Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 106
9. Kapitel
Lustige Schwabenstreiche
ОглавлениеDer Schwäbische Wanderbund war wieder mal auf der »Walze«. So nannten die Schwaben ihre Sonntagsausflüge. Diesmal galt es eine mehrtägige Wanderfahrt, die gleichzeitig Semesterschluß und Universitätsferien würdig einzuleiten hatte.
Ein wenig verändert hatte sich der Schwäbische Wanderbund. Egerling, Ziegenhals und Steinbock fehlten. Ersterer war nach gewissenhafter Absolvierung des letzten Kollegs und nach noch gewissenhafterer der Semesterschlußkneipe heim ins Dorf gezogen, um bei der Erntearbeit zu helfen. Ziegenhals und Steinbock hatten die Aufforderung, auf dem Bauernhof seiner Eltern die Ferien zu verleben und dafür bei der Ernte ebenfalls mit Hand anzulegen, gern angenommen. »Tummele dich nur fleißig, Ziegenhals, sonst kommt unsere ›kürzeste Frist‹ ebenso breit wie lang zurück«, hatte man die Gefährtin von allen Seiten gefoppt.
Auch die anderen waren nach Dorf Mutlangen vom Dorfschulzen freundlichst eingeladen worden, der ganze Schwäbische Wanderbund. Aber der hatte andere Pläne. Eine Wanderung ins Donautal hinab bis nach Ulm. Dort wollte Annemarie Braun die Eltern treffen, um dann gemeinsam mit ihnen einige Wochen in der unweit gelegenen Sommerfrische Blaubeuren zu verbringen. Marlene und Ilse dagegen sollten sich von Ulm aus in den Schwarzwald schlagen, wo Ulrichs Erholung suchten.
Für die drei fehlenden Mitglieder hatte der Schwäbische Wanderbund Ersatz bekommen. Da war zuerst Bruder Hans, der eines Tages mit Lodenjoppe und Rucksack seinen Einzug in Tübingens alte Giebelstraßen hielt, um selbst mal nachzuschauen, ob Nesthäkchen auch nicht zu viel Unfug dort trieb. Drei weißgekleidete Ehrenjungfrauen, blumengeschmückt, hatten sich zu seinem Empfang an der Bahn eingefunden.
Freudigst war er von der fidelen Gesellschaft begrüßt worden. Weniger freudig betrachtete man die Beteiligung von Dr. Rudolf Hartenstein und seiner Schwester, wenigstens von seiten Krabbes und Neumanns. Aber da diese richtig mutmaßten, daß die drei Grazien in Gesellschaft des Referendars und der Geschwister Hartenstein, falls sie beide dagegen stimmten, die Wanderung einfach ohne sie machen würden, ergaben sie sich darein.
So sah die unternehmungslustige Gesellschaft aus, die an einem besonders sonnengoldenen Augustmorgen aus Tübingens Mauern seelenvergnügt herauszog. Vronli und Kaschperle gaben ihnen das Geleit bis zum Bahnhof und sahen neidvoll dem pfeifenden Zügle nach, welches das Tanteli entführte.
»Wohin geht’s zuerst, Herr Reisemarschall?« erkundigte sich Hans Braun bei Hartenstein, mit dem er trotz der Kürze ihrer Bekanntschaft schon warm sympathisierte.
»Nach Reutlingen. Das alte Städtchen mit seinen grauen Stadtmauern und Wehrgängen, den mittelalterlichen Toren und Türmen, den Brünnle und Gäßle, bietet ebensoviel künstlerisches wie historisches Interesse. Gar so lieb ist’s halt. Ich stell’ es Rothenburg ob der Tauber noch voran. In Reutlingen ist noch alles ursprünglich und unberührt wie vor fünfhundert Jahren. Nix ist auf den Fremdenverkehr zugeschnitten. Es lohnt sich, dort einen Tag zu verbringen.«
Das schmale Gesicht Rudolfs belebte sich beim Sprechen merkwürdig. Jede Empfindung kam darin zum Ausdruck. Nesthäkchen saß ihm gegenüber und machte Studien.
»I kann halt nix Besonderes nit in Reutlinge finde«, meinte Krabbe, nur um zu widersprechen. Er fühlte sich durch Dr. Hartenstein, dem er ohnedies noch vom Rosenfest her nicht so recht grün war, in seinen Führerrechten gekränkt. Bisher war er es stets gewesen, der die Sonntagsfahrten zusammengestellt hatte.
»Reutlinge – Pfullinge – da ischt das Bier halt guet, da müsse Studentle bleibe«, gab Neumann mit elegischem Augenaufschlag seine Meinung kund.
»Ja, kneipe und schlafe, das ischt für dich, Faultier, halt das beschte«, zog ihn Annemarie, seine Sprache getreu nachahmend, auf.
Hans amüsierte sich gottvoll. Ein Tausendsassa das Nesthäkchen, wie es mit den beiden Schwaben umsprang. Freilich, zuerst war der große Bruder von dem ungezwungenen kameradschaftlichen Ton, der im Schwäbischen Wanderbund herrschte, als zurückhaltender Norddeutscher, doch ein wenig befremdet. Besonders, da die eigene Schwester darin tonangebend war. Aber nachdem er sich davon überführt, wie harmlos kindlich diese Studentenfreundschaft war, tat er selbst nur zu gern mit. Der steife Stadtmensch gehörte nicht hinein in diese herzerfrischende, natürliche Ursprünglichkeit.
Zu Rudolf Hartenstein war Nesthäkchens Ton ein ganz anderer. Auch mit ihm war sie gut Freund. Dem ersten Spaziergang über Berg und Tal war noch so manch einer gefolgt. Auch zwischen ihnen gab es oft Neckereien und scherzhafte Wortgefechte. Und trotzdem, es fiel dem Bruder auf, daß in Nesthäkchens Art, wenn es auch noch so keck auftrat, stets eine kaum merkbare Scheu mitklang. Für Fremde gar nicht bemerkbar, nur für ihn, den großen Bruder, der die Annemarie von klein auf in all ihren Regungen kannte. Das lag wohl daran, daß sie in Rudolf Hartenstein einen reiferen, fertigen Menschen respektierte.
Im Gänsemarsch ging es durch Reutlingen, durch das Tübinger und durch das Gartentor. Der wundervolle gotische Lindenbrunnen mit seiner kunstvollen Steinmetzarbeit erregte allgemeine Begeisterung. Ilse Hermann war wieder mal total »hops«, wie Annemarie ihren Kunstenthusiasmus benannte. Marlene schwelgte in historischen Erinnerungen – alles Blut, was die kleinen Erker und verschnörkelten Giebel jemals im Laufe der Jahrhunderte in den Gassen hatten fließen sehen, ward pflichtschuldigst aus der Vergessenheit hervorgekramt. Annemarie, die dritte der Grazien im Dirndlkleid, suchte nach dem malerischsten Stadtwinkel, weniger aus Kunstverständnis, als wegen des schwarzen Knipskastens in ihrer Hand, dem treuen Begleiter auf jeder Wanderfahrt. Überall machte sie Aufnahmen, um die Eltern an dem Schönen, das sie genoß, wenigstens im Bilde teilnehmen zu lassen und gleichzeitig für später eine sichtbare Erinnerung an das schwäbische Studienjahr zu haben.
Auch Rudolf Hartenstein trug seinen Kodak an der Seite umgeschnallt. Aber er war weniger »gemeingefährlich« als Nesthäkchen. Er konnte an einem schönen Plätzchen auch Freude haben, ohne gleich zu überlegen, wie es wohl am besten in den schwarzen Kasten hineinzuzaubern sei.
Auf Schritt und Tritt malerische Bilder vergangener Jahrhunderte. Sollte Annemarie die alte Stadtmauer mit dem Storchturm in ihren Kasten sperren, oder war der alte Wehrgang am Zeughaus mit seinen Schießscharten und Steintreppen nicht noch malerischer? Eine Abstimmung entschied über diese wichtige Frage. Die Mehrheit war für Stadtmauer und Storchturm.
Annemarie entledigte sich ihrer Bürde. Der Rucksack war umfangreich und schwer. Das lag nicht daran, daß sie zu viel Toilettengegenstände oder gar zu viel Mundvorrat mitgenommen hätte. Nein, weißes Mehl hatte sie in Tübingen erstanden, zwanzig Pfund. So zart und weiß, wie man’s in Berlin nicht bekam. Das mußte sie unbedingt der Mutter mitbringen. Hans hatte räsoniert und protestiert. Die Freundinnen hatten sie ausgelacht. Rudolf Hartenstein wollte ihr das schwere Gepäck abnehmen. Alles vergebens.
»Das Mehl schleppe ich selber, einen andern mag ich nicht zu meinem Packesel machen.« Dabei blieb’s.
»Ein Esel bist du wirklich, wenn du einen schweren Sack Mehl bei dieser Hitze tagelang auf dem Rücken schleppst und dir damit die Freude an dem Ausflug verdirbst«, stellte Hans ihr brüderlich vor.
Auch dieser Ehrentitel verfing nicht. Nesthäkchen schleppte sein Mehl auf dem Buckel durch das schöne Schwabenland.
Die Gesellschaft war postiert. Auf den Steinstufen, der rissigen Stadtmauer hockend, über die Mauer herüberlugend, Krabbe und Neumann sogar auf dem Treppengeländer reitend.
Annemarie in ihrem Eifer, den Apparat richtig einzustellen, merkte nicht, daß Rudolf Hartenstein auch sein Mordinstrument heimlich vorgezogen hatte. Knips – machte es – Nesthäkchen war im Kasten drin.
»Recht freundlich, meine Herrschaften, nur eine kleine Sekunde – es tut nicht weh«, rief Annemarie. »Ilse, du hast gewackelt; Neumann, mußt du denn gerade deine Karpfenaugen zum Himmel aufklappen, wenn’s losgeht? Ich kann nichts dafür, wenn’s nicht geworden ist. Sagt mal, Kinder, was macht ihr denn alle für spitzbübische Gesichter?«
»Halt Photographiergesichter«, wollte Rudolf sie beruhigen.
»Nee, nee, da stimmt was nicht!« Nesthäkchen war so leicht nicht dumm zu machen. »Ilse kichert, Viehmuse macht ein schadenfrohes Gesicht – Fräulein Ola, sagen Sie mir, was los ist. Habe ich irgend etwas Komisches an mir?« Sie fuhr sich übers Haar und sah prüfend an ihrem geblümten Dirndlkleid herab.
Jetzt brachen sie wirklich alle in lautes Gelächter aus.
»Ihr seid ja dämlich, alle miteinander«, entschied Nesthäkchen. Und von dieser schmeichelhaften Kritik nahm es keinen aus.
»Neschthäkche«, die Viehmuse pirschte sich auf dem Weg nach Pfullingen an Annemaries Seite. »Neschthäkche, was krieg i, wenn i dir halt verrate tu’, weshalb mer g’lacht habe?«
»Gar nix – interessiert mich absolut nicht mehr.« Das schlaue Nesthäkchen tat möglichst gleichgültig, trotzdem es darauf brannte, das Geheimnis zu ergründen.
»Also guet, weil du ‘sch bischt, da sag’ i dir ‘sch halt so: Der Hartenstein hat di in sein Käfig ‘neing’sperrt.« Er lachte spöttisch.
»Was hat er? Du bist wohl hops, Viehmuse?«
»In sein schwarzen Käfig da bischt drin, Neschthäkche! Während du uns knipscht hascht, bischt halt selber knipscht worde.« Er lachte triumphierend.
»Schwindel!« rief Annemarie empört.
»Auf B. E. – frag’ ihn doch halt selber.« So – das war ein kalter Wasserstrahl auf Nesthäkchens warme Freundschaftsgefühle für den Fremden.
Still und in sich gekehrt ging Nesthäkchen seiner Wege. Auf »B. E.« hatte die Viehmuse gesagt. Da war nichts dran zu deuteln und zu drehen. Wenn ein Student sein Wort auf »Bier – Ehre« gab, war jede Flunkerei ausgeschlossen.
Also war’s Tatsache! So eine Gemeinheit, so eine heimtückische! Sie vor allen lächerlich zu machen. Wenn er sie knipsen wollte, konnte er es ihr doch sagen, da hatte sie doch wohl vor allem ihre Einwilligung dazu zu geben. Einfach links liegen lassen wollte sie ihn, da würde er schon merken, was er verbrochen.
Rudolf Hartenstein aber merkte nichts. Der ging mit Hans Braun voran, und beide machten Pläne für den Winter. Der junge Mediziner beabsichtigte zum 1. September nach Berlin zu gehen und sich dort um eine Assistentenstelle in einem der Krankenhäuser zu bewerben. Das war nicht so einfach. Aber Annemarie hatte gemeint, daß sich ihr Vater gewiß dafür interessieren würde.
Auch Hans glaubte, daß es für seinen Vater ein leichtes sein würde, ihn durch seine vielen Beziehungen zu Ärzten in einem Berliner Krankenhause anzubringen. »Sie werden ihn ja in Ulm kennen lernen, Hartenstein, unsern alten Herrn, da können wir ihn gleich dazu keilen.«
Die Schwestern der beiden folgten in ziemlichem Abstand. Annemarie hatte zu der um einige Jahre älteren Ola großes Zutrauen gefaßt. Und für diese, welche das Leben ernster gemacht hatte, war Annemaries übermütige, lebensprühende Art geradezu herzerquickend.
Von ihrer Kindheit erzählte Ola. Wie sie zwei, der Bruder Rudi und sie, schon in jungen Jahren beide Eltern in kurzem Zwischenraum an einer Epidemie verloren hatten. Die Geschwister, die so zärtlich aneinander hingen, mußten sich trennen. Professor Bergholz in Tübingen, ein Bruder ihrer Mutter, nahm Ola ins Haus. Rudi blieb in Stuttgart in der Familie des Vaters. Nur zu den Ferien kam er stets nach Tübingen herüber. Das war jedesmal ein Fest für Ola.
»Und für Fräulein Anneliese gewiß auch?« warf ihre Begleiterin forschend ein.
»Ja, natürlich, für Anneliese auch. Wir sind ja wie Geschwister miteinander aufgewachsen.«
»Warum – warum ist denn Fräulein Anneliese diesmal nicht mit uns gekommen?« Die Frage, die Annemarie schon den ganzen Tag auf der Seele brannte, trotzdem sie Annelieses Abwesenheit ganz und gar nicht bedauerte, brach sich Bahn.
»Das hat halt einen ganz bestimmten Grund.« Ola machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Ihnen kann ich’s ja wohl anvertrauen, Fräulein Annemarie, sie ist heimlich verlobt – – –.«
»Mit – mit Ihrem Bruder?« Die Sonne in Annemaries strahlend blauen Augen schien plötzlich zu erlöschen.
»Mit dem Rudi? Hahahaha – ich bitt’ vielmals um Entschuldigung, wenn ich lach’, aber das kommt mir doch zu komisch vor. Die beiden sind ja wie Schwester und Bruder. Nein, einem jungen Privatdozenten, der von Tübingen nach Freiburg gegangen ist, hat sie’s angetan. Mein Onkel fährt mit ihr nach Titisee, damit die zwei öfters zusammen sein können.«
»Da wünsche ich Ihrer Cousine alles erdenkliche Glück!« Aus vollstem Herzen kam Annemarie dieser Wunsch. Die Abneigung, die sie von Anfang an Anneliese gegenüber gefühlt, und der Druck, der sie befallen, wenn sie nur an sie dachte, war plötzlich von ihrer Seele gewichen.
»Eifersucht – lächerliche Eifersucht ist’s gewesen – schäme dich«, sagte Nesthäkchen ehrlich, und war trotz dieser wortlosen Strafpredigt plötzlich unsagbar froh.
»Nein, der Rudi, der darf mir noch nicht ans Heiraten denken. Als Kinder haben wir es uns immer schon ausgemalt, wie wir später wieder beisammen wohnen werden, wenn er erst Arzt sein wird. Denn das war schon als Bub sein Wunsch. Sobald er sich einmal niedergelassen hat, ziehen wir zusammen, und ich mach’ mir ein gemütliches Heim mit dem Rudi.«
»Was redet’s von mir?« Der Vorangehende, der seinen Namen gehört, blieb neugierig fragend stehen.
»Denk mal, Rudi, Fräulein Annemarie hat g’meint, daß du und – – –.« Ola, die mit harmlosem Lachen die falsche Mutmaßung berichten wollte, kam nicht weiter.
Annemaries Hand legte sich ihr beschwörend auf den lachenden Mund. »Nicht verraten – bitte, bitte, versprechen Sie’s mir. So – Herr Doktor, jetzt hab’ ich auch mein Geheimnis.«
»Also, da sind wir quitt von vorhin,« scherzte Rudolf.
»Quitt – jawoll! Ihr Verbrechen wird noch geahndet.« Aber gar so bös sah die Annemarie dabei nicht aus, trotzdem sie doch zuerst ärgerlich genug auf ihn gewesen war.
Die Sonne stand schon schräg, als man nach Reutlingen zurückkehrte. Auf dem Marktplatz herrschte lebhaftes Treiben. Ein Wanderzirkus hatte inzwischen seine Pforten geöffnet. Aber trotzdem mit großen Lettern zu lesen stand: Eröffnungsspiel der berühmten Wanderkünstler »Nimmer da gewese«, trotzdem der Hanswurst auf der kleinen Bretterbühne das Programm in den lockendsten Farben anpries, war der Besuch nur recht schwach. Wenigstens innerhalb der gezogenen Barrieren. Draußen drängten sich die Zaungäste. Barfüßige Buben und Mädel hockten auf dem Gitter, auf allen Steintreppen und Brünnle.
»Eine kunstbegeisterte Stadt«, lachte Hans, auf die leeren Plätze weisend.
»Als Fremde haben wir die Verpflichtung, mit gutem Beispiel voranzugehen«, schlug Marlene vor.
»Fahrendes Volk ischt’s, wie wir, unterstütze wir die Kunscht!« Neumann warf sich in die Brust. »Ich nehm’ halt für uns alle Eintrittskarte.«
»Hascht denn noch so viel im Säckle?« erkundigte sich Krabbe verständnisinnig.
Neumann würdigte ihn gar keiner Antwort. »Erschten Platz, anders tun mer’s nit. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht – Krabbe, pump’ mir mal drei Mark, ‘s reicht halt nit ganz.«
»Das hab’ i im voraus schon g’wußt.« Die Karten wurden erstanden.
»Aber Kinder, wir werden doch nicht so viel Geld für so’n Jux ausgeben«, begann Nesthäkchen zu protestieren. »Wenn Neumann nobel sein will, soll er’s auf eigene Kosten tun, nicht auf unsere. Ich klettere hier auf den Briefkasten, da seh’ ich besser als vom ersten Platz.« In der Tat, das lose Mädel thronte plötzlich zum Gaudium der Umstehenden droben auf dem blauen Kasten.
»Aber, Annemie, komm’ doch, wir können doch den armen Neumann nicht mit den acht Billetten sitzen lassen«, stellte Ilse vor.
»Ist mir ganz wurscht, dann soll er ein andermal vorher fragen.«
»Annemie, benimm dich doch nicht so auffallend, komm’, wir gehen alle hinein.« Marlene versuchte sie herabzuziehen.
»Viel Vergnügen, ich genieße das Schauspiel vom hohen Olymp herab. Schenk meine Eintrittskarte einem von den Buben, Hans. Da machst du wenigstens noch jemand damit glücklich.«
Das erste Schauspiel war, daß sich sämtliche Büble und Mädle, welche Annemaries Worte gehört hatten, um den vornehmen Platz zu prügeln begannen. Dann begann die Vorstellung auf den Brettern.
Eine traurige Hanswurstlustigkeit. Das armselige Elend der so schmuck aussehenden grünen Fensterwagen offenbarte sich. Eine nicht mehr junge Frau, verhärmt, mit bunten Flittern behangen, trat auf und sang mit ausgeleierter Stimme und traurigen Augen lustige Verse zu Volksweisen. Die Zitherbegleitung dazu klappte nicht ganz, da verschiedene Saiten reparaturbedürftig waren.
Da – glockenreine Töne, eine Laute erklang von irgendwoher und übernahm mit übermütigem Blim-blim die Begleitung. Köpfe wandten sich den Klängen nach. Vom Briefkasten her kamen sie. Dort oben thronte ein bildhübsches, goldhaariges Dirndl und ließ die Zupfgeige munter mitsingen.
»Bravo – bravo!« Der Beifall nach Beendigung des Liedes galt mehr der jungen Lautenspielerin, als dem gutgemeinten Gekrächze auf dem Podium.
Nesthäkchen sprang von seinem erhöhten Sitz herab. Es griff nach seinem weichen Filzhut, »Bibi« genannt.
»Bitt’ schön, für die arme Frau!« Sie begann für die traurige Künstlerin, die ihr warmes Mitleid erregt hatte, zu sammeln. Da war nicht einer, der nicht in die Tasche griff und der liebenswürdigen Fürsprecherin gern sein Scherflein zusteuerte. Der »Bibi« füllte sich. Annemarie hatte die Freude, nachdem Hans und Rudolf Hartenstein etwas tiefer als die anderen in die Tasche gegriffen – den Studenten war dies leider beim besten Willen nicht möglich –, ja, da hatte Doktors Nesthäkchen die Genugtuung, der Frau Direktorin der berühmten Wanderkünstler »Nimmer da gewese« eine recht beträchtliche Summe, die freudestrahlend in Empfang genommen wurde, einzuhändigen.
Das Kunstbedürfnis des Schwäbischen Wanderbundes war nun befriedigt. Man überließ die Plätze den glücklichen jugendlichen Eroberern und zog weiter zum Bahnhof, um noch das Zügle ins Lichtensteingebiet zu erreichen.
»So, Annemie, ich hoffe, das war dein erster und dein letzter Schwabenstreich!« sagte Hans, die Schwester an das rosige Ohrläppchen nehmend.
»Was du denkst, jetzt geht’s erst los.« Nesthäkchen lachte den Bruder einfach aus.
»Fräulein Annemarie, ich hätt’ Ihnen halt was abzubitten«, begann Rudolf Hartenstein auf dem Wege zum Bahnhof, als sie allein gingen. »Ich war Ihnen bös’, daß Sie die Extratour auf den Briefkasten gemacht haben. Aber jetzt bin ich’s nimmer. Sie haben der Frau mehr Gutes getan, als wir mit unsern vornehmen Plätzen.«
»Sie haben mir noch mehr abzubitten, mein Herr.« Annemarie setzte eine strenge Richtermiene auf.
»Ja, das wäre?« verwunderte sich Rudolf Hartenstein.
»Diebstahl haben Sie begangen, Raub aus dem Hinterhalt – –.« Immer strafender wurde Nesthäkchens lustiges Gesicht.
»Da muß ich doch ganz energisch Protest erheben, ich fühl’ mich halt keiner Schuld nit bewußt.«
»So?« Annemarie klopfte auf den schwarzen Kasten an Rudolfs Seite.
»Aha – daher pfeift der Wind. Den Raub nehm’ ich schon auf mich.« Er dachte an ein Bild, das er neulich heimlich am Tübinger Marktplatz gestohlen hatte: Nesthäkchen mitten in der Prügelei mit Vronli und Kaschperle. Wenn sie das erst wüßte! »Ich muß doch halt eine Erinnerung an unser Beisammensein mitnehmen, wenn ich zum September in die Ferne nach Berlin geh’«, entschuldigte er sich.
»Ja, wenn’s dazu erst des Kastens hier bedarf«, entfuhr es Annemarie in ihrer raschen Art.
»Gelt, dessen bedarf’s nimmer, ich trag’ Ihr Bild auch ohnedies mit mir.« Warmen Blickes griff Rudolf nach Annemaries herabhängender Rechte.
»Neschthäkche – Neschthäkche – beeilt’s euch – ‘s Zügle wird gleich abgehe!« schrie die Viehmuse gerade zur geeigneten Zeit dazwischen. Die beiden Hände lösten sich erschreckt.
Natürlich hatte der Zug noch zehn Minuten Aufenthalt – die Viehmuse hatte mal wieder geflunkert.
Es war schon spät, als man in Honau am Fuße des Lichtensteins anlangte. Die Gasthäuser waren von Sommerfrischlern überfüllt. Man mußte sich dazu bequemen, in der Scheune zu übernachten. Der fidelen Stimmung des Wanderbundes war dieses elegante Quartier durchaus angemessen. Lachend kletterten Annemarie und Ilse die Hühnerleiter zum oberen Heuboden hinauf und betteten sich dort oben ins duftende Heu. Marlene und Ola machten es sich unten bequem. Die Herren zogen ein Bauernhaus weiter ins Heulager.
»Wehe euch, wenn ihr schnarcht oder gar aus dem Schlafe sprecht – Fräulein Ola, sind Sie auch nicht etwa mondsüchtig und fangen an zu nachtwandeln?« Es dauerte lange, bis Ruhe bei der ausgelassenen Gesellschaft eingekehrt war.
Mitten in der Nacht war’s. Da gab’s mit einem Male einen dumpfen Krach – ein erschreckter Aufschrei, dem ein dreifaches Echo folgte. Dann helles Lachen.
»Um’s Himmels willen, was ist denn das?« Marlene rieb sich die Augen. »Dieses war der zweite Streich – und der dritte folgt sogleich«, klang es lachend neben ihr.
»Sind denn das nit Sie, Fräulein Annemarie?« Ola tastete an ihre linke Seite, wo es vorher leer gewesen war. Da packte sie ein Bein.
»Halt – das ist meins!« schrie Annemarie lachend.
»Annemarie, wo bist du denn?« Ilses angstvolle Stimme erklang aus der Höhe.
»Hier!«
»Wo – wo denn? Du hast doch vorhin neben mir geschlafen.« Vergebens tastete Ilse nach der Freundin. Da fühlte sie plötzlich das Heu unter sich weichen – ein schriller Schrei – Ilse versank ebenfalls in die Unterwelt.
»Hilfe – Hilfe!« schrie es wieder von unten. »Du quetschst mich ja zu Apfelmus – keinen ganzen Knochen habe ich mehr im Leib!« Annemarie, auf die Ilse herabgesegelt war, rieb sich, mit dieser um die Wette schimpfend und lachend zugleich, Arm und Beine.
»Ja, Kinder, was ist denn das für eine heimtückische Menschenfalle hier? Man ist ja seines Lebens nicht sicher. Und dazu die Stockdusternis!« Marlene, die allmählich ganz munter geworden war, versuchte sich vergeblich zurechtzufinden.
»Herr Mond, bitte, etwas Beleuchtung!« rief Nesthäkchen, das seinen Humor wiedergefunden hatte, nachdem es festgestellt, daß alle Knochen noch heil waren.
»Ja, wie haben wir denn bloß unsere Rutschpartie zuwege gebracht, Annemie? Wir lagen doch ganz entfernt von der Leiter«, versuchte Ilse der geheimnisvollen Reise auf den Grund zu kommen.
»Ich kann’s mir halt denken.« Ola lachte so herzlich, daß sie sich gar nicht beruhigen konnte. Bei uns zu Land lassen die Bauern in der Mitte auf dem Heuboden ein Loch, durch das sie das Heu hinunterwerfen. Da sind Sie halt hineingeraten.«
»Ja, ich wollte mich bloß auf die andere Seite umdrehen, und da segelte ich plötzlich in den Orkus hinab.«
Viel wurde nicht mehr aus dem Schlaf. Es war gut, daß die Sommernacht nur kurz war und daß man in aller Frühe wieder aufbrechen wollte.
Draußen am verschlafen rieselnden Brünnle wurde Toilette gemacht.
Neckereien ohne Ende mußten sich die beiden gefallen lassen, als die Herren der Schöpfung von der nächtlichen Rutschpartie erfuhren.
Die Viehmuse lachte so dröhnend, daß die Hühner im Stall zu gackern begannen.
»Zwei Schwabenstreich’ hat’s Neschthäkche schon auf dem Kerbholz – vivant sequentes
!«