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8. Kapitel
Im Dreimäderlhaus

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Inhaltsverzeichnis

Lange sprach man in Tübingen noch von dem Rosenfest. Besonders im Dreimäderlhaus mußte alles haarklein berichtet werden. Annemarie tat das auch nur zu gern. Wie man bei der märchenhaften Beleuchtung von farbigen Lampions an langen Gartentafeln bei der Erdbeerbowle gesessen und Studenten-und Volkslieder ins schlafende Neckartal hinaus gesungen hatte. Wie dann umfangreiche Biertonnen unter lautem Hurra herangerollt wurden und der Kommers begann. Getanzt hatte man, Bierjungen getrunken und Semester gerieben. Auch den Damen waren Kneipnamen beigelegt worden. Sicher war die Viehmuse daran schuld, daß man sie mit einemmal allgemein »Nesthäkchen« rief. Bloß um sie zu ärgern, weil Annemarie die Kahnfahrt mit Dr. Hartenstein der Gesellschaft Krabbes und Neumanns vorgezogen hatte.

»Was sagt ihr denn nur dazu, Kinder, daß ich meinen Würzburger Kavalier hier wiedergefunden habe? Und Fräulein Hartenstein dazu, nach der ich mir die Augen blind gesucht hab’! Wir wollen jetzt öfter zusammen sein – sie wird euch gefallen.«

Annemarie wurde noch lebhafter als gewöhnlich.

»Ich habe gehört, die Cousine Anneliese Bergholz soll viel hübscher sein«, warf Marlene ein.

»Mir gefällt Ola Hartenstein besser.«

»Sie sieht wohl wie ihr Bruder aus?« fragte neckend Ilse.

»Nee, ganz und gar nicht!« – Peinlich, daß man manchmal rot wird und immer in den ungeeignetsten Momenten.

»Denkt mal, die ganze Mondscheinnacht haben wir durchgekneipt«, gab Annemarie dem Gespräch rasch eine andere Wendung. »Der Sonnenaufgang war bezaubernd schön. Bergholz hat vorgezogen, ihn von seinem Bett aus zu genießen. Er drückte sich englisch. Aber viel geschlafen wird er wohl kaum bei dem Radau haben. Denn die ausgelassene Gesellschaft ließ sich nicht im geringsten stören. Mit dem Milchjungen zugleich kam ich erst heim. Herr Nepomuk ging gerade auf Arbeit. Eigentlich eine Schande!«

»Wenn ich dabei gewesen wäre, hättest du nicht die ganze Nacht durchkneipen dürfen wie ein Student, Annemie. Dann wären wir zu anständiger Bürgerstunde nach Hause gekommen«, scherzte Marlene.

»Sicher, Pensionstuntchen. Gut, daß du nicht da warst. Übrigens, Rudolf Hartenstein wollte euch noch holen, es tat ihm zu leid, daß man euch daheim gelassen hatte. Aber da es bereits auf Mitternacht ging, habe ich doch im Interesse der Kirchenmäuse und eurer Nachtruhe dagegen protestiert. Dafür erhaltet ihr aber Entschädigung.« Annemarie brachte einen umfangreichen Beutel, der geschickt aus einer Seidenpapierserviette durch Zusammenraffen der vier Ecken gefertigt war, und öffnete ihn mit verheißungsvoller Miene.

»Mmm –«, machte Ilse begehrlich und leckte sich mit flinkem Züngelchen die Lippen. »Hast du das alles gemaust, Annemie?«

»Nee, ich klaue immer nur bescheiden. Ich hatte mir für jede von euch ein Praliné und ein Stück Konfekt eingepackt. Aber Dr. Hartenstein füllte ihn trotz meines übrigens nicht allzu energischen Widerspruchs mit allem Guten, was noch zu haben war. Er fand, das sei noch viel zuwenig für euch, arme Daheimgebliebene.«

»Scheint wirklich ein netter Mensch zu sein, der Dr. Hartenstein«, meinte Ilse anerkennend und ließ es sich schmecken.

»Krabbe und Neumann waren nicht sehr begeistert von ihm. Arrogant fanden sie ihn«, berichtete Marlene, Ilses Beispiel folgend. »Du hättest dich viel zuviel mit ihm abgegeben.«

»Eifersüchtig sind sie, die dummen Jungs – ganz einfach! Wie können die jungen Füchse sich überhaupt erdreisten, ein älteres Semester so unverschämt zu kritisieren«, begehrte Nesthäkchen auf. »Und ich für mein Teil werde mir das ganz energisch verbitten, daß sie sich in meine Angelegenheiten hineinmischen.« Ganz heiß redete sie sich.

»Ach, bausch’ die Sache doch bloß nicht auf«, begütigte Marlene. »Sie meinen es doch nicht bös’. Unser Schwäbischer Wanderbund war bisher so harmonisch, daß wir keinen Mißklang hineinbringen wollen.«

»Gleich werden sie übrigens hier sein, unsere Schwaben, um uns zum Sonntagsspaziergang abzuholen. Es schlägt schon vier.« Ilse biß mit kräftigen Zähnen auf eine Krachmandel.

»Hab’ gar keine Lust mitzugehen.« Annemarie gähnte herzbrechend. »Ich hab ‘nen Kater.«

»‘nen Bock hast du, eigensinnig bist du. Komm nur ruhig mit. Frische Lust vertreibt Katzenjammer am besten, sowohl körperlichen wie moralischen«, lachte Ilse Hermann sie aus.

»Moralischen Katzenjammer? Möcht’ wissen, weshalb.« Annemarie schnippte mit den Fingern. Aber sie konnte es doch nicht verhindern, daß eine höchst überflüssige Röte sich wieder heiß über ihr Gesicht ergoß. Sie schielte auf ihre linke Hand. Sah man es der nicht an, daß jemand sie geküßt hatte?

Was war denn aber eigentlich dabei? Ein Handkuß war doch nur eine Höflichkeitsform und bei einem galanten Biedermeierherrn noch viel weniger von Belang. Ja, aber warum mußte sie denn da unausgesetzt an diesen Handkuß im Boot denken? Warum hatte sie den Freundinnen nicht harmlos lachend davon erzählt, wie sie sonst alles bis ins kleinste berichtet hatte? Alles? Nein, alles hatte sie doch nicht berichtet. Sich selbst gegenüber mußte sie doch wenigstens ehrlich sein. Daß Rudolf Hartenstein sie beim Abschied gebeten hatte, während seiner Erholungsferien, die er hier in Tübingen verbrachte, recht oft mit ihm ins Grüne hinauszuwandern, das hatte sie den Freundinnen auch verschwiegen. Worum? Es war doch nicht anders, als wenn sie mit der Viehmuse oder Egerling einen Spaziergang machte.

Das Motiv aus dem Dreimäderlhaus »Ich schnitt es gern in alle Rinden ein« erklang vom Gärtle herauf in kunstgerechtem Pfiff. Sie waren da, die Freunde. Annemarie raffte den Rest der Süßigkeiten, die Marlene und Ilse in ihrem Vertilgungseifer noch übrig gelassen hatten, zusammen. »Das ist für Egerling.« Dann folgte sie den Freundinnen die schmale Stiege hinab. Sie konnte ganz ruhig mitgehen. Lächerlich, daß Rudolf Hartenstein heute schon an den erbetenen Spaziergang denken würde. So eilte es ihm nicht damit.

Die Kirchenmäuse waren auf Kindlbier ins nächste Dorf geladen. Sorglich legte Marlene den Hausschlüssel unter die Türmatte. Hier im Schwabenland gab’s lauter ehrliche Menschen.

»Grüß Gott – ausg’schlafe, Neschthäkche? Hascht ja geschtern kein Blick nit für deine Freund’ g’habt?« begrüßte sie Egerling.

»‘sch gab halt anderen Leut’ Blicke zu schenke«, warf die Viehmuse anzüglich dazwischen.

Annemarie hielt es für das klügste, Krabbes Sticheleien sowohl, wie Neumanns vorwurfsvollen Karpfenaugen keine Beachtung zu schenken. Die kindliche Freude Egerlings über die für ihn aufgesparten Zuckerle gaben ihr alsbald ihre Unbefangenheit wieder.

Sonntagsruhe in der Stadt. Sonntagsruhe auch draußen in der Gottesnatur. Das Ammertal, in dem sie aufwärts stiegen, lag so friedlich, so weltabgeschieden mit seinem Erlengrund. Leis’ plätscherte die Ammer dem Neckar zu. Heupferdchen geigten irgendwo im verborgenen. Eine goldbraune Eidechse sonnte sich auf moosigem Felsgestein. Da fand auch Doktors Nesthäkchen, das seit gestern eine unbegreifliche innere Unruhe verspürte, wieder sein Gleichmaß und seine gewohnte Heiterkeit. Das Leben war ja so schön. Wolkenlos klar wie der Sonntagshimmel da droben schien es den jungen Menschen.

Auf dem Hochplateau, das man erreichte, war man bei der Heumahd. Ungeachtet der Sonntagsruhe wurde hier fleißig geschafft. Das schöne Wetter mußte genützt werden.

»Grüß Gott!« Egerling blieb stehen und sah mit sachverständigen Blicken zu. »Schafft’s?«

»‘sch muß halt guet sein!« Der Bauer sah nicht auf.

»Solle mer helfe?« Es war Neumann, der als Faulpelz bekannt war, ganz gewiß nicht ernst mit seinem Anerbieten.

Geringschätzig blickte der Bauer auf die Abzeichen ihrer Würde tragenden Studenten.

»Dazu sein’s Studentle halt nit klug gnua«, schmunzelte er.

»Oho!« Der Dorfschulzensohn begehrte auf. »Hob scho’ mehr als so a bißle Grünzeug g’schnitte.«

»Versuch’sch!« Der Bauer reichte ihm die Sense, »aber schneid’ di nit, ‘s ischt nämli g’schärft.« Er lachte dröhnend. Die Frau, der Knecht und das Dirnlein hielten ebenfalls im Schneiden und Zusammenharken inne und sahen mit spöttischen Augen auf den Stadtherrn, wie der sich wohl blamieren würde.

Aber kunstgerecht ließ Egerling die blanke Sense durch das Gras sausen. Schwaden um Schwaden sank, von seinem muskulösen Arm getroffen.

»Brav ischt’s«, lobte der Bauer erstaunt, »hätt’ i dem Herrn Studentle nimmer zug’traut. Schad’, daß ka Bauer nit wirscht.«

»Geischtlich will i werde, da kann i mein Land auch b’stelle!« Egerling mähte kraftvoll weiter.

»Da werde d’ Landleut’ mal a recht’s Zutraue zu dem Herrn Pfarrer habe, wenn er ihr’ Sach’ so guet verstehe tut«, meinte der Bauer anerkennend. Die Ehrfurcht vor dem geistlichen Stand ließ ihn nicht mehr das landläufige »Du« gebrauchen. »Aber ‘sch wird dem Herrn halt z’viel werde.«

»Das bißle? I will den Strich scho’ richte. Kommt’s helfe, Kinderle«, wandte sich Egerling an die Kameraden. Ihr könnt’s z’sammereche, Krabbe und Hermann, du, dort drübe das Heu umwende, Ulrich, und du, Neschthäkche, muscht halt auflockere, daß d’guete Herrgottssonn’ allenthalbe dazu kann. Ja, Neumann, wie kannscht denn du noch helfe?«

»I weiß scho’ wie«, – und da lag Neumann, das Faultier, auch schon der Länge nach irgendwo im Heu und schloß mit melancholischem Gesicht seine Karpfenaugen.

Mit Rechen und Heugabeln rückten die andern ihm zu Leibe, um ihn etwas nachdrücklich damit zu »kitzeln«. Aber Neumann rührte sich nicht. So machte man sich denn, lachend auf den Nichtstuer schimpfend, selbst ans Werk.

Hei – das schaffte. Die Wangen glühten, die Arme erlahmten, der Rücken schmerzte von der ungewohnten Arbeit – was tat’s? Immer weiter! Frisch vorwärts!

Doktors Nesthäkchen stand in einem Heuregen, so temperamentvoll lockerte es die niedergemähten Schwaden. Seit ihrem einstigen Ferienaufenthalt bei Onkel Heinrich auf Gut Arnsdorf hatte sie nicht so frischfröhliche Arbeit unter blauem Himmel getan.

Marlene und Ilse, die niemals auf dem Lande gewesen, stellten sich ziemlich ungeschickt an, aber das erhöhte nur noch die gute Laune. Übermütige Neckereien begleiteten die Arbeit.

»Neschthäkche«, rief da Neumann, durch die Augenlider blinzelnd, »gib Obacht!«

»Redest du aus dem Schlaf, Faulpelz?« Annemarie ließ sich nicht stören.

»Freili, mir hat g’träumt, da drübe geht halt dein Verehrer. Aber er hat dich heut kaltg’stellt, Neschthäkche. Er spaziert mit andern Mädle, gleich zwei halt zur Auswahl. Hahaha!« – Neumann lachte sichtlich erfreut.

Die Heuhalme entfielen Annemaries Händen. Ihre Arme sanken schlaff herab. Wirklich, dort oben auf der kleinen Anhöhe zeichneten sich von dem durchsichtig klaren Äthergrund drei Figuren wie scharfgeschnittene Silhouetten ab. Ein Blick überzeugte Annemarie, daß es in der Tat Rudolf Hartenstein war, der dort, an einem Arm die Schwester, am andern die Cousine, den Talblick genoß. Sie wandten der hinüberstarrenden Annemarie den Rücken. Jetzt schritten sie weiter, ohne sie bemerkt zu haben.

Annemarie wußte nicht, sollte sie sich darüber freuen oder ärgern. Jedenfalls war es um ihre Arbeitsfreudigkeit geschehen. Und da hatte sie gedacht, er könnte gleich heute kommen, sie zum Spazierengehen abzuholen. Ganz recht war ihr diese Lehre. Was bildete sie sich auch ein, es mit einem so liebreizenden Mädchen wie Anneliese Bergholz aufnehmen zu können.

Die Mädel begannen allmählich über Muskelschmerzen zu stöhnen. Egerling hatte ein Einsehen. Nachdem er den Grasstrich, seiner Vornahme gemäß, niedergelegt hatte, setzten sie unter lebhaften Dankesworten des Bauern ihren unterbrochenen Spaziergang fort.

»Zum Erntefescht müscht ihr komme und mithalte«, rief er noch hinter ihnen drein.

Die lustige Stimmung der jungen Wanderer war noch gerade so fidel wie zuvor. Die Sonne strahlte ganz ebenso golden. Und doch schien es Annemarie, als ob alles ringsum verändert wäre. Woran lag das nur?

Im Dreimäderlhaus waren die Kirchenmäuse noch nicht heimgekehrt. Der Schlüssel lag unangetastet an seinem Platz. Annemarie hatte die drei Schwaben, die Lust zu haben schienen, gemeinsam mit ihnen zu Abend zu speisen, ziemlich deutlich verabschiedet. Sie sei heute zu müde und bedürfe bald der Ruhe.

»Da sieht man’s halt wieder, daß ihr Mädle nix aushalte könnt. Wozu studiert’s nachher, wenn’s nit mal eine Nacht durchbummele kannscht«, zog Egerling sie auf.

»Neschthäkche hat halt Weltschmerz!« – Neumann machte die dazu passenden Augen.

»Schöne Mädli, di kenn i wohl drei an der Zahl, die eine liab i, die zweite küss’ i, die dritte heirat’ i amal«, sang Krabbe mit bierheiserer Stimme. »Hascht Luscht, Neschthäkche, die dritte zu werde?«

»Unverschämtheiten mit anzuhören, dazu habe ich keine Lust!« Nesthäkchen sprach’s und wandte den Freunden den Rücken.

»Ja, was hat’s denn? Warum ischt’s denn gar so borschtig heut?« meinte Egerling verwundert. Die liebenswürdige Annemarie, die auf jeden Scherz sonst ein kecklustiges Wort fand, kannte man ja gar nicht wieder.

»‘nen Katzenjammer hat sie«, lachte Marlene.

»Wenn die Kinder müde sind, werden sie unartig«, stimmte auch Ilse ein, die recht gern den Abend in lustiger Gesellschaft verbracht hätte.

Inzwischen hatte Annemarie die Haustür geöffnet. Etwas Weißes, das dazwischen geklemmt war, fiel zu Boden. Schnell bückte sie sich danach. Eine Besuchskarte – Dr. med. Rudolf Hartenstein – stand in gedruckten Lettern darauf. Darunter mit Bleistift Olga Hartenstein, Anneliese Bergholz.

Also war er doch gekommen! Alle drei waren sie dagewesen, sie zum Spaziergang abzuholen. Was solch ein weißes Blatt doch vermochte. Annemarie sprang plötzlich trällernd die Treppe hinauf ans Fenster.

»Wenn’sch brav sein wollt, Studentle, und eure Keckheite lasse, dürft’sch dableibe und eure Brote halt im Gärtle esse«, rief sie schwäbelnd mit lachendem Gesicht hinter den drei abziehenden Schwaben her.

»Ischt’s wahr?« Sofort wurde kehrtgemacht.

»Ja, Neschthäkche, bei dir kennt man sich nimmer aus.« Heilfroh waren die Kameraden, daß Annemarie wieder scherzte. Denn sie hatten das muntere Ding rechtschaffen gern.

Das wurde wieder ein fideler Abend im Dreimäderlhausgarten. »Nachfeier zum Rosenfest« nannten sie’s. Annemarie wußte nichts mehr von Katzenjammer, von Müdigkeit oder gar Gereiztheit. Jetzt war sie es, welche die anderen aufzog.

»Neschthäkche, werd’ bloß kein launisches Frauenzimmer nit«, meinte Egerling väterlich, als sich die drei zum Heimweg entschlossen. »Launische Weible hat unser Herrgott im Zorn erschaffe.«

Eine fleißige Arbeitswoche folgte den frohen Festtagen. Zielbewußt gingen die drei Freundinnen, trotzdem sie in dem fröhlichen Schwabenland nur zu gern ihre Jugend genossen, von Anfang an auf ihr Ziel los. Marlenes Pflichttreue wirkte auch auf die etwas leichter geartete Annemarie vorbildlich.

Doktors Nesthäkchen hatte in dieser Woche doppelte Pflichten. Auch hauswirtschaftliche. Die waren ungleich schwieriger als die gelehrtesten medizinischen Abhandlungen, die es zu verstehen galt. Wer die »Woche« hatte, mußte die Betten machen und das Waschgeschirr reinigen, denn Frau Kirchmäuser hielt sich keine Bedienung. Der Mietpreis war deshalb mäßiger als anderswo. Dann galt es, Kakao zu bereiten, Einkäufe zu machen und den Abendbrottisch zu versorgen. Das war gar nicht so einfach, wenigstens für Doktors Nesthäkchen nicht, die stets daheim von Hanne und dem Hausmädchen verwöhnt und bedient worden war.

Hier galt’s nun selbst anzupacken. Als Annemarie zum erstenmal die Betten gerichtet hatte, zeigten dieselben eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Schwäbischen Alb. Wellenlinien, niedliche Hügel und Anhöhen, dazwischen Täler und Schluchten. Die Freundinnen lachten sie weidlich aus. Die praktische Ilse offenbarte ihr das Geheimnis, wie ein Bett glatt und eben zu richten sei.

Auch der Einkauf hatte seine Schwierigkeiten. Nesthäkchen war nicht kleinlich. Es kaufte gleich engros, weil man es im ganzen immer ein paar Pfennige preiswerter erhielt. So überraschte es eines Tages die Freundinnen mit zehn Köpfen Blumenkohl, weil es den einen, den es ursprünglich hatte kaufen wollen, dadurch um zwanzig Pfennige billiger bekam. Marlene und Ilse waren entsetzt. Die ganze Woche durch zu sämtlichen Mahlzeiten mußte Blumenkohl gefuttert werden. Er wollte nicht zu Ende gehen. Frau Veronika nahm freundlichst zwei Köpfe ab, immer noch war Blumenkohl da. Der ganze Schwäbische Wanderbund, auch Ziegenhals und Steinbock, mußten sich opfern und einer Blumenkohleinladung folgen. Den gemeinsamen Bemühungen gelang es schließlich, den endlosen Blumenkohl zu vertilgen. Aber während ihres ganzen Studienjahres mochten die Bewohnerinnen des Dreimäderlhauses keinen Blumenkohl mehr sehen.

Beim Kochen hatte Doktors Nesthäkchen noch die besten Erfolge zu verzeichnen. Dies lag aber weniger an Annemaries Tüchtigkeit, als an Frau Veronikas Hilfsbereitschaft. Die Frau Wirtin hatte nun mal ihren Narren an dem hübschen, lustigen Fräulein gefressen. Nachdem Annemarie gleich zu Beginn ihrer hausfraulichen Bestrebungen ein wenig aufgeregt zu ihr gekommen war: »Liebe, gute Frau Kirchmäuser, sehen Sie doch bloß mal nach, ob die Eier schon weich sind. Sie kochen bald eine halbe Stunde!« Ja, da hatte Frau Veronika es doch für richtig gehalten, nach derartigen Proben von wirtschaftlicher Tüchtigkeit selbst mit Hand anzulegen. Annemarie aber mochte sich nicht auslachen lassen. Sie schämte sich, daß sie weniger verstand als die Freundinnen. Sie nahm sich vor, bei Frau Veronika in die Lehre zu gehen. Mit Energie und Intelligenz machte sie sich ans Werk. Und wenn’s auch noch manche Klippe, ja sogar öfters mal Schiffbruch gab, Frau Veronika vermochte Annemarie jetzt doch schon wohlwollend die Anerkennung zu zollen: »Sie sein gar nit so arg dumm, wie i denkt hab’.«

Heute galt es den Einkauf zu besorgen. Es war Wochenmarkt. Die Bauernfrauen kamen mit Pferd und Wagen in die Stadt kutschiert. Oder sie trugen auf dem Kopf, wie es hier Landesbrauch war, den Käfig mit gackernden Hühnern.

Den buntgeflochtenen Marktkorb der Frau Veronika an dem einen Arm, am andern das Vronli, das den Kaschperle hinter sich herzog, machte sich Doktors Nesthäkchen auf den Weg. Für die Kinder war es die größte Freude, das Tanteli beim Einkauf zu begleiten.

Der Marktplatz bot ein malerisches Bild. Unter roten und grauen Regenschirmen von gewaltigen Dimensionen hielten die Bauernfrauen, nicht weniger umfangreich, meistens in Tracht, ihre Waren feil. Der steinerne Neptun schaute von seinem Brünnle in eherner Ruhe wie vor Hunderten von Jahren auf das Gewühl herab. Allzu voll war es nicht mehr. Die Bewohner hatten bereits ihre Einkäufe am Vormittag erledigt, der für Annemarie wissenschaftlichen Studien geweiht war.

Zuerst mußten Vronli und Kaschperle befriedigt werden. Denn die Begleitung des Tanteli war nicht das hauptsächlich verlockendste Moment. Was für die Leckermäulchen beim Einkauf abfiel, war eigentlich von ungleich wichtigerer Bedeutung. Also erst eine große Tüte mit Kirschen erstanden. Selig nahmen sie Vronli und Kaschperle in Empfang.

»Nachher darf der Kaschperle die Kirschle auch trage, gelt, Tanteli?« bat der Kleine.

Annemarie nickte freundlich.

»‘s ischt noch zu arg klein, ‘s Büble, dasch geht nit«, spielte sich Vronli als große Schwester auf.

Annemarie maß der Debatte keine weitere Bedeutung zu. Sie hatte wichtige Überlegungen. Sollte sie heute abend Schmarren mit geschmorten Stachelbeeren vorbereiten, wie man es mittags mit den Freundinnen verabredet hatte? Es gab lebende Fische auf dem Markt – »arg guet sein’s«, pries sie die Verkäuferin an. Freilich, die Vor-und Zubereitung derselben war Annemarie ein Buch mit sieben Siegeln. Aber wozu gab’s denn eine Frau Veronika? Wie würden die Freundinnen staunen, wenn sie ihnen so ein extragutes Mahl auftischte.

Die Fische wurden erstanden. Auch Stachelbeeren, Eier, Butter und Tomaten wanderten in den Korb.

»So, Kinder, nun können wir heim!« Stolz wandte Annemarie sich nach ihren kleinen Trabanten um. Ja, wo waren denn die? Ihr Blick überflog die Reihen mit farbenleuchtenden Obst-und Gemüseständen.

Kein Vronli, kein Kaschperle. Aber dort am Neptunsbrünnle, wo die Fischstände waren, erklang eine schreiende Kinderstimme. Die mußte zum Kaschperle gehören.

»Vronli, Kaschperle, was ist denn?« Annemarie beschleunigte ihren Schritt. Sie dachte nicht anders, als den Kindern sei etwas zugestoßen.

»Gibscht oder gibscht nit, du garscht’ges Ding du!« Mit beiden Fäusten ging der kleine Wüterich auf die Schwester zu, die lachend die Tüte mit Kirschen hoch über ihrem Kopf hielt.

»Grein’ doch nit so, Büble, ‘sch Mädle wird di scho’ Kirschle gebe«, begütigte eine dicke Marktfrau den schreienden Buben.

Aber »‘sch Mädle« dachte gar nicht daran.

»Arg wüscht bischt, lueg, da kommt’sch Tanteli«, versuchte es den Kleinen von der Tüte abzulenken.

Der aber wollte nicht das Tanteli, sondern die Kirschen. Ein erneuter Ansturm, diesmal auch noch von nagelbeschlagenen Stiefeln unterstützt, erfolgte. Annemarie, die sich vergeblich bemühte, die kleinen Kampfhähne zu trennen, geriet mitten in das Kriegsgewühl.

»Schämst du dich denn gar nicht, Kaschperle, so unartig zu sein – Vronli, ich nehm’ euch nie wieder mit zum Einkaufen –

Annemaries Stimme verhallte unter Kaschperles Gebrüll.

Das junge Mädchen hob den Arm, um Vronli die Kirschen der Zwietracht zu entreißen. Ein Stoß, ein wütender, von Kaschperles kräftigen kleinen Armen, da flog der bunte Marktkorb mit seinem noch bunteren Inhalt mitten hinein in das Steinbassin des Neptunsbrünnle. Die Fischlein, die das Heimatselement fühlten, begannen sofort dem sie einengenden Papier sich zu entwinden und luftig in dem klaren Wasser umherzuschwimmen. Die Butter und die Tomaten schwammen als Soße zur gefälligen Auswahl hinterdrein. Dazwischen segelte Frau Veronikas Marktkorb. Die Stachelbeeren waren nach allen Himmelsrichtungen entsprungen. Ach, und die Eier – die Eier waren das allerschlimmste! An Annemaries weißem Sommerkleid sickerte es goldgelb herab, in Kaschperles braunem Kraushaar leuchtete es golden und Vronlis Schürzlein hatte auch sein Teil abbekommen.

Die klebrigen Eiweißhände weit von sich spreizend, stand Doktors Nesthäkchen »versteinert«, wie der Neptun droben, mitten auf dem Tübinger Marktplatz.

Gerechter Strohsack – da schwammen all die guten Dinge, auf deren Einkauf sie so stolz gewesen. Und obendrein noch das Lachen und gutmütige Spötteln der Marktweiber ringsum.

»Fangen’s doch d’ Fischle wieder – Kinderle, geht’s daher, sucht’s halt de Beerle z’samme!« Von allen Seiten regnete es gute Ratschläge.

Doktors Nesthäkchen wäre am liebsten auf und davon gelaufen. Aber es konnte die teuren Sachen doch unmöglich preisgeben. In manch einer ungewöhnlichen Situation hatte es sich schon befunden und stets den Humor dabei behalten und mit den anderen um die Wette gelacht. Aber heute versagte der Humor.

»Sollen wir angeln helfen, Fräulein Annemarie?« Eine lustige Männerstimme erklang hinter der Erstarrten. Alles Blut sagte sie ihr zum Herzen. Rudolf Hartenstein, den photographischen Apparat in der Hand, mit dem er Stadtaufnahmen gemacht, stand hinter ihr, daneben Anneliese Bergholz. Sie lachte Tränen über das malerische Stilleben im Neptunsbrünnle.

Das überlebte Annemarie nicht. Ohne zu überlegen, tat sie das, was sie gleich hatte tun wollen – heidi – fort war sie!

»Aber Fräulein Annemarie, Sie tun ja grad’, als ob Ihnen alle Felle davongeschwommen wären. Es sind doch halt nur Fische!« Vergeblich versuchte Rudolf die Flinke einzuholen. »Geben’s mir doch wenigstens eine Hand – – –«

Was – die klebrigen Eierpfoten? Das fehlte gerade noch. Annemarie beschleunigte das Tempo. Eiligst in eins der alten Giebelhäuser hinein, die Stiegen hinauf, nun kam sie in der oberen Gasse wieder Im Erdgeschoß heraus. Sie kannte sich hier schon gut aus. So – ein tiefer Atemzug – sie war ihrem Verfolger entgangen.

Was würde Frau Veronika nur sagen? Ohne Korb, ohne Ware und ohne Kinder kam sie zurück. Letztere sammelten noch immer Stachelbeeren auf dem Marktplatz ein.

Scheu schlich sie sich an der Küche vorbei. Oben angelangt, nahm sie erst die Reinigung ihres äußeren Menschen vor. Gut, daß Marlene und Ilse sie nicht in diesem Aufzug erblickten, daß die im Kolleg waren. Das gäbe sonst sicher Anlaß zu endlosen Neckereien.

Eigentlich hatte sie sich doch mächtig dämlich benommen, daß sie auf und davon gelaufen war. Wie meistens kam Nesthäkchen erst hinterher zu dieser Einsicht. Gute Miene zum bösen Spiel machen und retten, was noch zu retten war. Das wäre viel schlauer gewesen. Wenn sie es sich jetzt nachträglich klar machte, so war es weniger das Erscheinen von Rudolf Hartenstein, als das Lachen seiner Cousine, das sie in die Flucht gejagt. Von der wollte sie sich nicht auslachen lassen. Nein, von der nicht! Und da benahm sie sich wie ein dummes Gör und gab durch ihr Davonlaufen erst recht Grund zum Lachen. Nesthäkchen ballte die Hände. Krebsrot wurde es vor Ärger.

»Fräulein Annemarie – Fräulein Annemarie!« Vom Gärtchen her erklang Dr. Hartensteins Stimme.

Sollte sie sich taub stellen?

»Kommen’s nur, Fräulein Annemarie, wir haben halt alles wieder beieinand’«, schallte es von neuem herauf.

Nesthäkchen schielte durch die Gardine. Er war allein, ohne die Cousine. In der Hand schwang er ein Netz mit Fischen. Vronli und Kaschperle mit Korb und Tüten, durchaus nicht schuldbewußt, sondern ganz fidel an seiner Seite.

Wie der Wind war Annemarie unten.

»Herr Doktor, was haben Sie bloß von mir gedacht – – –«

»Daß es leichter ist, Medizin zu studieren, als auf dem Wochenmarkt Einkäufe zu machen«, lachte Rudolf. »So – da wären die Fischle, kragt’s alles dem Mutterli in die Küche, Kinderle. Und ein andermal seid’s braver. Und Sie, Fräulein Annemarie, müssen’s halt jetzt auch brav sein, und zum Dank, daß ich so fleißig für Sie geangelt hab’, den versprochenen Spaziergang mit mir machen.«

»Gehen Sie denn nicht mit Ihrer Cousine Anneliese?« Halb freudig, halb zaghaft klang’s.

»Nein, ich geh’ halt mit der Annemarie«, lachte der junge Arzt.

Was dachte Doktors Nesthäkchen jetzt noch an Fische, Schmarren und Stachelbeeren und an die hungrigen Freundinnen! Es schritt an Rudolf Hartensteins Seite über rebduftende Höhen bei Grillengezirpe und Sonnengeflirr weit hinaus ins Neckartal.

Und hätte sich die gute Frau Veronika nicht erbarmt, dann hätte man im Dreimäderlhaus heute hungrig zu Bette gehen müssen.

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