Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 102
5. Kapitel
‘s gibt kein schöner Leben, als Studentenleben
ОглавлениеOhne die pünktliche Marlene wäre Annemarie sicher zu ihrem ersten Kolleg bei Professor Bergholz zu spät gekommen. Denn mit der Zeit konnte Annemarie nun mal nicht rechnen. Sie setzte stets zu wenig für den Weg fest und hatte gerade im letzten Augenblick meist noch Unaufschiebbares zu erledigen. Diesmal war die wichtige Angelegenheit, die Annemarie säumen ließ, ein flachshaariges Dirnlein und ein schwarzäugiges Bübchen. Vronli und Kaschperle bezeigten ihre innige Freundschaft für die neue Hausgenossin, indem sie ihr schon in aller Herrgottsfrühe Fensterpromenade machten.
»Tanteli – Tanteli – stehst nimmer auf? Bischt noch arg müd? Die Sonn’ ischt halt schon aufg’stande.« So klang es im Duett in Annemaries Morgenträume.
Da mußte das »Tanteli«, nachdem es endlich aus den Federn gekrochen, doch unbedingt als heiliger Nikolaus wieder einen Spendenregen herniedergehen lassen.
»Lueg’, Büble, das Tanteli – ich hab’s am Fenster g’schaut, das Tanteli ischt der heilige Nikolaus!« Das schlaue Vronli hatte die Sache durchschaut.
»Annemie, bist du denn noch nicht fertig?« klang’s aus dem Nebenzimmer.
»Wir haben schon unser Frühstück beendigt.« Ilse steckte den Blondkopf zur offenen Tür herein.
»Himmel, hast du keine Flinten! Da steht sie doch noch immer als Lorelei im Unterrock und Frisiermantel und kämmt sich ihr goldenes Haar. Willst du in diesem Aufzug ins Kolleg gehen?« Ilse war etwas nervös heute.
»Warum nicht? Diese Geishatracht ist sehr kleidsam. Herr Krabbe, Neumann, Egerling wär’ sicherlich begeistert.«
»Ach, laß bloß jetzt den Unsinn, Mädel, und eil’ dich. Ich mach dir den Kakao nicht noch mal warm.«
»Sollst du auch gar nicht, du Xantippe. Meinst wohl, weil du diesmal die Woche hast, kannst du mir den Brotkorb höher hängen? Meine Kirchenmaus wird mich schon nicht hungern lassen. Und Vronli und Kaschperle geben dem armen hungrigen Tanteli auch was von ihrem Frühstück ab, gelt?«
»Freili, fang’ auf, Tanteli!« – Hui, da flog bereits das Musbrot, an dem Kaschperle soeben noch herumgelutscht hatte, geschickt zum Fenster herein. Schwapp – da klebte es dem Tanteli an der Nase.
»Kaschperle, bist du denn ganz und gar hops? Versteht ihr denn hierzulande keinen Spaß, Kinder?« Halb lachend, halb ärgerlich machte sich Doktors Nesthäkchen daran, ihr Gesicht von dem Zwetschenmus zu rasieren.
»Annemarie, wir gehen.« Marlene, den Hut auf dem Kopf, die kleine Mappe mit dem Schreibmaterial bereits unter den Arm geklemmt, schaute belustigt der Reinigung zu. »Auf Wiedersehen, heute mittag im Vereinshaus, wir wollen deiner Dummheiten wegen nicht auch noch zu spät kommen.«
»Ach, Marlenchen, sei kein Frosch, denk’ daran, daß meine Mutter mich dir ans Herz gelegt hat. Wir werden doch am ersten Tage unserer Studentenzeit nicht getrennt einziehen in den Tempel der Weisheit. Gleich bin ich fertig.«
»Wir hören ja doch nicht dasselbe Kolleg.« Ilse war aufgeregt und drängte fortzukommen.
»Aber den gleichen Weg haben wir doch, wenn sich auch unsere geistigen Wege trennen. Außerdem denkt ihr natürlich nicht an das akademische Viertel. Die Professoren fangen stets erst eine Viertelstunde später an. Wir haben noch kolossal viel Zeit«, tröstete Annemarie mit Seelenruhe.
»Ich halte es für pflichtvergessen, gleich den ersten Tag mit dem akademischen Viertel zu rechnen.« Marlene wandte sich zur Tür.
»Quatscht keine Opern, Kinder, ich bin noch eher fertig als ihr.« Den Hut auf das Goldhaar gestülpt, wollte Doktors Nesthäkchen spornstreichs an den beiden vorüber.
»Hiergeblieben, erst frühstückst du!« Marlene erinnerte sich plötzlich daran, daß Doktors Nesthäkchen ihr in der Tat von Frau Doktor Braun ans Herz gelegt worden war. »Soviel Zeit muß sein.«
Annemarie kicherte wie ein Kobold. Denn sie hatte gar nicht die Absicht gehabt, ohne Kakao fortzugehen und nur die Eile vorgetäuscht, um Marlenes Widerspruch hervorzurufen.
In zwei Minuten war der schon abgekühlte Kakao hinuntergegossen. »Mein Brot esse ich unterwegs.«
»Das schickt sich aber nicht, daß du wie ein Kind mit der Stulle in der Hand durch die Straßen gehst. Du bist doch jetzt eine junge Dame.« Ilse hielt viel auf Anstand.
»Junge Dame? In meinem ganzen Leben werde ich keine. Studentin bin ich – ‘s gibt kein schöner Leben, als Studentenleben!« Die Freundin unterärmelnd, schmetterte es Doktors Nesthäkchen in die Morgenluft.
»Nicht doch, Annemie, wenn du dich derart benimmst, gehe ich einen andern Weg lang«, drohte Ilse. Auch Marlene schien die Morgenhymne peinlich.
»Hier im Burggäßle hört uns ja keine Katze!« Mit diesem Ausspruch hatte Annemarie unrecht. Putzerli sonnte sich am Brunnentrog und fiel mauzend in Annemaries Sang ein.
Die Uhr an dem bunten Rathaus, das so lustig in der Frühlingssonne alle seine farbenfreudigen Erker und Gesimse leuchten ließ, zeigte bereits fünf Minuten nach acht. Ob man in zehn Minuten den Weg bis zur Wilhelmsstadt, dem neuen Stadtteil, in dem die Universität und die Kliniken lagen, zurücklegte?
Ilse machte Schritte, als ob sie Siebenmeilenstiefel an den Füßen hätte, Marlene bekam Herzklopfen und Milzstechen. Annemarie aber hatte noch Zeit, die Freundinnen darauf aufmerksam zu machen, daß man in den Häusern auf dem Marktplatz eine Treppe hinaufgehen könnte, um dann in der höhergelegenen nächsten Straße parterre wieder herauszukommen. Am liebsten hätte sie sofort den Beweis dafür angetreten. Aber Marlene und Ilse hörten gar nicht mehr, was sie sprach; die jagten ihr schon voraus.
Der Abschied in der Vorhalle der Universität war hastig.
»Auf Wiedersehen!« – »Laß dich nur ohne deine Kinderfrau nicht vom bösen Wolf fressen, Ilschen.« Trotz der Hetze konnte Annemarie den Scherz nicht unterdrücken. Dann trennten sich die Wege der drei.
Mit heißen Wangen und windgezaustem Haar betrat Doktors Nesthäkchen den Hörsaal. Er schien überfüllt. Damen und Herren bunt durcheinander. Einige Studenten standen sogar als Wanddekoration. Professor Bergholz war der beliebteste Redner. Gott sei’s getrommelt und gepfiffen, er war noch nicht da! Das Kolleg hatte noch nicht begonnen.
Neugierige Augen musterten die Eintretende. Köpfe drehten sich nach ihr. Jede neue Erscheinung fiel hier, wo man sich wenigstens vom Sehen kannte, auf. Und solch liebreizendes Mädel zog die Aufmerksamkeit der leicht entflammbaren Musensöhne noch besonders auf sich.
Annemarie hatte einen guten Kehrmichnichtdran. Ihr blaues Auge überflog die Bankreihen, ob sich nicht irgendwo noch ein Plätzchen für sie bot. Da schnellte es bereits von den Sitzen empor, Krabbe und Neumann winkten der Suchenden.
»Mädle, ruck, ruck an meine grüne Seite, i hoab di goar zu gern, i mag di leide.« Selbst hier an dieser ernsten Stätte brachte der fidele Studio Krabbe Annemarie sein Ständchen.
Dasselbe wurde durch den Eintritt des Professors unterbrochen. Lebhaftes Füßescharren empfing ihn zu Annemaries größter Verwunderung, die diese studentische Kundgebung trotz der beiden Studentenbrüder noch nicht kannte.
Professor Bergholz sprach ein paar einleitende Worte, begrüßte die neuen Hörer und sprach die Hoffnung aus, daß die gemeinsame Arbeit eine erfolgreiche sein möge. Dann begann er das erste anatomische Kolleg über Zellenlehre.
Mit gezücktem Tintenstift, das schwarze Wachstuchheft zum Mitschreiben vor sich, folgte Annemarie den Erörterungen und Auseinandersetzungen. Es war gar nicht so einfach, gleich das erstemal alle medizinischen Fachausdrücke zu begreifen; Annemarie mußte sich grenzenlose Mühe geben, um den Faden nicht zu verlieren und damit den Zusammenhang. Gern hätte sie den neben ihr sitzenden Neumann hin und wieder um Aufklärung gebeten. Aber der schrieb – schrieb – als gelte es ein Wettlaufen mit dem Bleistift auf dem Papier. Lauter Hieroglyphen malte er auf das Blatt. Ach, hätte sie doch auch während ihrer Schulzeit stenographieren gelernt. Marlene, Ilse und Marianne hatten sich an einem Kursus beteiligt; aber Annemarie, Vera und Margot fanden das Tennisspiel, das gerade auf diesen Nachmittag festgesetzt war, unbedingt wichtiger. Nun sah sie neidisch zu, wie die andern die Vorlesung getreulich mitstenographierten, während sie selbst nur zusammenhanglose Worte dem Kollegheft einverleibte.
»Lassen’s nur bleibe«, flüsterte ihr Nachbar Krabbe auf der andern Seite, der ihre vergeblichen Anstrengungen, mitzukommen, beobachtete. »I schreib’ scho’ alles Nötige dahier und mach Ihne davon eine Abschrift.«
»Vielen Dank«, flüsterte Annemarie erleichtert. Es war doch angenehm, wenn man gute Freunde besaß. Aber da hatte sie durch die Unaufmerksamkeit eines Augenblicks die letzte Demonstration des Vortragenden überhört. Nun saß sie wie verraten und verkauft da und fand den Anknüpfungspunkt nicht wieder. Doktors Nesthäkchen lernte in diesem ersten Kolleg mehr als die Zusammensetzung der Zellengewebe. Es lernte, daß es hier notwendig war, die volle Aufmerksamkeit einzusetzen, was aus dem Gymnasium nicht immer der Fall gewesen war. Daß es sich jetzt um ernste, zielbewußte Lebensarbeit handelte.
Als der Professor sein erstes Kolleg schloß, ging es Annemarie wie ein Mühlrad im Kopf herum. Ordentlich blaß sah sie von der ungewohnten Gedankenkonzentrierung aus.
»Kommen’s mit in die Luft, daß nit so vertattert dreinschaue tun«, riet Neumann.
»Ja, gleich.« Annemarie zögerte noch, trotzdem es sie drängte, ihre Schläfen von dem Frühlingswind kühlen zu lassen. »Gleich – – –«, sie stand am Ausgang und musterte die an ihr Vorüberschreitenden. Nur die Kolleginnen, die männlichen Studenten erweckten ihr gar kein Interesse. Sie suchte unter all den hübschen und häßlichen Gesichtern nach einem schmalen Antlitz mit seinen klugen Zügen, braunem Haar und liebblickenden grauen Augen, zu denen man sogleich Vertrauen haben mußte. Aber soviel Annemarie auch musterte, schaute und beobachtete, es wollte sich kein Mädchengesicht, das diese Züge trug, die sie, sobald sie die Augen schloß, deutlich vor sich sah, zeigen. Und daß seine Schwester ganz anders aussehen könnte, kam Annemarie nicht in den Sinn. Sicher war Fräulein Hartenstein nicht unter den Hörern.
Draußen standen wartend Ilse und Marlene, erstere mit hochrotem Kopf.
»Es war gar nicht so schlimm. Denk’ mal, die beiden Studentinnen, denen wir am ersten Tag nachgelaufen sind, haben die gleiche Vorlesung belegt. Da bin ich wenigstens nicht ganz verlassen ohne mein zweites Ich«, teilte Ilse erleichtert mit.
»Und wie war das Kolleg?«
»Genau wie in der Schule, der Professor hätte nur noch Vokabeln abhören und ‘rauf und ‘runter setzen müssen.«
»Bei mir war es riesig interessant. Professor Binder hat die Physik unter mir ganz neuen Gesichtspunkten beleuchtet. Ich hätte ihm den ganzen Vormittag zuhören können!« Die sonst ruhige Marlene war lebhafter als Annemarie.
»Na, mein Bedarf ist gedeckt. Mir ist mein Kopf, als ob ich ihn in einen Schraubstock gesteckt hätte«, meinte diese.
»Ah, die drei Grazien beieinand’. Grüß euch Gott, Kinderle. Heut’ nachmittag les’ ich euch wieder Kolleg, das ist nit so arg anstrengend.«
»Auf den Nachmittag wird ein Bummel g’macht, da zeige mer euch halt das obere Neckartal. Und wenn’s brav seid, geht’s am Samstag in die Alb nach dem Hohenrechberg, die Hohe Teck und auf den Hohenstaufe.«
»Famos!« schrie Doktors Nesthäkchen begeistert, und der sie einpressende Kopfreif war plötzlich wie fortgeblasen. Marlene schwieg. Sie überlegte, ob solch eine gemeinsame Wandertour mit ihnen doch noch ziemlich fremden Studenten wohl passend sei. Auch Ilse zögerte, trotzdem sie brennend gern den Ausflug unternommen hätte. Ihre Überlegungen galten weniger dem Anstandskodex als der finanziellen Seite des Ausflugs. Ihr Vater war Beamter und konnte seiner Tochter in den schweren Zeiten nur ein sehr bescheidenes Monatsgeld aussetzen.
»Wird’s auch nicht zu teuer?« fragte sie errötend.
»Teuer, wenn Studentle ausfliege tun? Mer habe alle ka Geld nit. Vierter Klass’ mit dem Zügle kost’ nit alle Welt. Das Esse wird im Rucksack mitgenomme und brüderlich – schwesterlich geteilt«, beruhigte sie Egerling.
»Fein!« sagte jetzt auch Ilse mit nicht geringerer Begeisterung als Annemarie.
»Was ischt fein?« Eine der Studentinnen, denen die drei Mädel unbeabsichtigt am ersten Mittag einen Besuch abgestattet, hörte Ilses begeisterten Ausruf.
»Wir wollen über den Sonntag in die Schwäbische Alb, auf den Hohenstaufen wandern.«
»Da sein mer auch dabei, wenn’sch angenehm ischt.« Mit einer harmlosen Selbstverständlichkeit, die man in Norddeutschland nicht kannte, schlossen sich die beiden sogleich an. »Erlauben’s, daß mer uns erscht mal bekannt mache tun.« »Steinbock« – »Ziegenhals« – sie stellten sich kopfnickend wie Herren vor.
»Da hätte mer ja die ganze Menagerie beieinand’«, lachte Krabbe. Dann nannten die andern gleichfalls ihre Namen.
Händeschüttelnd ging man nach Beschließung des Vergnügungsprogrammes auseinander an die Arbeit, ein jedes in sein Kolleg. Vorher wurde aber noch der Nachmittagsbummel um drei Uhr, Treffpunkt das Neptunsbrünnle am Markt, feierlich festgesetzt. Steinbock und Ziegenhals waren für heute allerdings schon anderweitig verabredet.
Marlene und Annemarie hörten das nächste Kolleg über Botanik gemeinsam.
»Weißt du, Annemie«, sagte Marlene erleichtert, »es ist mir recht angenehm, daß die Steinbock und Ziegenhals sich uns auf dem Ausflug in die Alb anschließen wollen. Ich hab’ doch die Verantwortung für euch Küken, daß ihr nichts Ungehöriges unternehmt und über die Stränge schlagt.«
»Du bist ja total hops – Pensionstunte hättest du werden sollen, aber nicht Studentin.« Der Eintritt des Botanikers unterbrach Annemaries Empörung.
Lichtblauer Frühlingshimmel, durchsichtig wie Kristall, lachte mit den jungen Menschen um die Wette, die sich zur festgesetzten Zeit am Neptunsbrünnle einfanden.
»Wo habt’s denn euer Kleines g’lasse, euer Neschthäkche?« fragte Krabbe enttäuscht, als Marlene und Ilse zu zweien antraten.
»Unser Nesthäkchen?« Marlene und Ilse lachten hellauf. »Haben Sie auch schon diesen Namen für die Annemarie ausfindig gemacht? Bei uns in Berlin heißt sie im ganzen Bekanntenkreis nicht anders als ›Doktors Nesthäkchen‹«, berichtete Marlene belustigt.
»Dabei ist sie ein paar Monate älter als wir.« Als Großmutter wollte Ilse denn doch nicht mit ihren achtzehn Jahren gelten.
»Ja, wo bleibt’s denn?« Das war dem begeisterten Jüngling entschieden wichtiger als Ilses chronologische Auseinandersetzungen.
»Wieder mal unpünktlich wie meist. Sie mußte unbedingt noch die Bekanntschaft unseres Wirtes, des Herrn Kirchmäuser, der ein paar Tage über Land gewesen, machen. Und die Vroni und der Kaspar wollten sie nicht fortlassen, sie sollte durchaus mit ihnen ›Hascherle‹ spielen. Da kommt sie ja!« Marlene wies zum Burggäßle hinauf.
Das bot ein seltsames Bild. Voran im Galopp ein rosenrotes Etwas, bald sich duckend, bald springend, allem andern ähnlich, nur nicht einer wohlerzogenen, spazierengehenden jungen Dame. Dahinter jauchzend, johlend und kreischend das Vronli und das Kaschperle. Die Hunde der Nachbarschaft schlossen sich blaffend der wilden Jagd an. So spielte man »Hascherle« zum Marktplatz hinunter.
»Grüß Gott, Neschthäkche, fallen’s nit ins Brünnle.« Im Nu hatten die Wartenden die Hände zu einer festen Kette geschmiedet und hielten die dagegen Stürmende nebst ihren kleinen Verfolgern auf.
»Ja, wer hat denn hier aus der Schule geplappert?« In berechtigtem Ärger blickte die Erhitzte von der Schwarzen zur Blonden.
»Er hat’s allein herausgefunden, der Herr Krabbe, daß du so heißt – Ehrenwort!« beteuerte Ilse.
»Also, das Neschthäkche ischt’s und bleibt’s. Schaut’s nit aus wie a Taufkindle in dem rosenroten Kleidle?«
»Ach, quasseln Sie doch keine Töne!« Im echten Berliner Dialekt wies Annemarie die Huldigung Egerlings zurück.
Ilse machte ein etwas süßsaures Gesicht. Sie war ein recht hübsches Mädel bis auf die ein wenig vorstehenden Zähne. Es war doch unbedingt nicht notwendig, daß alle drei Studenten sich als getreue Vasallen zu Annemarie Brauns Füßen scharten. Herrgott, Marlene und sie waren doch auch noch da.
Die Cousine kannte eine solche eifersüchtige Regung nicht. Die beobachtete lachend, wie Annemarie sich von Vronli und Kaschperle mittels eines »Zehnerls« zu Lackritze loskaufen mußte.
Nun konnte man endlich gehen. Die Karawane setzte sich in Bewegung.
»Halt – halt – ich hab’ noch was vergessen«, rief Annemarie plötzlich.
»Was ischt’s denn – halt den Kopf?« neckte ein Jüngling.
»Nein, aber meinen photographischen Apparat, den wollt’ ich heute einweihen, und die Laute hätte ich auch mitnehmen können.«
»I hol’s!« Dienstbeflissen setzten sich Neumanns lange, dünne Beine bereits in Bewegung.
»An meine Sachen laß ich keinen Fremden ‘ran.« Bei all ihrer Liebenswürdigkeit nahm Annemarie kein Blatt vor den Mund. »Ich hol’s schon selber.« Die ganze Gesellschaft machte den kleinen Umweg durch das Burggäßle.
»Liab schaut das Häusle aus.« Neumann übertrug seine Begeisterung für das hübsche Kleeblatt auch auf das weinumrankte, bescheidene Häuschen, in dem es Wurzel geschlagen hatte.
»Das Dreimädlehaus soll’s euch zu Ehre heiße!« schlug Krabbe vor.
Egerling aber begann sofort auf der Laute, die Annemarie herbeibrachte, aus dem »Dreimäderlhaus« zu singen: »Ich schnitt’ es gern in alle Rinden ein – blim – blim – – –.« Unter diesen Klängen ging es zur Stadt hinaus über die Neckarbrücke.
»Zunächst müsse wir Tübingens Dichtervater unsere Aufwartung mache.« Egerling, der Führer, bog in die Anlagen, welche die Stadt mit wundervollen alten Platanen und Eichen umgürtete, ab. Da stand er, umbuscht von Syringen und Rotdorn, Ludwig Uhland.
Stumm schauten sie auf das Steinbild des schwäbischen Balladendichters, dessen Verse ihnen allen durch die Schulzeit hindurch das Geleit gegeben.
»Johann Ludwig Uhland, geb. am 27. April 1787 zu Tübingen, gest. am 13. Dezember 1862«, entzifferte Marlene gewissenhaft die Inschrift.
Ilses Interesse galt der künstlerischen Bildhauerarbeit.
Annemarie aber hatte mehr Freude an den farbenbunten Frühlingsblumen, mit denen die dankbare Vaterstadt noch heute das Denkmal ihres Dichters umkränzt. Sie versuchte durch das abschließende Eisengitter zu langen und sich einen Stengel Goldlack zu brechen. Ritsch – da hatte eine spitze Gitterzacke die voreilige Mädchenhand blutig geritzt.
»Das ist des Sängers Fluch!« Lachend stand Annemie von ihrem Vorhaben ab.
Die Studenten umringten sie. Ein jeder zog sein Schnupftuch zum kunstgerechten Verband heraus. Aber die junge Kollegin lachte sie alle aus.
»Ich bin doch kein Wattepüppchen, im Krieg gab’s andere Wunden. Und zum Probierkarnickel für eure Verbandsstudien geb’ ich mich auch nicht her.« Energisch entwand sich Annemarie der Fürsorge.
»Nun muß sich alles, alles wende – auch wir!« zitierte Egerling und wandte sich rückwärts.
Sie traten hinaus auf eine mit Anemonen und Tausendschönchen über und über bestickte Wiese. Da lehnte dicht neben Uhlands Standbild, unbeweglich wie dieses, der Schäfer auf seinem Stab. Derselbe, der den drei Studentinnen bei ihrem Einzug in Tübingen den ersten Willkomm geboten. Inmitten der melancholisch blökenden Schafe und der in übermütigen Sätzen ihn umspringenden Böcklein, von dem Spitz halb wohlwollend, halb mißtrauisch im Auge behalten.
»Das ischt der Vater Tobias, die bekannteschte Persönlichkeit Tübinges. Er pfuscht halt den größte medizinische Professore ins Handwerk. Wahre Wunderkure erzählt man sich dahier vom Tobias. Von weit und breit komme die reiche Bauern und hole den Schäfer, wenn eins, Mensch oder Vieh, krank ischt.« So berichtete der aus der Umgegend stammende Egerling.
»Wann’s wollt, könnt’s Kolleg beim Tobias belegen«, scherzte Neumann.
»Ja, vielleicht im Strümpfestricken!« Annemarie wies übermütig auf den blauen Strumpf, den der Schäfer jetzt vorzog.
»Dazu seid’s zu dumm, Blaustrumpf seid’s selber, Neschthäkche«, neckte Krabbe.
»Na, erlauben Sie gefälligst.« Annemaries Ehre war verletzt. »Ich hab’ mehr als einen feldgrauen Strumpf während der Kriegszeit gestrickt.«
»Wer’sch glaubt, Fräulein Blaustrumpf!«
»Beweisen werd’ ich’s!« Mit der ihr eigenen Unverfrorenheit trat Annemarie auf den alten Schäfer zu.
»Grüß Gott, Vater Tobias, darf ich Euch ein bißchen beim Strumpfstricken helfen?«
»Was wollt’s?« Mit seinen tiefliegenden Augen musterte der Alte das kecke junge Ding. Das stand stumm vor ihm. Alle Keckheit schwand Annemarie vor diesem Ehrfurcht heischenden Blick des alten Mannes.
Milder schaute der Alte auf das blühende junge Ding. Er hatte in seinem langen Leben manchen lustigen Studentenstreich mit angeschaut und lächelte als Philosoph über die Kinderei der Jungen.
»Wann’sch beliebt.« Er reichte dem jungen Mädchen das grobe blaue Strickzeug.
Nicht triumphierend, sondern ängstlich wie dereinst als kleines Nesthäkchen nahm es Annemarie zwischen die feinen Finger. Behutsam begann sie, zwischen Anemonen und Tausendschönchen Platz nehmend, Masche um Masche abzustricken.
Knips – machte der photographische Apparat, den der Student Krabbe ihr galant trug. »Die erschte Aufnahme ›Fräulein Blaustrumpf‹ ischt hoffentlich gelunge.«
»Solche Gemeinheit!« Jäh sprang Annemarie auf, trat dem sachgemäß zuschauenden Schäferhund auf seine linke Vorderpfote, daß er winselnd zurückwich, und schleuderte das Strickzeug weit von sich.
»Aber Annemarie!« begütigte Marlene, hob das unschuldige Strickzeug auf, zog die herausgegangenen Nadeln wieder hinein und reichte es mit einer Entschuldigung dem alten Schäfer. Der nickte: »Schon guet – schon guet.« Dann stand er wieder unbeweglich, als sei er aus Stein gehauen wie sein durch das Buschwerk herübergrüßender Nachbar Uhland.
Krabbe pirschte sich an die Seite der wütend ausschreitenden Annemarie.
»Schauen’s doch nit so arg garschtig drein, Neschthäkche«, bat er zerknirscht.
»Ach was«, bullerte Annemarie los, »Unverschämtheiten kann ich nicht leiden. Dann ist’s von vornherein aus mit unserer Freundschaft. Wie kommen Sie dazu, meinen Apparat, den ich erst kürzlich von meiner Großmama zum Geburtstag bekommen habe, einzuweihen? Das erste Bild, das ich aus meiner Studentenzeit nach Haus schicken wollte, sollte mit Zerevis und Bierseidel sein. Und jetzt sitz’ ich mit einem Strickstrumpf da und noch dazu unter Schafen. Die Biester sind doch sicher auch mit auf das Bild gekommen.«
»Ganz g’wiß«, bestätigte Krabbe, »aber die Herren Eltern werden’s schon herauskenne.«
Da mußte Annemarie lachen. Ihr Zorn war verflogen.
»Frechdachs!« sagte sie nur noch, als wäre er Klaus.
»Also guet ischt’s, nun wisse mer gleich, wie mer zwei zueinand’ stehe, Neschthäkche. Oder wollen’s mich noch gar fordern?«
»Freilich, auf Pistolenduell!« scherzte Annemarie. Das Kriegsbeil war wieder begraben. Als Sühne forderte Annemarie nur, daß ihr Krabbe das Photographieren beibringen müsse. Das versprach dieser gern.
Neckaraufwärts, am weidenumbuschten Ufer entlang, den Frühlingsbergen entgegen. Wie der leibhaftige Frühling zog die junge Schar, Studenten-und Volkslieder zur Laute singend, noch unbeschwert von den Sorgen des Lebens, durch die grünenden Saaten.
Die drei Großstadtmädel kamen sich wie verzaubert vor. Und ein Jahr, ein ganzes Jahr sollte diese goldene Freiheit, diese überquellende Jugendlust währen.
Im Wirtsgärtle »Zu den Eichen« ward Rast gemacht. Die Kathi brachte Moscht herbei. Mit Todesverachtung tranken ihn die Norddeutschen und schnitten dazu Grimassen, als hätten sie jetzt schon Leibschmerzen.
Egerling klopfte ans Glas. »Kinderle«, begann er, »i möcht euch halt einen Vorschlag mache. Mer tun so guet zueinand’ stimme, daß mer einen Schwäbische Wanderbund gründe wolle. Seid’s damit einverstande?«
»Ja – famos!« Von allen Seiten johlte man ihm Beifall.
»Aber Bedingung ischt: Kameradschaft auf du und du. Sonst ischt ka Gemütlichkeit nit dabei. Einverstande?«
Alle erklärten sich in ihrer lustigen Wanderstimmung auch damit einverstanden. Nur Marlene Ulrich machte Einwendungen: »Ich mag den burschikosen Ton nicht.«
»Pensionstunte!« schalt Annemarie.
»So a liabs Mädle wird doch ka Spielverderber nit sein. Noch dazu, wenn’s denselbe Name trägt wie unser berühmter Herzog. Also sei ka Widerwurze nit, schlag’ ein, Ulrich.«
Und Ulrich schlug lachend ein.
Singend hielten sie in Tübingen wieder ihren Einzug.
»Nach Hause, nach Hause, nach Hause gehn mer nit«, sang Egerling, und die andern fielen ein.
Wieder zupfte Marlene die mit lauter Stimme im Chor schmetternde Freundin. »Annemie, wir sind in der Stadt. Was sollen die Leute denken?«
»Daß fidele Studenten ihren Einzug halten.« Annemarie ließ sich nicht stören.
»Eine Gottessünd’ wär’s, an solch einem herrlichen Frühlingsabend auf seine Bude zu gehe«, meinte Egerling. »I schlag vor, mer gehe alle miteinand’ fouragiere und nachtmahle zusamme im Gärtle vom Dreimädlehaus.«
»Großartig!« Annemarie und Ilse waren Feuer und Flamme.
»Wird’s auch unserer Kirchenmaus recht sein?« gab Marlene zu bedenken.
»Ei freili, die freut sich, wenn’s so liabe Gäscht komme.« Man ging zusammen Brot, »a Käs’ und a Wurscht« kaufen.
»Stoff hole mer uns jedes sein Krügle.«
Aber die Mädel wollten kein Bier trinken, sondern zogen die Milch, die Frau Kirchmäuser ihnen täglich besorgte, vor.
Bald schleppte die ausgelassene Jugend, zum größten Gaudium von Vronli, Kaschperle und Putzerli, Tisch und Stühle ins Gärtle hinaus. Frau Kirchmäuser schien nicht weiter überrascht von dem Überfall. Sie hatte stets an Studenten vermietet und war an derlei Überrumpelungen gewöhnt.
»Nur meine Salatpflänzle – weh euch, wenn’s meine Pflänzle zertrete tut«, warnte sie.
Hoch und heilig versprach man, die Salatpflanzen zu verschonen.
»Geschirr brauche mer keins, das könnt’ der Kirchenmaus halt zuviel Umständ’ mache«, schlug Neumann vor.
Aber damit waren die Mädel nicht einverstanden. Der weibliche Schönheitssinn und die Gastlichkeit, die jede bei sich daheim kennengelernt, machte sich geltend.
»Wir waschen es eigenhändig wieder ab«, versprachen sie, Teller, Messer und Gabeln hinaustragend.
Aber davon wollte die biedere Wirtin nichts wissen. »I richt’s scho’ selber.«
Die Studenten übernahmen das Tischdecken, die Mädel die Zubereitung der Brote. In bunter Reihe gruppierte man sich um die Tafel, welche Doktors Nesthäkchen mit dem Vergißmeinnichtstrauß, den es am Neckar gepflückt, geschmückt hatte.
»Die Kirchenmäuse müsse das Präsidium übernehmen.« Die Übermütigen taten es nicht anders, das gemütliche Wirtspaar mußte mithalten.
Und als Frau Kirchmäuser jetzt ihren Gästen eine große Schale saure Milch auftischte, erscholl’s zum Dank schmetternd im Chor: »Lindenwirtin du junge.«
Der Frühlingsabend dämmerte lind und weich hinab. Immer noch klangen die Weisen, frohe und traurige, durch das Burggäßle. Auf den Hausbänken lauschten die Bewohner, den Feierabend genießend, dem herzerfrischenden Sang:
»‘s gibt kein schöner Leben,
Als Studentenleben.«
Der Neckar rauschte die Begleitung, und die alten Giebelhäuser, die Jahrhunderte kommen und gehen gesehen, blickten still auf das sich stets wieder erneuernde junge Leben herab.