Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 100

3. Kapitel
In Tübingen

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

In der großen Bahnhofshalle in Stuttgart, oder vielmehr »Stuckart«, wie die Einwohner ihre Stadt zu nennen pflegen, schaute Annemarie sich vergeblich die Augen nach Marlene und Ilse aus. Sie hatte bestimmt gehofft, daß die beiden sich zum nächsten von Würzburg kommenden Zuge an der Bahn einfinden würden. Aber soviel Annemarie auch schaute, so oft sie auch einer Schwarzhaarigen und einer Hellblonden nachjagte – stets vergeblich.

»Dämelsack!« knurrte Doktors Nesthäkchen ärgerlich in sich hinein und meinte eigentlich sich selber mehr damit als die Freundinnen. Denn Annemarie hatte in ihrer Huschligkeit wieder mal nicht recht hingehört, wie das Hotel hieß, in dem Marlenes Vater Zimmer für sie bestellt hatte. Nun stand sie ratlos am Ausgang und wußte nicht, wohin sich wenden. Hotel neben Hotel, welches mochte das richtige sein? Es half nichts, sie mußte die Runde machen und Nachfrage halten. Aber wohin sie sich auch wandte, nirgends waren die beiden jungen Damen, Fräulein Ulrich und Fräulein Hermann, abgestiegen. Was nun? Annemarie eilte wieder zum Bahnhof zurück in der Hoffnung, daß sich die Freundinnen vielleicht verspätet hätten. Mit dem gleichen negativen Erfolge.

Da leuchtete ein Plakat von der Bahnhofswand: »Hotel Continental, erstklassig, mit allem modernen Komfort.« Halt, war das nicht der Name des Hotels gewesen? Sicherlich! Annemarie glaubte sich jetzt bestimmt zu erinnern. Der Name war nicht unter den Gasthäusern, die sie bisher abgeklappert, also vorwärts mit frischer Hoffnung nach Hotel Continental.

Sie fragte einen Polizisten nach der Lage desselben.

Er verstand sie nicht.

»Hotel Kontinental gibt’sch gar nit bei uns da.«

»Aber dort steht es ja angeschlagen.« Die junge Dame wies auf das Plakat.

»Ach, Sie meinen Zontinen-Tal.« Der Mann betonte die ersten drei Silben, als ob sie den Namen für das darauffolgende Tal bildeten.

»Freilich, Zontinen-Tal.« Annemarie kicherte wie ein Kobold. Ihre gute Laune, die bei dem vergeblichen Suchen etwas Schiffbruch gelitten, war im Umsehen wiederhergestellt.

»Ja, da müssen’s erscht nach linksch gehe und dann gradaus und dann wieder das Gäßle nach linksch, aber das ischt weit.« Doktors Nesthäkchen, das zum erstenmal den unverblümten schwäbischen Dialekt hörte, strahlte vor Vergnügen. Es dankte und machte sich auf nach »Zontinen-Tal«.

»Erscht nach linksch«, wiederholte Annemarie übermütig, »dann gradausch und dann wieder nach linksch«; sie sprach noch mehr »sch« als der biedere Schwabe.

Der Polizist hatte recht. Es war ein weiter Weg. Sie bekam einen guten Teil der Stadt dabei zu sehen. Die für alles Schöne leicht Begeisterte war entzückt von der anmutigen, in Weinberge eingeschmiegten Lage Stuttgarts. Vornehme Villenstraßen, gartenumkränzt, zogen sich rings zu den Höhen.

So – nun stand sie endlich, ziemlich erhitzt, vor dem großen Prachtbau des Hotels »Zontinen-Tal«.

Himmel – wie elegant! Hier sollten Marlene und Ilse abgestiegen sein? Eigentlich kaum denkbar. Annemarie mußte lächeln, wenn sie vergleichend an den »Bunten Hahn« zu Würzburg dachte.

Unverfroren, wie das ihre Art war, betrat sie das mit lichtblauen Plüschteppichen belegte Vestibül und fragte den livrierten Majordomus nach den Freundinnen. Die Namen wollten sich im Fremdenbuch nicht zeigen. Aber ein schönes Zimmer war gerade soeben frei geworden. Die Dame hätte heute Glück. Ein Zimmer mit Bad wär’s.

Gewiß war das Zimmer sehr teuer. Und sicher hatten Marlene und Ilse für sie doch Unterkunst. Aber wo?

»Wenn das gnädige Fräulein noch kein Logis hat, wird es schwerlich ohne Vorherbestellung noch etwas finden«, meinte der Hausmeister. »Nur durch Zufall ist das eine Zimmer frei.«

»Was kostet es?« fragte Annemarie mit kühnem Entschluß.

»Fünfzehn Mark.«

»Wieviel?« Annemarie traute ihren Ohren nicht.

»Das ist nit zuviel für ein schönes Balkonzimmer mit Bad«, meinte der Geschäftsführer.

Fünfzehn Mark – das bedeutete einen großen Riß in ihre Kasse. Trotzdem nahm Annemarie das Zimmer. Sie mußte doch ein Nachtquartier haben, und von dem Umherirren hatte sie nun genug.

Ja, der hochelegant möblierte Raum sah freilich anders aus als das schmutzige Hofzimmer im »Bunten Hahn«. Statt der rotkarierten Bettüberzüge eine hellblauseidene Daunendecke – wie eine Prinzessin. Wenn Vater und Mutti wüßten, daß ihr Nesthäkchen in dem elegantesten Hotel gelandet war!

Zuerst stieg Annemarie in die Fluten der weißen Kachelwanne hinab, die im Nebenraum Erfrischung bot. Nicht nur der Erfrischung und Reinlichkeit wegen, sondern hauptsächlich, um die fünfzehn Mark abzuarbeiten.

Nun war es Zeit zum Mittagessen. Aber in dem vornehmen Hotel war es gewiß unerschwingbar. Wohin?

Sollte sie …, nein, Herr Hartenstein hatte sie doch davor gewarnt. Ach was, billig war der »Elefant« bestimmt. Und sie mußte doch die fünfzehn Mark Nachtquartier wieder auf andere Weise wettmachen. Daß ein gut Teil Evasneugier auch dabei war, das Lokal, das Herr Hartenstein für junge Damen ungeeignet fand, kennenzulernen, mochte Annemarie sich nicht eingestehen.

Nach vielem Hin und Her hatte sie den »Elefanten« glücklich ausfindig gemacht. Es war recht voll in dem tabakverqualmten Raum. Vorwiegend Gäste der unteren Schichten. Arbeiter in blauen Blusen, Fuhrleute, Marktweiber. Lärmen und Lachen, Bierdunst und Pfeifenqualm. Keck nahm Doktors Nesthäkchen an einem der ungedeckten Tische Platz und bestellte wie einer ihrer nicht sehr salonfähigen Nachbarn »Erbswurscht mit Salat«. Die Kellnerin brachte gleich dazu einen großen Steinkrug mit Bier. Annemarie ließ es sich schmecken. Sie nahm weiter keinen Anstoß daran, daß ihre Tischgenossen zum Teil kragenlos waren und keine gepflegten Nägel hatten; und daß eine der Marktfrauen ihre blaugedruckte Schürze als Serviette und Taschentuch zugleich benutzte.

Nur die vielen erstaunten Blicke, die sie selbst streiften – denn oft mochte es wohl nicht vorkommen, daß eine gut angezogene junge Dame hier speiste, noch dazu eine, die im Hotel Continental wohnte –, waren ihr etwas lästig.

»So – die größte Sehenswürdigkeit von Stuttgart, den ›Elefant‹, hätten wir kennengelernt, und wundervoll billig war’s obendrein!« Höchst befriedigt trat Doktors Nesthäkchen wieder auf die Straße.

Die Hoffnung, Marlene und Ilse irgendwo in dem Gewühl der Hauptstraße austauchen zu sehen, erfüllte sich nicht. Nun, schlimmstenfalls traf man sich in Tübingen wieder. Vielleicht auch schon im Zuge dorthin. Was mit dem Nachmittag anzufangen sei, machte Annemarie kein Kopfzerbrechen. Von Mitreifenden hatte sie gehört, daß die Aussicht auf Stuttgart von einer der Höhen, zu denen eine Zahnradbahn hinaufführte, am schönsten sei. Gesellschaft hätte die gesprächige Annemarie allerdings ganz gern bei diesem Ausflug gehabt. Wiederum aber war es ganz amüsant, so ganz frei und ungebunden auf eigene Faust loszumarschieren.

Annemarie war noch nie mit einer Bergbahn gefahren. Erstaunt betrachtete sie die kastenartigen Abteile, die in schräger Linie aufwärts stiegen, und nahm in einem derselben Platz. Die Bahn war ziemlich voll, denn ein Teil der Stuttgarter Bevölkerung hatte seine Villen oben auf den Höhen. Eine Dame, die hinter ihr saß, belästigte sie mit ihrem großen Hut.

Doktors Nesthäkchen stieß ärgerlich mit dem Rücken dagegen. Es nützte nichts. Solche Rücksichtslosigkeit – mochte sie doch ihren Hut abnehmen, wenn er so riesengroß war wie ein Wagenrad.

»Au!« machte Annemarie empört.

»Entschuldigen Sie bitte.« Der schüchterne, bescheidene Ton dieser Stimme ließ Annemarie jäh den Kopf wenden. Hellblonde Haare schauten unter dem großen Hut hervor und »Ilse!« – jubelnd umfing Nesthäkchen, unbekümmert um die übrigen Insassen, die »Rücksichtslose«.

»Haben wir dich endlich wieder – Gott sei Dank!« Das war ein Hinüber und Herüber von einem Kastenabteil zum andern, als ob sich Menschen, die jahrelang auf verschiedenen Erdteilen gelebt haben, unvermutet wieder treffen.

»Jetzt wirst du aber fest an die Leine genommen, daß du nicht wieder entlaufen kannst, Annemarie. Wir waren sehr in Sorge um dich.«

»Ja, Marlene hat sogar schon heiße Tränen um dich vergossen.«

»Ich bin eben kunstbegeisterter als ihr und wollte mir die berühmte Barockstadt Würzburg ansehen. Als Zugabe habe ich noch eine nette Bekanntschaft gemacht, durch die wir uns vielleicht auch in unserer neuen Heimat leichter einbürgern werden.«

»Junges Mädchen?«

»Nee – junger Herr.«

»Wa–as? Man braucht doch bloß den Rücken zu wenden, sobald unser Nesthäkchen allein ist, macht es Unfug«, neckte Ilse.

»Du, ich habe die Verantwortung für dich übernommen«, meinte Marlene halb ernst, halb scherzhaft.

»Dann wundere ich mich, daß du bei deiner großen Sorge um mich nicht heute morgen am Bahnhof warst, um mich in Empfang zu nehmen.«

»Ilse hielt es für ausgeschlossen, daß du Langschläferin den ersten Zug vor Tau und Tag benutzen könntest. Wir glaubten, du kämst erst mit dem Mittagszuge. Aber als du dich da auch noch nicht einfandest, machten wir uns ernsthaft Gedanken. Ich wollte schon an deine Eltern telegraphieren.«

»Na, das hätte noch gefehlt!«

»Warum bist du denn aber heute morgen nicht gleich ins Hotel Monopol gekommen, Annemarie?« forschte Ilse.

»Weil ich den Namen verschwitzt hatte, du Schlaukopf. Wie ein verlorenes Schaf bin ich auf der Suche nach euch von Hotel zu Hotel geirrt. Ich wollte schon einen Steckbrief hinter euch her erlassen.«

»Und wo bist du nun abgestiegen?«

»Pikfein! – Hotel Zontinen-Tal mit hellblauer Seidensteppdecke und Kachelbad.«

»Annemarie, das muß doch ein Heidengeld kosten.« Ilse machte erschreckte Augen.

»Bewahre – bloß fünfzehn Mark die Nacht.«

»Aber Annemie, bist du denn ganz und gar übergeschnappt – – –.«

»Du hast ja Größenwahnsinn – ich werde dir deine Kasse abnehmen.« Auch Marlene war entsetzt.

»Dafür habe ich in der vergangenen Nacht auf einem Holzstuhl kampiert«, lachte die ausgelassene Annemarie.

»Heute siedelst du noch zu uns über. Das dritte Bett in unserm Zimmer wartet auf dich. Der Herr Zontinen-Tal wird sein Zimmer noch zehnmal los. Du darfst nicht eine Sekunde mehr ohne Aufsicht bleiben.«

»Ich werde es mir noch überlegen, ob ich eure Schnarchgesellschaft einer hellblauen Seidendecke vorziehe.«

Unter solchen übermütigen Neckereien, an denen auch die Mitfahrenden unfreiwillig lächelnden Anteil nahmen, war die Höhe erreicht.

Marlene hängte sich rechts, Ilse links in den Arm der glücklich Wiedergefundenen. Diesmal ließ sich Doktors Nesthäkchen das Unterfassen gefallen.

»Frei dürfen wir dich nicht mehr herumlaufen lassen, sonst brennst du uns am Ende wieder durch.«

»Warum nicht, wenn mein ›Zavalier‹ aus Würzburg hier wäre –«, so hatte das kleine Nesthäkchen als Abcschütze einst zum Gaudium der Brüder das Wort Kavalier gelesen, und diese Bezeichnung war in der Braunschen Familie beibehalten worden.

»Ach, du schwindelst ja – – –.«

»Du willst uns bloß neugierig machen – wie sah er denn aus?«

»Du brauchst gar nicht erst neugierig gemacht zu werden. Du bist es schon, Ilse«, lachte Annemarie. »Also braune Haare, glaub’ ich, hatte er, Augenfarbe weiß ich nicht, denn es war schon dunkel. Und Stuttgarter Dialekt sprach er ganz reizend – – –«

»Schwindel!« sagten die beiden Cousinen wie aus einem Munde.

»Na, wenn ich seine Schwester, die in Tübingen studiert, aufsuche, werdet ihr mir wohl glauben«, beteuerte Annemarie.

Die beiden wußten nicht, war es Ernst oder war es Scherz. Annemarie war sowohl eine lustige Flunkerei wie ein übermütiger Streich zuzutrauen. Jedenfalls erhöhte dies noch die fidele Stimmung der drei, die im rosigen Abendlicht zwischen junggrünen Rebstöcken singend dem talwärts gelegenen Stuttgart zumarschierten.

Es war nicht so einfach, Annemarie von ihrer hellblauen Steppdecke und ihrem Kachelbad loszulösen. Der vornehme Herr Geschäftsführer des Hotels Zontinen-Tal beanspruchte durchaus den vollen Preis für das Zimmer. Schließlich einigte man sich auf die Hälfte. Fünf Minuten später war das Zimmer bereits wieder besetzt.

Doktors Nesthäkchen aber schlief auch ohne die seidene Steppdecke den Schlaf des Gerechten und war am nächsten Morgen kaum ins Leben zurückzurufen.

Etwas später entführte das gen Tübingen gehende »Zügle« die drei. Von nun an fuhr man nur noch standesgemäß vierter Klasse.

Das erste, was die zukünftigen Studentinnen von ihrer Universitätsstadt zu sehen bekamen, war eine Schafherde. Auf der Wiese gleich hinter dem Bahnhof weidete sie und empfing die Ankömmlinge mit wehmütigem »Mäh – mäh«.

»Der Willkomm ist sehr verheißungsvoll!?« lachte Annemarie. »Hoffentlich halten sie uns nicht für Kollegen.«

»Der Blaustrumpf, den der Schäfer in der Hand hat, ist sicher eine zarte Aufmerksamkeit für uns. Übrigens ein famoses Bild! Wie der strickende Wotan sieht der Alte da mit seinem Schlapphut und seinem Spitz aus!«

»Ich kenne Wotan weder mit Strickzeug noch mit Spitz«, lachte Ilse ihre Intima aus. »Aber in Urzeiten glaubt man sich wirklich hier zurückversetzt. In meinem Leben habe ich kein Schaf gesehen.«

»Sehr schmeichelhaft«, meinte Marlene, während die unverbesserliche Annemarie trocken hinwarf: »Du pflegst doch oft genug in den Spiegel zu sehen, Ilse.«

Dieses Kompliment trug ihr natürlich einen freundschaftlichen Knuff ein. Wie übermütige Schulgören, nicht wie erwachsene junge Studentinnen, hielten die drei Freundinnen ihren Einzug in Tübingen.

»Zuerst nehmen wir uns ein Hotelzimmer und suchen uns dann in Ruhe eine passende Wohnung«, schlug der Reisemarschall Marlene vor.

»Bude heißt es«, verbesserte Doktors Nesthäkchen, das von den Brüdern her mit studentischer Redeweise vertraut war.

Nachdem man den Reisestaub abgeschüttelt, ging es auf die Wohnungssuche.

Dies war durchaus nicht so einfach.

Bald war Annemarie nicht von der Neckarbrücke fortzukriegen, da sie durchaus sofort eine Bootfahrt machen wollte und bereits mit einem Kahnvermieter Unterhandlungen anknüpfte. Bald blieb Ilse, das Baumeisterskind, zurück, um das entzückende alte Stadtbild, das sich terrassenartig am Neckarufer aufbaute, gebührend zu bewundern.

»Seht doch bloß, wie die mittelalterlichen Giebelhäuser den Berg heraufklettern, als ob sie sich überpurzeln, und hoch oben als Bekrönung das alte Schloß Hohentübingen – famos!«

»Ilse, du hast noch ein ganzes Jahr Zeit, die Schönheit Tübingens zu bewundern«, mahnte die zielbewußte Cousine. »Aber zum Wohnungsuchen haben wir nicht so lange Zeit.«

»Pedant!« schalt Annemarie. »Da haben wir uns ja recht nett mit dir verheiratet. Wir wenden uns einfach an die Schwester meines Würzburger Freundes. Die wird uns sicher gern in der schwierigen Wohnungsangelegenheit behilflich sein.«

»Einverstanden. Wo wohnt sie denn?«

Ja, wo wohnte sie?

Doktors Nesthäkchen machte ein ratloses Gesicht. »Wie hieß doch bloß die Straße? Ich habe sie total vergessen. Aber es wird ja hier irgend so was wie ein Adreßbuch geben. Der Name war bestimmt Hartenstein.«

Aber trotz allem Nachforschen schien der Name Hartenstein in Tübingen unbekannt.

»Hans hat mir gesagt, in der Universität ist stets ein Wohnungsverzeichnis für Studentenzimmer einzusehen«, schlug Annemarie vor, um die Scharte wieder auszuwetzen. »Vielleicht finde ich dort auch die Adresse von Fräulein Hartenstein.«

»Das Wohnungsverzeichnis ist zuverlässiger als das unauffindbare Fräulein Hartenstein. Auf – zur Universität!« kommandierte Marlene.

Durch enge, ziemlich steil aufwärts steigende Straßen und Gäßchen, dem ältesten Teil der Stadt, ging es in den neueren Stadtteil, in dem die Universität und die Kliniken lagen.

Mit ehrfurchtsvollem Schauer betrat Marlene das geistige Heiligtum, die Universität, in dem sie von morgen an zugelassen werden sollte. Ilse schaute sich halb beklommen, halb neugierig in dem großen Vestibül um. Doktors Nesthäkchen aber wußte nichts von ehrfurchtsvollen Schauern oder gar von Beklommenheit. Mit strahlenden Augen musterte es unternehmungslustig die Stätte künftiger Arbeit. Keck redete Annemarie mit dem Pedell und hätte den ein und aus gehenden Studenten und Studentinnen, welche die Fremden anstarrten, am liebsten gleich als gute Freunde zugewinkt. Es waren ja alle Kollegen und Kolleginnen.

Die drei Freundinnen ließen sich sogleich als Musentöchter einschreiben. Annemarie für Medizin, Marlene für Naturwissenschaften und Ilse für neue Sprachen. Für Ilse Hermann bedeutete es einen heroischen Entschluß, ein anderes Fach zum Studium zu erwählen als ihre Intima. Aber da sie für Naturwissenschaften wenig Interesse hatte und für Sprachen begabt war, sah sie selbst es ein, daß es richtiger für sie sei, ihren Oberlehrer für Sprachen und nicht für Naturwissenschaften zu machen wie Marlene.

Einen langen Zettel mit Adressen freier Zimmer erhielten sie im Wohnungsnachweis der Universität. Aber ehe man sich auf die Suche machte, mußte erst der Magen befriedigt werden. Es war Mittagszeit.

»Wohin?« Unschlüssig blieben die drei funkelnagelneuen Studentinnen in den Anlagen, welche die Neustadt von der Altstadt trennte, stehen.

»Wir hätten den Pedell fragen sollen, wo man gut und preiswert speist. Wollen wir noch mal zurückgehen?« schlug Marlene vor.

»Ach, der schickt uns dann in irgendeine Kneipe vierten Ranges.« Annemarie dachte dabei an den »Elefant« zu Stuttgart. »Wir gehen einfach hinter Studenten und Studentinnen hinterdrein, die gehen doch alle jetzt zu Mittag. Da geht ja ein ganzer Trupp vor uns – auf, zur Verfolgung!« Übermütig folgten die Freundinnen vier lustig plaudernden jungen Mädeln und Burschen.

Der Weg war weit. Kreuz und quer ging es, bergauf, bergab. Ilse hatte trotz allen Hungers noch Zeit, das malerische alte Stadtbild zu betrachten und sich daran zu begeistern. Die beiden andern aber hatten mehr Sinn für die Prosa des Lebens.

»Annemarie, wir wollen lieber in irgendein beliebiges Lokal gehen. Die Studenten vor uns machen Einkäufe. Jetzt ist wieder einer in einem Zigarrengeschäft verschwunden. Einer läßt sich rasieren, es sind überhaupt nur noch zwei Mädel übrig.« Ganz bekümmert sah Marlene vor Abspannung und Hunger aus.

Aber Doktors Nesthäkchen war hartnäckig.

»Ach was, die beiden müssen auch essen. Da sind wir wenigstens sicher, daß wir in eine richtige Studentenkneipe kommen, wenn wir den beiden Studentinnen folgen.«

Wirklich, die zwei betraten jetzt ein altertümliches Haus. Die drei Freundinnen hinterdrein.

»Annemie, hier ist kein Restaurant.« Ilse schaute vergeblich in dem Halbdunkel des Hausflurs nach einem Schild aus.

»In kleinen Städten sind Lokale oft eine Treppe hoch.« Woher Annemarie diese Weisheit kam, wußte sie wohl selber nicht. Jedenfalls begann sie die dunkle halsbrecherische Stiege emporzuklimmen. Die andern seufzend hinterdrein.

Kein Schild, kein Plakat, nur eine weiße Klingel ohne Namen.

»Hier ist bestimmt nichts, Annemarie, ich gehe wieder hinunter.« Marlene wandte sich energisch.

»Die beiden Studentinnen sind hier verschwunden, folglich ist hier irgendein Privatmittagstisch. Da ißt man sicher noch besser als im Restaurant.« Keck zog Annemarie bereits die Klingel.

Eine der beiden Studentinnen, die den Freundinnen als Leithammel gedient hatten, öffnete.

»Sie wünschen?«

»Ach, wir würden hier gern Mittagbrot essen, können wir etwas bekommen?« fragte Annemarie als Sprecherin für alle drei.

»Bei uns?« Hellauf lachte die junge Dame. Ihr Lachen lockte ihre Gefährtin aus dem Zimmer herbei.

»Reserl, schau, die Damen wünschen bei uns zu speisen. Da kommen’s heut’ grad’ recht, gelt?« Beide lachten herzerfrischend, daß Marlene, die jetzt das Wort ergriff, sich kaum verständlich machen konnte.

»Verzeihung, meine Freundin glaubte, daß hier im Hause ein privater Mittagstisch wäre. Entschuldigen Sie bitte den Irrtum.« Es war Marlene ungemein peinlich, sich auslachen zu lassen.

Annemarie sah darin durchaus nichts Peinliches. Im Gegenteil, sie stimmte herzlich in das Lachen ein und steckte auch Ilse damit an.

»Dazu sind wir eine Stunde lang hinter Ihnen hergelaufen. Wir glaubten, da Sie auch Studentinnen sind, würden Sie ebenfalls wie wir in einem Lokal mittags speisen. Und da Sie hier schon eingebürgert sind, liefen wir immer hinter Ihnen her, in der Annahme, dann sicher was Gutes zu bekommen«, plauderte Annemarie unbefangen.

»O jegerl, und nun können wir Sie nit mal bitten, uns die Ehre zu geben, denn wir haben heut mittag, weil das Kolleg so spät lag, nur noch ein paar Quarkknödel von gestern. Wir kochen nämlich selbst«, ging das andere junge Mädchen lustig auf Annemaries Auseinandersetzungen ein.

»Aber ein Lokal, in dem man was zu essen bekommt, könnten Sie uns vielleicht empfehlen?« Marlene ging gleich auf das Ziel los.

»Aber freilich – freilich! Da war’ der ›Schwammerl‹, der ›Weinhansi‹ und der ›Rathauskeller‹. Aber wenn’s Studentinnen sind, da werden’s wohl nit soviel ausgeben wollen. Da gehen’s nur nach dem Vereinshaus. Da ist’s gut und billig. Gleich am Markt das Gäßle, zu dem die Stieg’ ‘nauf führt.«

»Vielen Dank!« Mit freundlichem Gruß und knurrendem Magen setzte sich das Kleeblatt wieder in Bewegung.

Wenn er Hunger hat, wird der sanftmütigste Mensch aufsässig. Und gar so sanft war Marlene Ulrich gar nicht.

»Das hast du fein gemacht«, sagte Marlene ärgerlich.

»Mach’s besser!« Annemarie war nun schon ganz gewiß kein Lamm.

»Wenigstens haben wir doch ein gutes Lokal in Erfahrung gebracht«, kam Ilse als Friedensengel dazwischen.

»Dazu mußten wir eine Stunde herumirren und uns noch außerdem lächerlich machen.«

Jetzt zog die hungrige Marlene sogar gegen die unschuldige Cousine los.

»Lächerlich machst du dich jetzt – und wenn ihr weiter miteinander rumboxen wollt, – viel Vergnügen! Ich ziehe es vor, in das Vereinshaus zu gehen.« Doktors Nesthäkchen machte energisch kehrt.

Die Cousinen hielten es auch für geratener, zu folgen. Eine jede ärgerlich auf die andere.

Aber als man im Vereinshaus, einem alten, höchst einfachen Lokal, vor einem guten Teller Suppe saß, hob sich die Stimmung. Und auch die Freundschaftsgefühle erwärmten sich allmählich wieder.

Wirklich, sie hatten es gut getroffen. Trotz der fehlenden Tischtücher und der einfachen Blechbestecke war das Essen vorzüglich und selbst für den jugendlichen Hunger der drei ausreichend. Annemarie wurde zwar lebhaft an den »Elefant« erinnert, denn nicht nur Studenten, männliche und weibliche, speisten hier, sondern auch Arbeiter und schlichte Bürger. Dafür war es aber so preiswert, daß Annemarie meinte: »Ich glaube, wir kriegen hier noch Geld zu.« Sie ließ sich ein Glas Bier geben, trotzdem sie Bier gar nicht gern mochte, nur um die Würde des Studententisches zu wahren. Da tranken sie nun umschichtig auf eine fröhliche Studienzeit.

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)

Подняться наверх