Rosenfest«, das er der Studentenschaft alljährlich in seinem Garten gibt, eingeladen. Ich freue mich schon mächtig darauf. Ich habe bisher noch kein einziges Kolleg geschwänzt. Am Nachmittag mache ich die Ausarbeitungen, bei denen mir Neumann, wenn ich allein damit nicht zustande komme, behilflich ist. Sie finden hier, daß ich sehr »biereifrig« bin. Ich will doch bald so weit sein, daß ich Deine Assistentin werden kann, Vaterchen. Auch Stenographie lerne ich. Marlene und Ilse geben mir Unterricht. Ich zahle mit Naturalien, Obst oder Schokolade. Mein Verbrauch ist nicht allzu groß. Von meinem Monatswechsel kann ich noch Ersparnisse machen. Neumann, Egerling und Krabbe leben öfters auf Pump. Natürlich! Die gebrauchen mehr, weil sie so viel saufen – Muzi, entschuldige das harte Wort, ich wollte sagen »kneipen«.
Von dem Ausflug zum Hohenstaufen muß ich Euch erzählen. Er war einfach famos. Am Samstag nach dem Mittagbrot, das der Schwäbische Wanderbund meist gemeinsam einnimmt, ging’s los. Das »Abfahre« des Stationsvorstehers klingt schon so gemütlich, und das Zügle, das nur vierter Klasse führt – es ist wohl auf den Geldbeutel der Studenten zugeschnitten – kriecht ganz gemächlich den Bergen entgegen. Natürlich standen wir draußen auf der Plattform, was eigentlich verboten ist. Dadurch zogen wir uns die Ungnade unserer Pensionstunte zu, die sittsam im Abteil Platz genommen. Alle paar Minuten steckte eines von uns den Kopf zur Tür hinein und schrie in den Wagen: »Ulrich, bischt noch da?« Es war zum Brüllen komisch! Marlenchen nahm’s krumm, trotzdem nur noch ein paar Bäuerlein mitfuhren, und man ja gar nicht wissen konnte, daß sie Ulrich sei. Wir rufen uns nämlich alle beim Vatersnamen. Mich nennen die frechen Jungs »Neschthäkche«. Wie sie das herausgebracht haben, daß ich zu Hause so genannt werde, wird ein ewiges Geheimnis bleiben.
Also zuerst ging’s auf den Hohenrechberg. Das ist ein Kalvarienberg. Ein Stationsweg führt zu dem Wallfahrtskirchlein. Alljährlich finden dorthin Prozessionen statt. Die Holzschnitzereien, die den Leidensweg Christi darstellen, stammen aus dem frühesten Mittelalter und sollen künstlerisch sehr schön sein. Ilse war nicht davon fortzubekommen. Zwei Mann mußten sie gewaltsam weiterschleppen, sonst stände sie noch heute dort. Für mich war es in der Tat ein Leidensweg. Ein Nagel hatte sich heimtückischerweise aus meiner Stiefelsohle herausgebohrt. Humpelnd hielt ich meinen Einzug auf Hohenrechberg.
Marlene hatte recht behalten. Sie hatte dem Wetter gleich nicht getraut. Ihr Hühnerauge, unser bester Wetterprophet, zuverlässig wie ein Barometer, hatte sich bemerkbar gemacht. Das bedeutet Regen. Sie hatte davon abgeraten, den Ausflug zu unternehmen. Wir lachten sie natürlich aus. Was kümmert wandernde Studenten ein Hühnerauge. Nun kam die Strafe. Schon auf dem Wallfahrtswege brodelten links und rechts aus der Tiefe Nebelschwaden empor. Als ob boshafte Bergkobolde ihr Spiel mit uns trieben, breiteten sie über das Tal feuchtgraue Regentücher aus und nahmen uns jeden Ausblick. Die Ruine Hohenrechberg ragte plötzlich so schemenhaft dicht vor uns aus dem Grau heraus, daß Ilse mir vor Schreck meinen Arm blau kniff. Aber es hatte auch wirklich etwas Gespenstisches, wie die vom Blitz geborstenen Türme, Zinnen und Burgmauern so jäh aus dem Nebelmeer emportauchten.
Im Pfarrhaus droben labte man uns durchnäßte Wanderer mit heißer Milch. Die Viehmuse ließ sich einen Hammer geben und nagelte meinen Stiefel zurecht, wobei er unverschämterweise die Äußerung tat: »Ein Tierarzt muß halt a jedes Viehle beschlage könne.« Der Regen hörte nicht auf. »Es schüttete wüscht«, was bei uns zulande heißt: »Es regnet Bindfaden«. Wir saßen fest. Aber das störte unsere gute Laune nicht im geringsten. Höchstens Marlenes; es kann aber auch sein, daß ihr Hühnerauge die Schuld daran trug.
Egerling setzte sich ans Klavier und spielte Gassenhauer, trotzdem er doch geischtlich werden will. Wir andern tanzten. Der Herr Pfarrer war über Land und die alte Pfarrköchin hatte ihre Freude an unsrer Ausgelassenheit.
»Aber zu esche könne sie uns nix gebe«, meinte sie, sie hätten allein nichts. Das glaubten wir ihr natürlich nicht. Die unverfrorenen Schwaben kletterten in den Hühnerstall und suchten nach Eiern. Triumphierend kamen sie mit ihrer Beute, zwei Stück, zurück.
»Die müsche für den Herrn Pfarrer bleibe«, zeterte die Köchin. Das sahen unsere Studenten schließlich ein. Aber nun drangen sie keck in das Reich der Köchin vor und untersuchten Küche und Speisekammer. Eine Schüssel kalter gekochter Kartoffeln war alles, was sie erwischten. Speck hatten wir im Rucksack, und nun gingen wir daran, Bratkartoffeln zu machen. Das heißt Ilse und Ziegenhals; meine Hilfe verschmähte man undankbarerweise mit der Begründung, daß dann am Ende aus den Bratkartoffeln Mohrenköpfe würden. Als wir gerade im besten Schmausen waren, kam der Herr Pfarrer nach Haus. Er war nicht wenig überrascht, das Haus bei dem argen Wetter besetzt zu finden.
»Ei – ei«, meinte er lächelnd, nachdem wir uns ihm vorgestellt hatten und wegen des Überfalls um Entschuldigung gebeten, »ei, liabe, junge Gäscht hob’ i immer gern. Hascht den Studentle auch brav was vorg’setzt, Kathinka?«
»Mer hobe selber nix«, brummte die Pfarrköchin.
Der Herr Pfarrer war reizend. Von Bezahlung wollte er durchaus nichts wissen. »Studentle könne nix zahle, die hobe nix«, lachte er. Als wir keine Ruhe gaben, brachte er schließlich seine Armenbüchse herbei. Da hinein durften wir etwas werfen. Dann gab er uns, da es glücklicherweise mit »schütten« nachgelassen, noch ein Stück Wegs das Geleit nach dem Hohenstaufen.
»Wann die Engle wandern, hängt der Himmel voller Geige«, sagte er und wies auf ein winziges Stücklein Himmelsblau, das aus dem Wolkengeschiebe hervorlugte. Hurra – bald lachte die Sonne wieder, trotz Marlenchens Hühnerauge, und blieb uns treu. Ihr könnt Euch nicht denken, wie bezaubernd die sogenannten »Randwanderungen« auf der Schwäbischen Alb sind. Immer neue, abwechslungsreiche Bilder, bald Talblick, bald romantische halbverfallene Burgen. Wie ist’s, mein liebes Brüderlein, hast Du nicht Lust, mich in den Ferien zu besuchen? Es lohnt sich. Die Schwäbische Alb ist keine Gipfelkette, wie unsere andern deutschen Mittelgebirge, sondern eine weite Hochfläche, auf der sich Waldungen, Felder und Weiler breiten. Ganz eigenartig. Die Wanderung unter der kundigen Führung des Herrn Pfarrer war doppelt genußreich. Er erzählte uns von einem unterirdischen Gang, der von dem Hohenrechberg zum Hohenstaufen führte, und der während der Bauernkriege ein wichtiger Schlupfwinkel gewesen sein soll. Mächtig graulich!
Vom Hohenstaufen waren wir sehr enttäuscht. Die stolze Staufenburg ist gänzlich eingeäschert. Kein Trümmerrestchen erzählt mehr von dem Glanz des einst hier hausenden mächtigen Kaisergeschlechts.
Auf dem Hohenstaufen wurde photographiert. Die erste Aufnahme habe ich natürlich verwackelt. Aber jetzt geht’s schon ganz nett und macht mir riesige Freude. Sagt doch das der Großmama, die ich tausendmal grüßen lasse. Brief und Bilder sind auch für sie bestimmt. In dem kleinen Städtchen Kirchheim blieben wir über Nacht. Aber geschlafen haben wir nicht viel. Wir fünf Damen alle in einem saalartigen Zimmer. Da könnt Ihr Euch denken, was wir angegeben haben. Einer unsrer Studenten hat auf dem Billard übernachtet, die andern in der Scheune.
Am Sonntag Morgen ging’s in goldener Sonnenfrüh den steilen Teckberg hinauf zur Hohen Teck. Die jetzige Königin von England entstammt dem dort einst gebietenden Herzogsgeschlecht. Diese Weisheit kommt natürlich nicht aus meinem dummen Kopf, sondern aus dem schwarzhaarigen Marlenes. Auch Egerling, der in dieser Gegend daheim ist, sorgte für unsere Bildung. Er zeigte uns beim Aufstieg Schwamm-und Korallenfelsen, die deutlich von den Zeiten Zeugnis ablegen sollen, da noch das Jurameer die Felsen umbrauste. Auch auf versteinerte Krater – Maare nennt man sie in Schwaben – machte er uns aufmerksam. Das sind Vulkanüberbleibsel. Diese gelehrten Sachen sind ja manchem ganz interessant, aber ich begeistere mich nun mal für die blauenden Buchenwälder und weltfernen Waldschluchten mit ihren rieselnden Silberbächlein, die Eichendorff besungen hat. Auch die umfassende Rundsicht vom Aussichtsturm droben war mir viel wichtiger als sämtliche Krater und Versteinerungen. Denkt mal – ich habe die Alpen gesehen! Nach dem vorhergehenden Regentag war alles doppelt klar.
Also, Ihr seht, wie gut es Eurem ausgesetzten Nesthäkchen in der Fremde ergeht. Sehnsucht habe ich noch gar nicht – nicht die Bohne. Nur, wenn es irgendwo ganz besonders schön ist, wünsche ich Euch herbei. Und da habe ich schon gedacht, ob man nicht im August, wenn Universitätsferien sind, irgendwo hier in der schönen Gegend gemeinsam die Erholung genießen könnte. Oder auch im Schwarzwald. Das ist ja alles nicht weit. Vater muß unbedingt ausspannen, und Du, Muzichen, bist sicher auch erholungsbedürftig. Schon aus Sehnsucht nach Deiner Lotte. Ich kenne doch meine Muz. Hänschen hatte mir überhaupt fest versprochen, mich mal zu besuchen. Schade, daß Klaus nicht von seiner pommerschen Klitsche fort kann. Also eilt alle miteinander in die Arme Eurer Euch liebenden
Lotte-Annemarie.
Nachschrift: Bitte bestellt den Faultieren Vera, Margot und Marianne tausend Grüße. Sie sollen unsren Kränzchenbrief bald beantworten. – – –
»Meine Lotte, – meine liebe, große Lotte!« flüsterte Frau Doktor Braun und ließ die engbeschriebenen Bogen in den Schoß sinken. Eine Träne tropfte auf das Hohenstaufenbild, gerade dem Student Egerling auf die breite Nase. »Da tut sie nun so, als ob sie gar keine Sehnsucht hätte, und dabei verrät sich dieselbe doch deutlich aus ihren Zeilen. Vielleicht läßt sich im August wirklich ein Wiedersehen ermöglichen.« Diese Hoffnung zauberte wieder ein Lächeln auf die seinen Züge der Mutter.
Nesthäkchens Epistel und die dazu gehörigen Bilder machten eine Rundreise. Sämtliche Familienmitglieder studierten sie, selbst Puck beschnüffelte den Brief. Die drei Kränzchenschwestern genossen bei der gemeinsamen Lektüre all das Schöne nachträglich mit und wären wohl auch recht gern dabei gewesen. Großmama mochte sich gar nicht wieder von den Bildern ihres Lieblings trennen. Tante Albertinchen aber war entsetzt. Besonders »Die erste Mensur«, die auch bereits Hannes Unwillen erregt, fand sie geradezu »skandalös«. Und daß Doktors Nesthäkchen ohne jeden Anstandsbaubau mit fremden jungen Leuten wie ein Handwerksbursche im Lande herumzog, das wollte ihr auch nicht in den greisen Kopf. Ja, ja, die guten alten Zeiten! Da war so etwas ganz unmöglich gewesen! Tante Albertinchens sämtliche weiße Ringellöckchen pendelten wehmütig hin und her über die Verderbtheit der heutigen Jugend.