Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 76
13. Kapitel
Gute Vornahme
ОглавлениеBei dem vielfachen Lesen des Briefes der Mutter fiel Annemarie aber noch anderes ein als nur deren Rückkunft. Schrieb Mutti nicht, sie hoffe, daß ihre Lotte gut für die Großmama sorge, soviel das in ihren Kräften steht?
Nesthäkchen wurde rot.
Hatte es wohl jemals daran gedacht, daß sie irgendwie für Großmama sorgen könnte? Bisher hatte es alle Liebe und Aufopferung der Großmama als etwas Selbstverständliches hingenommen. Kein Gedanke war Annemarie je gekommen, daß es umgekehrt sein könnte, daß sie auch die Pflicht habe, die Großmama, die trotz ihres Alters den Enkelkindern Ruhe und Bequemlichkeit geopfert hatte, zu umhegen und zu umsorgen. Nun hatten die Zeilen der Mutti ihr die Augen geöffnet.
Und wie stand es mit dem darauf folgenden Satz in Muttis Schreiben? Hatten Klaus und sie selbst der Großmama ihr Amt nicht recht oft noch erschwert? Annemarie war ehrlich genug, auch in Gedanken nichts zu beschönigen. Wie oft hatte sich Großmama um das Ausbleiben von Klaus gesorgt. Wie oft rief sie zusammenfahrend hinter ihnen her: »Kinder, tut mir bloß den Gefallen und schmettert die Türen nicht so ins Schloß!« Hatte sie jemals daran gedacht, Großmama diesen eigentlich selbstverständlichen Wunsch zu erfüllen? Ja, immer erst, wenn es zu spät war, wenn die Tür bereits krachend zugeflogen und Großmama ihren Schreck weg hatte. Und so gab es noch hundert kleine Dinge, bei denen sie nicht genug Rücksicht auf die Großmama genommen hatte. Ganz abgesehen von den Malen, wo sie nicht immer Großmamas Anordnungen mit freundlichem Gesicht nachgekommen war. Wo sie in ungezogener Weise geknurrt und gemurrt, wenn ihr etwas nicht paßte, ja, einmal sogar ganz ungehörig widersprochen hatte.
Bis an die Blondhaare stieg der Kleinen das Blut bei dieser unangenehmen Erinnerung. Großmama hatte ihrem Herzblatt längst verziehen, und doch – heute mußte Annemarie daran denken, wie wohl Mutti über das Verhalten ihres Nesthäkchens urteilen würde.
Aber das sollte anders werden – ganz bestimmt. Bei allem, was sie tat, wollte Annemarie von nun an denken, was wohl Mutti dazu meinen würde.
Man soll nie etwas aus die lange Bank schieben. Gleich am selben Tage begann die Kleine noch damit, nun auch ihrerseits für die liebe Großmama Sorge zu tragen.
Großmama wußte gar nicht, wie ihr geschah. Mittags bei Tisch zeigte Nesthäkchen lebhaftes Interesse dafür, ob Großmama auch ein recht weiches Stück Braten habe, da alte Leute doch nicht mehr so gute Zähne hätten. Als Großmama sich zum zweitenmal Speise nahm, gab das Enkeltöchterchen mahnend, wenn auch bescheiden, zu bedenken, ob Großmama sich bloß nicht den Magen verderben könnte. Zum Nachmittagsschlummerstündchen schleppte Annemarie Decken und Tücher herbei, als ob Großmamas Sofa am Nordpol und nicht im geheizten Zimmer stünde. Als sie aber Großmama möglichst fest in dieselben einzuwickeln begann, warf die alte Dame schwer atmend ein Stück nach dem andern wieder ab: »Herzchen, ich ersticke ja!«
Nesthäkchen stand bestürzt da. Ja, wenn Großmama nicht für sich sorgen lassen wollte!
Leider wußte die Tür noch nichts von Annemaries guter Vornahme. Gerade, als sie dieselbe leise schließen wollte, entwischte sie ihr und knallte krachend ins Schloß. Da öffnete Annemarie sie noch einmal und schloß sie nun leise, wie sich’s gehört.
»Weißt du, Großmuttchen, ich möchte Fräulein bitten, den Kaffeetisch für uns lieber in der Kinderstube zu decken. Wenn meine vier Freundinnen heute nachmittag kommen, das hältst du nicht aus, das ist bestimmt zuviel Radau für dich!« hatte Annemarie bereits am Vormittag der Großmama vorgeschlagen.
Diese hatte sie ganz verständnislos angesehen. Ihr Lebtag hatte sich Annemarie nicht darum gekümmert, ob etwas zuviel Radau machte oder nicht. Was für ein guter Geist war denn plötzlich in sie gefahren?
Als sich die zärtliche Fürsorge bei Nesthäkchen für Großmamas Wohl im Laufe des Tages aber immer mehr steigerte, wurde die Sache noch rätselhafter.
Pünktlich um vier Uhr erschienen die Schulfreundinnen, Margot, Marlene, Ilse und Marianne. Annemarie hatte sie zum ersten Feiertag eingeladen, um dem gemeinsamen »Junghelferinnenkind« seinen Weihnachten aufzubauen.
Tagelang vorher hatte Annemarie bereits ein niedliches Puppenweihnachtsbäumchen für »ihren Jungen« geputzt. Der thronte in der Mitte des weißgedeckten Kinderstubentisches. Ringsherum hatte sie ihre Geschenke für den Kleinen geordnet. Da lagen mühsam gehäkelte hellblaue Wollschuhchen und ein selbstgestricktes weißes Mützchen. Zwei Jäckchen, die in der Handarbeitsstunde gehäkelt worden waren, und außerdem ein kleiner Holzstall mit einem krähend herausspazierenden Hahn.
Der Junge würde Augen machen.
Jede der Freundinnen brachte ebenfalls ein Geschenk für den kleinen Ostpreußenflüchtling mit. Margot hatte ein halbes Dutzend Windeln selbst gesäumt, Marianne ein Nachtröckchen genäht. Ilse und Marlene, die beiden Freundinnen, hatten sich zusammengetan, und den ersten Kittel für den Jungen, den Fräulein Hering zugeschnitten, geschneidert. Er war sehr niedlich ausgefallen, wenn der winzige Kerl auch vorläufig noch dreimal hineinging.
Wirklich, allerliebst sah der Weihnachtstisch aus. Stolz überblickten die fünf ihr Werk, dann aber ließen sie es sich selbst erst mal bei Schokolade und Weihnachtsstolle wohl sein. Denn »Fleiß muß belohnt werden«, sagte die Großmama. Auch Hans und Klaus hatten sich dazu eingefunden und zeigten bei der Vertilgung der Kuchenberge ihren Fleiß.
Klaus, der Strick, machte sich nebenbei noch das Vergnügen, Puck auf Margot, die, so groß sie war, noch Angst vor Hunden hatte, heimlich zu hetzen.
»Wo ist die Margot – faß zu, Puck – faß sie!« flüsterte er dem Vierfüßler ins Ohr.
Keiner achtete in dem lebhaften Stimmengewirr, das fünf Mädchen verursachen können, auf den Schlingel. Bis plötzlich Margot mit lautem Angstgeheul von ihrem Stuhl auffuhr, daß ihre Schokolade sich über die Kaffeedecke und über Pucks weißes Fell ergoß.
»Der abscheuliche Hund – er beißt mich – er hat mich gebissen!« rief sie weinend.
Der arme Puck, der nur ein wenig an Margots Kleidern geschnuppert hatte, wußte nicht, wie ihm geschah. Seine Freundin Annemarie jagte ihn scheltend aus dem Zimmer hinaus, und Klaus, der eigentliche Missetäter, ließ sich mit unschuldigem Gesicht, als ob er kein Wässerlein trüben könne, seinen Kuchen weiter schmecken.
»Ja, ja, so geht’s im Leben,« dachte das Zwerghündchen sinnend, während es sich draußen die vergossene Schokolade vom Fell leckte, »kleine Diebe hängt man, große läßt man laufen.«
Nachdem Margot sich wieder beruhigt, Fräulein Ordnung geschafft, und Annemarie sich voll Rücksicht bei der erstaunten Großmama erkundigt hatte, ob ihre Nerven das auch aushielten, nachdem Schokoladenkanne und Kuchenkörbe geleert, zogen die fünf erwartungsvoll hinunter in die Wohnung des Hausmeisters.
Dort gab’s eine große Enttäuschung. Der Junghelferinnenjunge, der doch die Pflicht hatte, wenn seine Wohltäterinnen ihn besuchten, sie wenigstens mit offenen Augen zu empfangen, schlief gerade.
»Wird er bald aufwachen, Frau Kulicke?« erkundigte sich seine erste Pflegemutter bei ihrer Nachfolgerin.
»Det kann keen Mensch nich wissen. Wenn det Mäxeken Lust hat, schläft es manches Mal bis achten und schreit dafür die janze Nacht.«
Na, das war ja heiter. Sie konnten doch dem »Mäxeken« unmöglich nachts bescheren. Um acht Uhr mußten die Freundinnen überhaupt schon wieder zu Hause sein.
Annemarie fühlte die Verantwortung als Wirtin und als ehemalige Pflegemutter.
»Vielleicht kann man ihn wecken?« schlug sie der Frau vor.
»Nee – um Jottes willen nich – denn is jar nischt mit ihm zu machen. Denn brüllt er euch bis morjens früh in eins weg«, wehrte Frau Kulicke erschreckt.
Ach was, der Junge würde schon aufhören zu brüllen, wenn er die schönen Geschenke oben sah.
Als die Portierfrau in die Küche ging, begann Annemarie ein wenig an der winzig kleinen Nase des süß Schlummernden zu zupfen. Der knurrte im Schlaf, ließ sich aber sonst nicht stören.
Sie mußte energischer vorgehen.
»Junge, wach’ auf, oben gibt’s eine Weihnachtsbescherung für dich!« schrie sie in den Kinderwagen hinein, den die Freundinnen in atemloser Spannung umstanden.
Diese Mitteilung machte jedoch durchaus keinen Eindruck auf den kleinen Schläfer.
Gab es denn hier keinen nassen Schwamm? Annemarie erinnerte sich, daß Fräulein sie öfters in der ersten Schulzeit durch dieses Mittel aus dem Bett gebracht hatte, wenn die kleine Langschläferin durchaus nicht aufstehen wollte.
Nein, ein Schwamm war nirgends zu entdecken, aber dort stand ja die kleine, noch halbgefüllte Gießkanne, mit der Frau Kulicke kurz vorher ihre Blumen begossen hatte.
»Nicht, Annemarie, tu’s nicht!« wehrte Margot erschreckt, die selbst kleine Geschwister hatte und wußte, daß man kleine Kinder nicht im Schlafe stören soll.
»Ach was, nur ein paar Tropfen«, Nesthäkchen hatte bereits die Gießkanne ergriffen.
O weh – statt der paar Tropfen ergoß sich plötzlich ein ganzer Wasserstrahl über das Gesicht des nichts Böses ahnenden Säuglings.
Laut schreiend fuhr er aus dem Schlaf, aber er war nicht mehr erschreckt, als Annemarie selbst. Das hatte sie nicht beabsichtigt.
Auch die Freundinnen machten entsetzte Gesichter.
Frau Kulicke, die an das Kindergeschrei gewöhnt war, blieb zum Glück ruhig in ihrer Küche. Mit ihren Taschentüchern begannen die kleinen Mädchen das triefende Mäxchen abzutrocknen, aber es schrie trotzdem wütend weiter.
»Wir wickeln ihn in das große Tuch und nehmen ihn mit nach oben, da wird er schon aufhören«, schlug Annemarie vor, die ihr schlechtes Gewissen so schnell wie möglich aus der Portierwohnung jagte.
Gesagt – getan.
Der kleine Max wurde warm in das mitgebrachte Tuch eingehüllt; die Freundinnen kehrten noch flink die Kissen um, damit die Nässe nicht gleich auffiel. Dann machte sich die Karawane auf den Weg. Voran Annemarie mit dem aus der Vermummung etwas gedämpfter brüllenden Mäxchen.
Ordentlich schwer war der Junge in den paar Wochen geworden. In Todesangst, den ärgerlich Strampelnden fallen zu lassen, trugen ihn die Freundinnen abwechselnd in die Braunsche Wohnung.
Nun brannte das Bäumchen. Die ganze Familie, einschließlich Hanne und Puck, lief erwartungsvoll zusammen, was Mäxchen wohl für ein Gesicht zu seiner Bescherung machen würde.
Die Freundinnen begannen mit hellen Stimmen »Stille Nacht – heilige Nacht« zu singen, um dem Kleinen das Feierliche der Weihnachtsbescherung gleich das erstemal klar zu machen.
Aber Mäxchen schien nicht viel Sinn für Feierlichkeit zu haben. Es kniff die Augen fest zu, als ob es gar nichts sehen wollte, den Mund riß es dafür um so weiter auf. So gab es sich redlich Mühe, den frommen Sang der Kinder zu übertönen.
Ob Annemarie ihm die mühsam gehäkelten hellblauen Schuhchen zeigte oder Margot ihre selbstgesäumten Windeln – der undankbare kleine Bengel schrie unentwegt seine eigene Naht weiter.
Annemarie begann der Angstschweiß auszubrechen.
Großmama mußte sich wieder erbarmen. Durch Klopfen und Schaukeln versuchte sie ihn zu beruhigen.
»Himmel, das Jäckchen ist ja ganz naß – wie kann die Frau das Kind nur so liegen lassen, wenn es sich nun erkältet«, rief Großmama kopfschüttelnd. Die Freundinnen begannen heimlich zu kichern. Annemarie aber wurde rot.
»Ich wollte ihn ein bißchen bespritzen, daß er aufwacht, aber die olle Gießkanne hat gleich so doll geplanscht«, gab sie nach kurzem Schwanken der Wahrheit die Ehre.
»Was – mit der Gießkanne hast du den armen Kerl aus dem Schlaf geweckt – ja, dann ist es sein gutes Recht, zu brüllen«, Großmama wußte nicht, ob sie lachen oder ärgerlich sein sollte.
Mäxchen wurde umgezogen. Er bekam eins von den neuen Jäckchen an und die hellblauen Schuhe. Leider verstand er sie aber nicht richtig zu würdigen, denn er ließ sie sofort in den Mund spazieren.
Wenigstens war seine Gemütsverfassung jetzt eine menschenfreundlichere geworden. Nur einmal litt sie noch Schiffbruch, als Annemarie ihm den krähenden Hahn vorführte. Da begann er aufs neue noch viel lauter zu krähen.
Die Junghelferinnen waren eigentlich von Herzen froh, als Fräulein ihren Schreihals wieder in die Portierwohnung hinabspedierte, um gleichzeitig für ein trockenes Lager zu sorgen. Nun konnten sie wenigstens noch ungestört bis zum Heimgehen spielen.
Nesthäkchen erkundigte sich beim Gutenachtsagen angelegentlich, ob das Kleinkindergeplärr auch nicht zu anstrengend für Großmamas Nerven gewesen sei. Da konnte sich diese doch nicht enthalten zu fragen: »Sag’ mal, Herzchen, was hast du heute bloß immer für Angst um mich, das bin ich doch gar nicht von dir gewöhnt.«
»Na, Mutti hat doch geschrieben, ob ich auch gut für dich sorge, Großmuttchen,« kam ein wenig kleinlaut Nesthäkchens Antwort.
Ja, das Wort einer Mutter wirkt selbst auf eine Entfernung von London nach Berlin.