Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 108
11. Kapitel
Auf dem Ulmer Münster
ОглавлениеGewitterregen hält nicht lange an, bald scheint die Sonne wieder. Die durch die ungemütliche Feuchtigkeit und den versäumten Zug etwas niedergedrückte Stimmung des Schwäbischen Wanderbundes war noch von kürzerer Dauer. Als Annemarie entsetzt feststellte, daß ein Teil ihres kostbaren Mehls vom Regen fortgeschwemmt worden sei – wie ein weißer Bach floß es von ihrem Rucksack den geblümten Dirndlrock hinab –, da war die heitere Laune wieder hergestellt.
»Das reine Schlaraffenland, Neschthäkche. Die Mehlsupp’ läuft dir schon den Buckel lang.«
Annemarie machte gute Miene zum bösen Spiel und lachte mit den andern um die Wette.
»Verhungern hätscht wenigschtens nit könne in der Nebelhöhle, Neschthäkche«, zog die Viehmuse sie auf, »hascht ja zehn Pfund Mehl im Säckle g’habt.«
Wenn sie doch bloß von der schrecklichen Höhle ruhig sein wollten! Nun hatte Annemarie sie glücklich zu vergessen gesucht – und da wälzte sich die Bergeslast ihr wieder auf die Brust. Um Nesthäkchens heitere Unbefangenheit war’s geschehen.
»Jetzt komme mer nach Preuße, in euer Heimatland, jetzt sein mer auf preußischem Boden«, verkündete Neumann, nachdem man das Städtchen Hechingen im Rücken hatte.
»Das brauchscht mer nit erscht zu sage, das merkscht schon an den Warnungstafele, die allenthalbe ang’bracht sind«, spöttelte der zweite Schwabe.
»Wenigstens wird’s Zügle bei uns in Preußen pünktlicher abgehen als in Schwaben«, warf sich Nesthäkchen patriotisch in die Brust.
»War’s geschtern noch nit früh gnua?« So – da hatte sie ihr Fett, weil man durch ihre Versäumnis in der Nebelhöhle den Zug verpaßt hatte.
Doktors Nesthäkchen sollte es auch noch anderweitig zum Bewußtsein gebracht werden, daß sie wieder in Preußen war. Als man von der Burg Hohenzollern, die mit ihren kühnragenden Türmen und Zinnen, den sechsfachen Mauern und eisernen Zugbrücken so stolz ins Schwabenland hinabschaut, als wüßte sie nichts von dem jähen Sturz ihres Geschlechtes, zum Bahnhof zurückkehrte, stand dort ein preußischer Gendarm mit respekteinflößendem Schnauzbart.
»Haben’s Versteuerbares? Bitt’ schön, die Rucksäck’ zur Kontroll’!« verlangte er.
»Ja, was soll denn das heiße?« regte sich Krabbe auf. »In unserm Säckle, da ischt nix drin, als was mer für unsere Wanderfahrt halt brauche.«
»Zeigen’s!« Der Mann des Gesetzes bestand darauf.
Ein Rucksack nach dem andern passierte die Zollrevision. Nichts Böses ahnend, öffnete auch Annemarie ihr noch immer umfangreiches Bündel.
»Ja, was haben’s denn da?« verwunderte sich der Schnauzbart. »Das ischt doch Mehl.«
»Freilich«, bestätigte Annemarie stolz, »wunderschönes weißes.«
»Das dürfe’s nit ausführe, das muß i beschlagnahme!« Mit der ganzen Würde seines Schnauzbartes fuhr er die erschreckte Annemarie an.
»Ja, erlauben’s g’fälligst«, kam Rudolf jetzt Annemarie energisch zu Hilfe. »Das Mehl hat das Fräulein in Tübingen, also in Württemberg gekauft, und nimmt’s auch wieder mit hinein ins Württembergische. Was hat denn die preußische Zollrevision damit zu tun?«
»‘sch kann auch hier in Preuße g’kauft sein und nach dem Württemberg’sche auschg’führt werde solle«, behauptete der Gendarm.
»Das ist aber nicht der Fall, lieber Mann. Weiß der Teufel, auf diesem kleinen preußischen Zipfelchen, das hier ins Schwabenland hineinschneidet, hat man mehr Scherereien als auf der ganzen Reise durch Württemberg. Das sage ich Ihnen, ein preußischer Referendar.« Hans Braun war empört.
»Ischt ja alles ganz schön und guet, lieber Herr, aber das Mehl musch i halt konsischiere.«
Da packte Nesthäkchen die Wut. – Was – ihr schönes weißes Mehl für die Mutter, das sie tagelang in Sonnenbrand und Regen wie ein Packesel bergauf, bergab geschleppt, wollte der Gendarm ihr nehmen? Sie riß die Tüte heraus – so – da flog das schneeweiße Mehl in einer lichten Staubwolke auf die graue Landstraße.
»Da können Sie sich’s zusammenfegen, wenn Sie sonst Lust dazu haben«, rief sie zornrot.
»Annemie – um’s Himmels willen –!« Die Freundinnen standen entsetzt.
»Das hättest du nicht tun sollen, du Hitzkopf«, meinte der preußische Referendar bedenklich.
»Rechtschaffe recht hat’s Neschthäkche! Da soll einem die Gall’ halt nit überlaufe«, unterstützte sie die Viehmuse.
Rudolf Hartenstein lachte von Herzen. »Diesen Schwabenstreich kriegen’s halt zu Ihrer Hochzeit aufg’tischt, Fräulein Annemarie.« Er blinzelte ihr übermütig zu.
»Ich heirate überhaupt nicht!« Mit derselben Wut wurde es herausgeschleudert wie das Mehl.
»Nimmer? Das wär’ aber schad’! Ich denk’, Sie werden sich’s halt noch überlegen.« Rudolf nahm den Entschluß nicht ernst.
Vorläufig überlegte der Mann des Gesetzes, und zwar so angestrengt, daß sein Schnauzbart erzitterte. Was für eine Strafe sollte er über die Verbrecherin verhängen?
»Das koscht Sie halt – – –«, begann er.
Neumann hatte bereits zwei Besänftigungszigarren aus der Tasche hervorgezogen.
»Aber gehen’s her, um so a bißle Mehl, das ischt doch gar nit erscht der Red’ wert.«
»Freili, das ischt’s nit«, gab der Schnauzbart zu. Er nahm dankend die Zigarren. »Also i erklär’ das Mehl halt für konfischiert – mehr kann i doch nit tun, gelt?«
Selbst der preußische Referendar stimmte ihm bei, daß er seine Beamtenpflicht voll und ganz erfüllt habe.
»Ein andermal lasse sich’s nit wieder erwische!« rief der Gendarm der den Zug besteigenden Annemarie noch wohlwollend nach.
»So – Neschthäkche, nun bin i begierig, was d’ halt jetzt für a Schwabestreich verübe wirscht.« Die Viehmuse notierte Nesthäkchens neuesten Schwabenstreich gewissenhaft in seinem Büchlein zu den alten.
»Jetzt sind wir ja bald in Ulm, da kommt das Kleine wieder unter elterliche Zucht. Das ist dringend notwendig, sonst verwahrlost es uns ganz«, neckte Hans.
Bis Ulm aber war noch reichlich Zeit, daß Nesthäkchen noch einmal mit dem Arm des Gesetzes nähere Bekanntschaft machen konnte.
Man hatte einen tüchtigen Marsch von dem Städtchen Sigmaringen ins obere Donautal hinter sich. Heiß brannte die Sonne auf die weiße Landstraße. Die Obstbäume, welche die Chaussee besäumten, spendeten nur geringen Schatten. Die Zunge klebte den Wanderern im Halse, besonders den stets durstigen Studenten. Kein Gasthaus weit und breit.
»Steigen wir doch zur blauen Donau hinunter, die hat genug Wasser für unsern Durst«, schlug Ilse mit trockenen Lippen vor.
»Wasser ischt nit guet, da kann man halt im Sommer leicht die Ruhr kriege«, widersprach die Viehmuse. »Bier her – Bier her – oder i fall um – juchhe –,« grölte er in die Sonnenlandschaft hinaus. Der Chor fiel natürlich ein, aber es klang ziemlich matt.
»Eine Pflaume!« Annemarie bückte sich nach der bläulichen Frucht und rieb den Straßenstaub davon ab. »Ach, die schmeckt gut – die erfrischt!«
»Selber essen macht fett«, meinte Ilse neidvoll.
»Hier ist noch eine, Ilse – da, eine für dich, Marlene – Fräulein Ola, die nächste kriegen Sie.«
»Ja, und wo bleib’ denn ich?« neckte Rudolf.
»Ihr Mannsleut könnt in den Baum klettern und euch selbst welche pflücken. Was der Wind abgeschlagen hat, ist für uns.«
»So – fremde Pflaumenbäume plündern? Weißt du auch, daß dies Diebstahl ist, Annemarie?« verwies sie der preußische Referendar.
»Ist mir ganz wurscht.«
»Wurscht – danach kriegt man halt noch mehr Durscht«, lachte die Viehmuse sie aus.
»Dann sollen die Leute hier gefälligst ein Wirtshaus herbauen. Sonst ist man ja dazu gezwungen, bei einem Wirte wundermild einzukehren. Und wenn ihr kein Schneid dazu habt, hinaufzuklettern und uns Pflaumen zu pflücken, dann pfusche ich einfach dem Wind ins Handwerk.« Annemarie begann den Pflaumenbaum mit beiden Armen zu schütteln. Ein blauer Regen prasselte hernieder.
»Hurra – Neschthäkche lascht halt Zwetschge regne!« Lachend erfrischten sich die Durstigen an dem Segen, der von oben kam.
»Nit mehr, Fräulein Annemarie«, versuchte auch Rudolf Einhalt zu tun, als Annemarie keck Miene machte, ihre Muskelkraft am nächsten Pflaumenbaum zu probieren. »Die Zwetschgenbäume sind halt verpachtet, die sind nit Allgemeingut.«
»Ach was, die läßt unser Herrgott hier für jeden ermatteten Wanderer wachsen. Der fragt nicht danach, wer die Pflaumen pflückt – – –«
»Aber der Pächter um so mehr!« Wie aus der Erde gewachsen stand plötzlich ein zorngeröteter Mann, eine Sense in der Hand, vor ihnen. »So, jetzt kommen’s halt mit zum Herrn Ortsvorstand, meine Zwetschge, die solle’s mir bezahle.«
»Das wollen wir halt gern, lieber Mann«, begütigte ihn Rudolf, der sah, daß Annemarie, trotz all ihrer Unverfrorenheit, erschreckte Augen machte. »Drei Pfund, mehr sind’s gewiß nit gewesen. Was verlangen Sie dafür?«
»Halt dreißig Mark.«
»Was? Na, Sie sind billig!« lachte jetzt auch Hans. »Zehn Mark das Pfund Pflaumen, das geht ja noch über Schieberpreise.«
»Dreißig Mark Buß’ koscht’s, wenn eins von fremde Obstbäum’ halt’ was pflücke tut. Kommen’s nur mit zum Herrn Ortsvorstand, der wird’s Ihna scho’ weise.« Es half nichts. Nicht einmal Neumanns Zigarren verfingen hier. Sie mußten bei der Sonnenglut den fast zweistündigen Weg zum Dorf wieder zurückmarschieren, den sie soeben gekommen.
Die Damen stöhnten. Nesthäkchen wütete. Hans räsonierte auf die Schwester, die ihnen die ganze Suppe eingebrockt hatte. Rudolf besänftigte. Neumann machte betrübte Augen, und Viehmuse zog das Büchlein hervor: »So – das wär’ halt der fünfte Schwabestreich, Neschthäkche.«
Diesmal mußte Doktors Nesthäkchen daran glauben. Oder vielmehr der Bruder Hans. Denn die Barschaft der Schwester reichte nicht so weit. Trotz aller Beredsamkeit des preußischen Referendars, trotz Rudolfs und der beiden Schwaben Fürsprache wurde die Studentin Fräulein Annemarie Braun aus Tübingen dazu verurteilt, die Buße von dreißig Mark zu zahlen.
Das waren teure Pflaumen. Sie lagen Nesthäkchen so schwer im Magen, daß sie fürs erste keine Pflaumen wieder essen mochte.
Doch nicht lange, so war der Ärger verflogen, und nur die Neckereien und Witze, mit denen man Annemarie reichlich bedachte, erinnerten noch an das kleine Mißgeschick.
In froher Laune marschierte die fidele Gesellschaft an der sprudelnden blauen Donau dahin. Doktors Nesthäkchen mit der Laute stets voran. Aber Annemarie, sonst von unverwüstlichem Frohsinn, war nicht gleichmäßig in ihren Stimmungen. Bald die ausgelassenste von allen, bald ungewöhnlich nachdenklich und in sich gekehrt. Besonders in ihrem Verhalten Rudolf Hartenstein gegenüber kam dies zum Ausdruck.
»Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt.
Glücklich allein ischt die Seele, die liebt«.
deklamierte Neumann elegisch. Er ahnte nicht, wie sehr er bei Annemarie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Nach Möglichkeit vermied Annemarie ein Alleinsein mit Rudolf. Der tat, als merke er es gar nicht, daß sie ihm geflissentlich aus dem Wege ging. Wenn er sie trotzdem mal allein erwischte, duzte er sie mit liebevoller Selbstverständlichkeit.
»Ich bin kein ›Du‹, ich bin ›Sie‹ für Sie«, hatte Annemarie ihm empört das erstemal geantwortet.
»Ja, was, bin denn ich schlechter als die Viehmus’ und das Karpfenaug’? Darfst halt auch zu mir ›du‹ sagen und ›Rudi‹. Ich mein’, wir trinken ganz offiziell Brüderschaft, gelt, Herzle?«
»Niemals!« Nein, nie würde sie es fertig bringen, das harmlos kameradschaftliche »Du«, das ihr den jungen Studenten gegenüber so leicht über die Lippen gegangen, bei Rudolf zu gebrauchen.
»Nimmer? Schau, Herzle, wenn ich dir alles glaub’, das halt nit«, lachte sie Rudi belustigt aus.
»›Herzle‹ verbitt ich mir. Ich mag diese Vertraulichkeit nicht«, bullerte Nesthäkchen los.
»So–o?« sagte Rudolf und nichts weiter.
An diesem Tage war die lebhafte Annemarie ganz besonders still. Sie mußte es ihm sagen, daß sie niemals seine Frau werden konnte. Daß sie Vaters Assistentin werden, und er seiner Schwester das ersehnte Heim schaffen müsse. Warum zögerte sie denn? Seit Tagen wollte sie doch schon offen mit Rudolf sprechen. Und stets verschob sie es wieder.
Weil’s gar so weh tat da drin in der Brust, darum hatte sie es bis jetzt immer wieder hinausgeschoben. Und weil sie wußte, daß sie ihm ganz genau so weh damit tun würde. Aber feige war Doktors Nesthäkchen noch nie gewesen. Es mußte sein – also bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit!
Man legte das letzte Stück Weges nach Ulm mit der Bahn zurück.
Rudolf, der sich heute scheinbar um Annemarie gar nicht kümmerte, mußte immer wieder seinen Blick über den zwischen ihnen sitzenden Neumann hinweg zu der mit ernsten Blauaugen in die verschwimmende Abendlandschaft Hinausstarrenden wandern lassen.
Armes Dingle, wie es sich um nix und wieder nix quält, dachte er mitleidig. Seine Hand begann die Annemaries, die aus der Banklehne lag, sanft zu streicheln.
Ein Weilchen ließ die Hand es sich gefallen. Das Streicheln ging in einen zarten Druck über. Da entzog sie sich ihm. »Was wollen’s denn halt immer von meiner Hand, Doktor?« verwunderte sich Neumann, die Karpfenaugen zu dem aus der Glasglocke trübe herabblinzelnden Gasflämmchen elegisch emporschlagend. Rudolf Hartenstein biß sich auf die Lippen und wurde rot.
Annemarie aber platzte plötzlich mit hellem Lachen heraus. Sie hatte den Irrtum durchschaut. Ihr niedergehaltener Übermut brach sich impulsiv wieder Bahn. Die andern, welche von dem Intermezzo nichts gemerkt hatten, bestürmten sie mit neugierigen Fragen. Aber die Beteiligten verrieten nichts. Auch Neumann war nett genug, reinen Mund zu halten.
Ulm – Annemarie konnte es kaum erwarten, bis der Zug hielt. Jetzt plötzlich, wo das Wiedersehen mit den Eltern näher und näher rückte, fühlte sie es erst, wie sehr sie sich, wenn auch unbewußt, nach Vater und Mutter gebangt hatte. Oder war das Neue, das seit der Nebelhöhle über sie gekommen und ihr die kindlichfrohe Unbefangenheit genommen hatte, schuld daran? Daß sie sich danach sehnte, sich wieder an Vaters Brust zu schmiegen, sich von Mutters Zärtlichkeit umsorgt zu fühlen, als sei dies der Hafen, in dem kein Sturm und keine Unruhe ihr etwas anhaben könne.
Doktor Brauns wurden erst für den nächsten Tag mit dem gegen vier Uhr von Stuttgart kommenden Zug erwartet. Der Vormittag war der Besichtigung der interessanten alten Donaustadt gewidmet. Die Donau bildet hier die Landesgrenze. Alt-Ulm diesseits des jetzt breit und majestätisch dahinfließenden Stromes ist württembergisch, Neu-Ulm am jenseitigen Ufer bayerisch.
»Hie gut Württemberg allezeit!« Der Wahlspruch des Herzogs Ulrich galt auch für den Schwäbischen Wanderbund. Die malerische alte Stadt fesselte sie mehr als die vornehm stolzen Neubauten am bayerischen Ufer. Ilse schwelgte wieder in Giebelzacken und Renaissanceerkern, in rieselnden Brünnle und krummwinkligen Gäßle. Das Überwältigendste aber blieb doch der Münster, dieses Denkmal vollendeter Hochgotik.
Sie standen und schauten und glaubten, in den Himmel hineinzufliegen. Selbst der Viehmuse ging die Sprache vor andächtigem Staunen aus. Und das wollte schon viel heißen.
Das Bauratstöchterlein machte die andern auf die künstlerische feine Durchbruchsskulptur des in die Wolken ragenden Turmes aufmerksam. Als es dann aber hieß, den Turm zu besteigen, wurde Ilse recht kleinlaut.
Marlene, die gute Cousine, wollte Ilse keinesfalls allein lassen. Es schien auch ihr ein etwas zu kühnes Wagnis, bis in den Himmel hineinzuklettern. »Wir hören lieber das Kirchenkonzert, das um zwölf Uhr im Münster stattfinden soll.«
»Das lockt mich halt auch mehr«, schloß sich Ola, die sehr musikalisch war, den beiden an.
»Also schön, die Damen bleiben unten.« Hans war einverstanden.
»Nee, durchaus nicht, ich bin auch eine Dame«, meldete sich Nesthäkchen. »Ich denk’ ja gar nicht dran, unten zu bleiben. Auf die Besteigung des Münsters habe ich mich am allermeisten gefreut. Und heute ist gerade ein herrlich klarer Tag.«
»Mir wär’s lieber, Annemie, du bliebst bei den andern Damen, ich habe jetzt reichlich genug von deinen Schwabenstreichen«, meinte Hans bedenklich. »Wenn du vom Münsterturm heruntersegelst, kannst du deine Knochen im Schnupftuch nach Hause tragen.«
»Ich verspreche dir feierlich, Hänschen, mir nicht das Genick zu brechen«, beteuerte Annemarie.
»Ich übernehm’ Bürgschaft«, assistierte Rudolf.
»Solle mer halt auch liaber drunte bleibe und ‘s Neschthäkche auffange, wenn’s ang’floge kommt?« erkundigte sich die Viehmuse, ehe man die Turmkarten löste, vorsorglich.
Ein freundschaftlicher Rippenstoß schloß ihm den spöttischen Mund.
Die Schwaben voran, Annemarie in der Mitte zwischen Hans und Rudolf – damit man ganz sicher ging, daß sie keine Dummheiten machte –, so setzten sich die Hochtouristen in Bewegung.
»Nimmer ‘nunterschauen, immer gerad’ aus!« riet Rudolf.
Es ging wunderschön. Die leichtfüßige Annemarie kletterte wie eine Gemse. Sie merkte es gar nicht, daß sie bereits dreihundert Stufen gestiegen waren. Weiter – immer weiter! Der Turm wurde enger. Die Wendeltreppe zog sich wie ein Korkenzieher in endlose Höhe. Durch die durchbrochenen Turmwände sah man rote Ziegeldächer, schwarze Schornsteine, Giebelspitzen tiefer und tiefer zur Erde zurückkriechen. Weiter, immer weiter, – war man denn noch nicht im Himmel?
Annemaries Schritt wurde langsamer. Sie hatte Herzklopfen. Die beiden Schwaben und Hans kletterten unentwegt weiter.
»Bist müd’, Herzle?« Mit liebevoller Sorge empfand es Rudolf, daß Annemarie unfrisch wurde. »Wollen wir nit umkehren?«
»Nein – nein – nur einen Augenblick verschnaufen und –« sie verstummte. Er hatte sie schon wieder geduzt. Schon wieder gebrauchte er den Kosenamen, der so lieb klang, und den sie sich doch nicht gefallen lassen durfte. Überhaupt, jetzt war es die beste Gelegenheit, ihm zu sagen, was doch nun mal gesagt werden mußte. Hier oben hörte sie kein Mensch. Wer weiß, wann sie ihn wieder mal allein sprechen konnte. Klar sollte es zwischen ihnen sein, noch bevor die Eltern kamen.
»Herr Doktor –«, begann sie energisch.
»Jawohl, Fräulein Braun«, gab er scherzhaft zurück.
»Ich möchte Sie bitten, die Begebenheit in der Nebelhöhle zu vergessen.« Sie fühlte, daß sie rot wurde.
»Ihr Wunsch ist mir Befehl – nur glaub’ ich halt, das wird nit gut möglich sein.« Er lächelte noch immer belustigt.
»Doch – es muß möglich sein!« Annemarie starrte unentwegt auf ein steinernes, lindwurmartiges Ungeheuer, das aus dem durchbrochenen Turmdach als Träger in die Lüfte hinausfletschte. »Unsere Wege müssen sich unbedingt trennen.«
Rudolf wurde ernst. Sie sah so blaß aus, ihre Stimme klang gezwungen, es war augenscheinlich, daß sie seelisch litt.
»Und warum, Annemarie?«
»Weil – mein Vater hat mir nur die Erlaubnis zum Studium gegeben, damit ich später mal seine Assistentin werde. Ich darf ihn nicht enttäuschen.«
»Aber mich darfst enttäuschen, gelt? Ich bin dir halt gar nix. Für eine Assistentin läßt sich Ersatz schaffen, für zerstörtes Lebensglück nimmer!« So erregt hatte sie Rudolf Hartenstein noch nicht gesehen.
»Ihre Schwester Ola sehnt sich nach dem Heim, das Sie schon als Kind versprochen haben, ihr zu schaffen«, erinnerte Annemarie leise.
»Da kenn’ ich die Ola besser. Nie würde sie meinem Glück im Wege stehen. Was der Bub dahergeredet, kann der Mann nit unter allen Umständen erfüllen.«
Sie schwiegen alle beide. O Gott, wie das steinerne Ungetüm, auf das sie starrte, sie anfletschte. Als ob es sie mit Haut und Haar verschlingen wollte.
»Wenn ich mich nun aus Verzweiflung hier vom Turm ‘nunterstürz’?« Er hatte seinen Humor wiedergefunden.
»Das werden Sie nicht tun.« Annemarie griff entsetzt nach seinem Jackenzipfel.
»Also schön«, hörte sie Rudolf wieder ganz ruhig sagen. »Dann sollen’s halt Ihren Willen haben. Ich werd’ die Nebelhöhle vergessen, bis – ja, bis Sie selbst mich halt wieder daran erinnern werden.« Es zuckte schon wieder lustig um seine Augen.
»Das wird nie geschehen – niemals!« unterbrach sie ihn mit aller Lebhaftigkeit.
»Warten wir’s halt ab. Und nun, gnäd’ges Fräulein, wenn Sie genug ausgeruht sind, denk’ ich, wir setzen unsere Montblancbesteigung halt fort.« Er schlug einen fremdverbindlichen Ton an.
Annemarie zögerte noch, als könne sie sich nicht von dem Anblick des steinernen Lindwurms trennen.
»›Gnädiges Fräulein‹ ist nicht gerade nötig«, belehrte sie ihn. »Wenn Sie ›Fräulein Annemarie‹ sagen, das genügt.«
»Ich dank’ Ihnen für dieses Zugeständnis.« Er machte eine steife Verbeugung.
»Herr Doktor – noch eins – bitte, seien Sie mir nicht böse«, bat sie mit rührend kindlichen Augen. »Ich leide doch gerade so darunter wie Sie!« Ganz leise kam das letzte hinterdrein.
»Dummes, liebes Mädle!« Sanft strich er ihr über das Blondhaar.
»Neschthäkche – liegscht schon unte?« Irgendwoher, aus den Wolken herab klang’s.
»Wir kommen«, gab Annemarie mit lauter Stimme zurück.
Sie setzten sich wieder in Bewegung.
»Jetzt steigen wir in den siebenten Himmel, Fräulein Annemarie.« Er konnte schon wieder scherzen! Also ging es ihm doch nicht allzu tief. Ach, Annemarie war es durchaus nicht nach Scherz zumute. Alle Qualen der Hölle machte sie bei dem letzten sich immer noch mehr verengenden Anstieg durch. War es die durch das Gespräch verursachte Erregung, war die dünner werdende Luft oder die schmale, stets im Kreise herumführende Treppe dran schuld – es wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie griff nach einem Halt. Rudolf hatte bereits stützend ihren Arm gefaßt.
»Jetzt gehen’s ‘nunter, ohne Widerred’«, verlangte er mit Bestimmtheit.
Nesthäkchens Trotz bäumte sich auf und gab ihr die verlorene Kraft zurück.
»Gleich sind wir oben.« Mit zusammengebissenen Zähnen und Aufbietung aller Energie zwang sie sich, die letzten Stufen zurückzulegen.
Mit lautem Hallo wurden sie droben auf der Aussichtsgalerie empfangen.
»Wir haben halt g’dacht, Neschthäkche, du wärscht wie der Schneider von Ulm durch d’ Luft ‘nuntergefloge als allerneueste Schwabestreich«, zog sie Krabbe auf.
»Hascht auch nit wieder was auschg’fresse?« Neumann betrachtete sie mißtrauisch.
»Na, sehkrank mit h geschrieben, Annemie? Du siehst aus wie weißer Käse. Es ist wohl doch nicht so einfach, als Erdenwurm zu lichten Höhen emporzusteigen?« neckte auch der Bruder.
»Es war Fräulein Annemarie in der Tat beim Aufstieg nit gut zumute, wir wollen sie halt in Ruh’ lassen«, wehrte Rudolf die Neckereien ab, während Annemarie mit blassen Lippen zu lächeln versuchte. »Hier oben wird ihr bald besser werden.«
»Das kommt davon, wenn Frauenzimmer alles mitmachen müssen«, knurrte Hans, warf aber doch besorgte Blicke auf die entfärbte Schwester.
Teilnahmlos bohrte Doktors Nesthäkchen mit den Blicken ein Loch in den Himmel, der noch ebenso weit entfernt schien wie von unten.
Sie wagte es nicht, hinab in die Tiefe zu schauen. Es war ihr ganz gleichgültig, ob die Berge, die man hier oben sah, die Alpen waren oder der Berliner Kreuzberg. Der einzige Gedanke, der sie beherrschte, war: »Wär’ ich doch bloß erst wieder unten!«
»Annemarie, willst du denn nicht einmal Umschau halten? Es ist ja ein überwältigendes Panorama«, redete Hans ihr zu.
»Dazu bischt halt auf den Ulmer Münschter g’stiege, um nix nit zu sehe? Wenn das kein Schwabestreich nit ist, dann weiß i nit«, lachte die Viehmuse sie aus.
Ja, der konnte lachen. Wäre sie doch nur unten bei den Freundinnen geblieben!
Hans schaute durchs Fernglas.
»Annemie«, rief er plötzlich lebhaft, »ich glaube, da unten am Münsterplatz gehen in höchsteigener Person unsere alten Herrschaften.«
»Wo–o?« Plötzlich kam wieder Leben in Doktors Nesthäkchen. Das Blut kehrte in ihr entfärbtes Gesicht zurück. »Wo, Hans?« Sie griff nach dem Fernglas. Mit einemmal konnte Annemie jetzt in die Tiefe sehen.
»Ja – tatsächlich – das sind sie – Mutti – Muz –.«
Annemarie schrie es hinab.
»Dreht sich’s Mutterle schon um, Neschthäkche?« neckte die Viehmuse. »Guete Lunge muscht halt habe, wenn’s vom Ulmer Münster bis auf den Platz ‘nunterschreie kannscht.«
Annemarie hörte gar nicht, was er sagte. »Kommt runter, schnell, schnell!«
»Immer mit de Ruhe!« dämpfte Hans die aufgeregte Schwester. »Erst wollen wir mal sehen, wohin Doktor Brauns ihre Schritte lenken werden.« Er beobachtete durchs Fernglas. »Aha – ins Münster-Café – schönchen, da erwischen wir sie.«
Man machte sich daran, die Himmelsleiter wieder hinabzuklimmen. Annemarie wußte nichts mehr von irgendeiner Schwindelanwandlung, nichts davon, daß sie sich vor dem Abstieg gefürchtet hatte. Die bevorstehende Wiedersehensfreude drängte jede andere Empfindung in den Hintergrund. Hans und Rudolf hatten sie nur immer zurückzuhalten, daß sie nicht in allzu beschleunigtem Tempo die Stufen in die Tiefe hinabsauste.
Endlich war man aus dem Wolkenreich wieder auf der Erde gelandet. Endlich konnte Annemarie ins Münster-Café hineinstürmen. Was fragte Doktors Nesthäkchen danach, daß es die Blicke aller Umsitzenden auf sich zog. Daß es entschieden ein etwas merkwürdiger Anblick ist, wenn eine junge Dame sich plötzlich in einem öffentlichen Lokal jubelnd an den Hals eines Herrn wirft. Daß man auch Damen im allgemeinen dort nicht mit dem Jubelruf »Muzi, meine geliebte Muzi!« und einem Dutzend Küsse zu begrüßen pflegt. Annemarie fühlte sich durchaus nicht mehr als junge Dame. Sie war wieder das kleine Nesthäkchen, das mit strahlendem Gesicht zwischen Vater und Mutter saß und sich den Apfelkuchen schmecken ließ.
Ach, nun war alles wieder gut – alles! Mutti hielt die Hand ihrer Lotte in der ihrigen, und Vater nannte sie scherzend schon heute seine »Assistentin«. Da konnte es doch gar nicht so schwer sein, auf ein anderes neues Glück zu verzichten. Besonders da Rudolf Hartenstein nach der Aussprache, vor der sie so gebangt, eine ungezwungene freundschaftliche Art ihr gegenüber zeigte und auch ihr dadurch ihre frühere Unbefangenheit zurückgab.
Ein gemeinsamer froher Abend an der blauen Donau beschloß die schwäbische Wanderfahrt. Doktors Nesthäkchen bildete wieder einmal den Mittelpunkt der Witze und Neckereien. Daß es den Ulmer Münster bestiegen hatte, um nichts weiter von dort oben zu sehen als die Eltern, gab als letzten Schwabenstreich endlosen Stoff zur Heiterkeit. Aber auch an anderm »Stoff« fehlte es nicht. Dr. Braun feierte das Zusammensein mit den Freunden seines Nesthäkchens durch eine unverwässerte Pfirsichbowle, welche die fidele Viehmuse noch fideler machte und Neumanns melancholische Karpfenaugen noch melancholischer.
Am nächsten Morgen trennte man sich nach allen Richtungen hin. Doktors Nesthäkchen zog mit den Eltern und dem Bruder in Gesellschaft des Hartensteinschen Geschwisterpaares sonnigen Ferientagen in dem alten Klosterstädtchen Blaubeuren entgegen.