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15. Kapitel
Reichswollwoche

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Inhaltsverzeichnis

Die Reichswollwoche, die merkwürdigste Woche, die der Krieg gezeitigt, war ins Land gezogen. Das unterste kehrte sie zu oberst im ganzen Deutschen Reich. Da war kein Haus und kein Hüttchen, in dem nicht Kästen und Schränke durchsucht und durchstöbert wurden. Ein jeder kramte an altem Wollzeug hervor, was er nur entbehren konnte.

»Kinder, ich muß ja Gott danken, wenn ihr mir noch die Kleider auf dem Leibe laßt«, meinte die Großmama. Wirklich die drei Enkel hatten sie ganz ausgeraubt. Nichts war sicher vor ihnen, es hätte nicht viel gefehlt, dann hätten sie auch den guten Perser Teppich mit Beschlag belegt. Klaus stibitzte der Hanne unter den Händen das Friestuch zum Bohnern fort und behauptete nachher dreist und gottesfürchtig, es wäre schon zerrissen gewesen. Annemarie wurde vom Fräulein beim Kramen im Flickenkasten erwischt. Und als Fräulein einige Zeit später ein paar Hosen für Hans ausbessern wollte, fehlten natürlich die passenden Flicken. Die hatte das patriotische Nesthäkchen dem großen Wollsachenkorb einverleibt. Es war ja für die Truppen – für die lief Hans selbst mit einem abstechenden Flicken in den Hosen herum.

Dem Wildfang Annemarie war es jetzt ein Fest, dieses Herumstreifen in den Rumpelkammern und das Auftauchen längst vergessener Dinge. Hans und Klaus aber hatten auch tüchtig Arbeit während der Reichswollwoche. Sie und eine große Anzahl anderer Jungen waren von ihrer Schule aus der Ehre teilhaftig geworden, mit einem Handwagen von Haus zu Haus zu fahren, und in jeder Wohnung die zusammengesuchten Wollsachen in Empfang zu nehmen. Immer drei Jungen zu einem Handwagen. Wer das den Primanern und Obersekundanern wohl jemals früher zugemutet hätte, einen Handwagen voll Lumpen auf der Straße zu ziehen, der wäre von ihnen nicht schlecht angesehen worden. Und jetzt – stolz waren die Herren Gymnasiasten darauf, die Wollsachen zu sammeln, aus denen Strickwolle zu warmen Sachen für die Truppen hergestellt wurde. Denn Englands Absperrung begann sich im Handel bemerkbar zu machen.

Annemarie war zum erstenmal in ihrem Leben mit ihrem Los nicht zufrieden. Ach, daß sie nicht auch ein Junge war! Wenn die Brüder großartig ihre Listen herauszogen, auf denen die Straßen, die ihnen für jeden Tag zugewiesen wurden, verzeichnet standen, dann fühlte sie sogar etwas wie Neid. Brennend gern wäre sie mit dem Handwagen herumgezogen.

»Kläuschen, liebes gutes Kläuschen, könntest du mich nicht ein einziges Mal mitnehmen?« flüsterte Annemarie dem Bruder bittend zu, ehe er sich eines Nachmittags wieder aus die Wanderung begab.

Statt jeder Antwort tippte der Tertianer ausdrucksvoll gegen die Stirn.

Aber das hielt die Schwester noch lange nicht davon ab, ihn weiter mit ihren Bitten zu bombardieren.

»Ein einziges Mal ja bloß – ich schenke dir dafür auch den Kasten Konfekt, den mir Tante Albertinchen gestern mitgebracht hat.«

Das zog. Für Süßigkeiten war Klaus zu allem zu haben. Das wußte das Schlauköpfchen natürlich.

»Nee – es geht nicht«, sagte er schon etwas weniger abweisend. »Mädel können da nicht mit rumziehen, da schäme ich mich vor den andern Jungs.«

»Ach, Mäuschen, ich ziehe meine blauen Turnhosen an und dazu die gestreifte Matrosenbluse, und die Haare verstecke ich ganz unter der Matrosenmütze – da sehe ich bestimmt wie ein Junge aus. Nicht wahr, du nimmst mich mit, Kläuschen?« Annemarie vollführte bereits einen Luftsprung.

»Großmama wird’s nicht erlauben – – –« wandte der Bruder, durch den lustigen Verkleidungsstreich halb, und durch Tante Albertinchens Konfekt ganz besiegt, noch ein.

»Ach, Großmuttchen schläft doch jetzt. Bis sie aufwacht, bin ich längst wieder zurück. Fräulein besucht ihren verwundeten Vetter im Lazarett, und Hanne läuft gerade nach Petroleum herum, das so knapp ist. Da merkt kein Mensch, daß ich weg bin. In fünf Minuten bin ich fertig –« fort war sie bereits.

Es dauerte noch nicht mal so lange, da trat ein allerliebster blonder Junge wieder in das Zimmer, gegen den Klaus nichts mehr einzuwenden hatte.

»Die beiden Schulkameraden, die mit mir fahren, kennen dich nicht, ich sage einfach, ich habe meinen kleinen Bruder mitgebracht, vorwärts!« Unter Lachen und Kichern stürmten die zwei die Treppe hinab, wo bereits die beiden andern »Lumpenmätze«, so wurden die Einsammler von den nicht zu diesem Ehrenamt erwählten Schülern genannt, mit ihrem Handwagen warteten.

»Mein kleiner Bruder«, stellte Klaus verschmitzt lachend vor, während Annemarie ihr errötendes Gesicht schnell zur Seite wenden mußte. »Komm, Karlchen, wir werden zuerst ziehen, jetzt ist der Wagen noch schön leicht.«

Klaus und das kichernde »Karlchen« spannten sich vor, und fort rumpelte die elegante Equipage, durch die vornehmen Straßen des Westens.

Mit glänzenden Augen trabte Annemarie als Ziehhund voran. Nie in ihrem Leben, selbst damals, als sie eine Prämie in der Schule bekam, war sie so ungeheuer stolz gewesen.

Die Knaben hatten heute zum Glück ihre Tätigkeit nur in der Nähe. Die beiden andern gingen mit ihrem Ausweisschein in die Wohnungen, während Klaus und Annemarie den Wagen bewachten. Mit reicher Beute an ehemaligen Flanellunterröcken, zerrissenen Unterhosen, Teppichstücken und Lumpen kehrten sie aus den Wohnungen zurück. So ging es von Haus zu Haus, der Wagen wurde allmählich schwerer. Der Strick schnitt Nesthäkchen in die Hände. Aber das störte das Vergnügen nicht.

»Was der kleine Kerl schon für Muskeln hat«, sagte einer der fremden Jungen anerkennend. Das spornte Annemarie von neuem an.

Die im Märzsonnenschein liegende Straße kam eine Dame herauf. Das kleine Mädchen äugte scharf hin – heiliger Bimbam – das war ja Fräulein Neubert, die strenge Lehrerin des Schubertschen Lyzeums. Wenn die sie bloß nicht erkannte!

Fräulein Neubert kam näher und schaute sich, wie auch die andern Vorübergehenden, die Lumpenequipage, die man sonst nicht in den Straßen Berlins sah, mit ihren netten jungen Begleitern interessiert an.

Annemarie drehte sich fast den Hals aus, so sehr wandte sie den Kopf nach der entgegengesetzten Richtung. Aber wenn Fräulein Neubert sie nun doch erkannte, wenn sie ihr am Ende morgen einen Tadel gab, weil sie nicht gegrüßt hatte – herzklopfend schielte Annemarie ein wenig zur Seite. Da begegnete sie gerade Fräulein Neuberts Augen und – das Wunder geschah: Der bildhübsche Junge machte zum Staunen der Lehrerin und der gerade Vorübergehenden einen wohlerzogenen Knicks.

Klaus gab ihr einen ärgerlichen Puff. »Was sollen denn die Jungs von dir denken, du mußt die Mütze ziehen, wenn du grüßt.«

Richtig – daran hatte Nesthäkchen in der Aufregung gar nicht gedacht, daß es ja jetzt »Karlchen« war.

Die Jungen, die hinter dem Wagen hergingen, um aufzupassen, daß nichts verloren ging oder gestohlen wurde, hatten zum Glück den sonderbaren Gruß nicht bemerkt.

»So, Braun, jetzt mußt du und dein kleiner Bruder hausieren gehen, wir wechseln nun ab«, sagte einer von ihnen, als sie in eine neue Straße einbogen.

Braun und sein »kleiner Bruder« machten sich auf den Weg.

In dem ersten Hause, das sie betraten, wickelte sich alles sehr schnell ab. Die einzelnen Mieter hatten bereits sämtliche Wollsachen zum Verwalter gegeben, wo die Kinder sie in Empfang nahmen. Aber im Nebenhaus mußten Klaus und »Karlchen« treppauf, treppab. Die meisten Leute waren freundlich zu den beiden frischen Jungen; aber da gab es auch welche, die ihnen wie einem lästigen Bettler die Tür vor der Nase zuschlugen.

Das etwas empfindliche kleine Fräulein fing beinahe an zu weinen.

»Du, Klaus«, Annemarie zupfte den Bruder, der an der gegenüberliegenden Tür klingeln wollte, zaghaft am Ärmel. »Du, wenn die hier uns auch rausschmeißen, dann mach’ ich nicht mehr mit.«

»Denn läßt es bleiben – für unsere Soldaten können wir uns ganz ruhig mal rausschmeißen lassen.«

Nein, in der gegenüberliegenden Wohnung wurden sie freundlich empfangen.

»Kommt nur herein, ihr könnt euch die Sachen gleich nehmen, sie liegen hier im Zimmer schon bereit. Wirst du denn auch alles tragen können, mein Sohn?« Die Dame klopfte Annemarie freundlich die frische Wange und führte sie beide in ein kleines, sonnenhelles Balkonzimmer. Dort saß ein zarter Knabe über seine Schulbücher. Beim Eintritt der fremden Jungen hob er den klugen Kopf, und »Kurt – Kurt!« brüllte der kleinere blonde plötzlich los und eilte freudestrahlend auf ihn zu.

»Annemarie, bist du’s denn wirklich?« Kurts Augen strahlten glücklich auf. »Das ist Annemarie Braun, mit der ich im Wittdüner Kinderheim war und mit der ich zusammen nach Haus gereist bin«, erklärte er seiner Mutter.

Die sah lächelnd auf das von ihr mit »mein Sohn« angeredete erglühende kleine Mädchen. »Kurt hat mir viel von dir erzählt, ein halber Junge scheinst du mir danach ja schon immer gewesen zu sein, nun bist du wohl ein ganzer geworden?« sagte sie scherzend mit einem Blick aus die Hosen.

»Nee – nee – ich – ich wollte bloß so schrecklich gern mit Klaus – das hier ist mein Bruder Klaus – mit zur Wollsammlung«, stotterte Annemarie verwirrt.

»Ich habe immer gedacht, du würdest mich mal besuchen, Annemarie, du hattest es mir doch versprochen. Aber du scheinst mich ganz vergessen zu haben«, meinte Kurt ein wenig vorwurfsvoll.

»Ja, ich habe über den Krieg wirklich vergessen, dich zu besuchen, Kurt«, gab Annemarie zu. »Und an Gerda Eberhard in Breslau, mit der ich in Wittdün so befreundet war, habe ich auch noch nicht geschrieben.« Es kam ja öfters mal vor, daß das kleine Fräulein etwas vergaß.

»Dann holt es nächsten Sonntag nach, kommt alle beide zu meinem Kurt, ich freue mich, wenn er fröhliche Altersgenossen hat«, forderte die Mutter freundlich auf.

Die Geschwister dankten und machten sich mit ihrer Einladung und dem großen Wollbündel wieder auf den Weg. Kurt gab ihnen bis zur Tür das Geleit. Er mußte zwei Stöcke dazu benutzen.

»Kannst du noch immer nicht richtig gehen, Kurt?« fragte Annemarie den hinkenden Knaben mitleidig.

Der schüttelte den Kopf. »Nein, es war in Wittdün schon besser. Aber ich bin ganz zufrieden, wenn ich jetzt die armen Soldaten auf der Straße sehe, die nicht mal mehr ihre Beine haben. Also auf Wiedersehen am Sonntag!«

Kurt winkte den beiden vom Balkon aus noch nach.

Weiter ging es Haus für Haus, Wohnung für Wohnung. Freundliche und unfreundliche Menschen lernte Annemarie auf ihrer Wanderung kennen. Der dicke Schlächtermeister zog sich seine Wollweste direkt vom Leib: »Ach, wat, nehmt man den Lumpen noch mit, Jungs, unsere Soldaten brauchen es nötiger als ick.« Der Bierwirt an der Ecke lud sie sogar zu einer »kleenen Weiße« ein und reichte Annemarie das große Bierglas mit den Worten hin: »Da stärke dir, mein Junge.«

Das machte Doktor Brauns durchtriebenen Sprößlingen natürlich heillosen Spaß.

Weniger spaßig fand Annemarie es, daß die ihnen überlieferten Lumpen manchmal recht unappetitlich waren. Zwei wollene Pferdedecken schanzte sie geschickt Klaus zu, weil ihr Näschen dafür zu vornehm war. Das Riechorgan von Klaus war weniger empfindlich.

»So, nun kommt das letzte Haus, dann wird wieder ausgetauscht«, Klaus zog Annemarie mit sich.

»Hier werden wir feine Sachen kriegen, das sind sehr vornehme Leute«, flüsterte Nesthäkchen, ehrfurchtsvoll auf das Türschild weisend. »Von Hohenfeld, königlicher Regierungsrat«, las Klaus.

Das Hausmädchen öffnete und brachte den Kindern die Wollspende in die blumengeschmückte Diele hinaus.

»Ist es hier aber nobel«, Annemarie sah sich neugierig um.

Da gewahrte sie, aus einer Türspalte lugend, zwei große, tiefblaue Kinderaugen. Nanu – Annemaries Herz begann plötzlich zu hämmern – die kannte sie doch! Wie kam denn bloß die »Polnische« hier in die feine Wohnung?

Auch Vera hatte die Schulkameradin trotz ihres merkwürdigen Aussehens jetzt erkannt. Ein Glücksschimmer flog über das seine, blasse Gesicht des kleinen Mädchens, ungestüm riß es die Tür auf und eilte hinaus.

»Annemarrie« – Vera konnte sich das schnarrende Rrr nicht abgewöhnen – »kommst du mirr besuchen?« beide Hände streckte sie in ihrer Freude dem Mädchen entgegen, das sie stets verächtlich behandelt, das die Schuld daran trug, daß sie so vereinsamt in der Schule war.

In peinlichster Verlegenheit stand Annemarie vor ihr. Kein Wort brachte das sonst so kecke Mädel über die Lippen.

Da erschien Veras Tante, Frau von Hohenfeld, in der Tür. Klaus zog die Mütze, und Annemarie, eingedenk der Weisung des Bruders, tat es ihm höflich nach. Verwundert blickte die Dame aus den hübschen Jungen, dem zwei goldblonde Mädchenzöpfchen auf dem Kopf wuchsen.

»Ihr wollt die Wollsachen holen, Kinder, ich habe meinen ganzen Mottenschrank geräubert, na, nehmt nur alles mit für unsere braven Krieger«, damit händigte sie ihnen die Sachen ein.

Inzwischen flüsterte Vera der Tante in heller Aufregung zu: »Tante – Tante – das ist Annemarie Braun aus meiner Klasse.«

»Ei, sieh mal an, eine kleine Mitschülerin! Unsere Vera wird gewiß gern mit dir spielen wollen. Wenn du Zeit hast, bleibe noch ein bißchen bei uns, mein Kind«, wandte sich Frau Regierungsrat jetzt freundlich an die puterrote Annemarie.

Die wünschte sich an das äußerste Ende der Welt.

Da aber dieser Wunsch nicht in Erfüllung ging, mußte sie Antwort geben.

»Ich kann – hatschi –«, da machte sich der Mottenschrank, in dem die Wollsachen gelegen, bemerkbar – »ich kann wirklich nicht – hatschi, hatschi – danke vielmals, aber die Großmama wartet – hatschi«, unter Niesen brachte die Kleine es mühsam hervor.

»Dann du kommen mirr besuchen bald?« Vera sah sie flehentlich aus ihren tiefblauen Augen an. »Ja, werden du kommen?«

»Hatschi – hatschi« – das war die einzige Antwort, die Vera auf ihre Bitte wurde.

Annemarie zog wieder die Mütze vor der Dame, machte zum Überfluß in ihrer Verwirrung einen Knicks noch obendrein und hastete, so schnell wie möglich heraus zu kommen. Denn lügen mochte sie nicht. Und daß sie Vera jemals besuchen würde, das war doch ganz ausgeschlossen. Von der Treppe her hörte das mit enttäuschten Augen ihr nachsehende schwarzlockige Mädchen als letzten Gruß noch Annemaries »Hatschi«.

»Das ist deine ›Polnische‹? Alle Wetter, die wohnt ja mächtig nobel«, machte Klaus, sobald sie ein Stockwerk tiefer waren, als erster seinem Herzen Lust. »Wie ’ne Spionin sieht die gar nicht aus! Und wenn ihr Onkel königlicher Regierungsrat ist, kann man sich das auch eigentlich nicht von ihr denken.«

»Bitte sehr, du warst der erste, der gesagt hat, sie ist bestimmt eine Spionin!« verteidigte sich Nesthäkchen.

»Na ja – ist ja auch möglich«, ganz geheilt war Klaus noch immer nicht von seiner Spionenkrankheit. »Gerade wenn ihr Onkel bei der Regierung ist, hat sie ja die beste Gelegenheit zum Spionieren.«

»Die kann lange warten, bis ich sie besuche, und wenn sie zehnmal so fein wohnt. Paß mal auf, wie die Polnische die gute Gelegenheit wahrnehmen wird, sich zu rächen und mich in der Klasse zu verklatschen, daß ich in Hosen rumgelaufen bin. Durch die dumme Vera habe ich jetzt gar keine Lust mehr, noch weiter mit zu sammeln. Ich werde wohl auch nach Hause müssen, es wird bald vier sein«, meinte Annemarie, auf die Straße tretend.

»Ja, Pustekohl! Morgen früh ist’s wieder vier! Jetzt schlägt es gerade fünf«, Klaus wies auf die Turmuhr, von der fünf Schläge durch die Luft zitterten.

»Allmächtige Schokolade – da wartet die Großmama schon – ich muß schleunigst nach Haus – auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, Karlchen!« erklang es dreistimmig hinter dem davonjagenden Nesthäkchen her.

Annemarie hätte nicht zu hetzen brauchen. Obgleich es schon fünf Uhr war, hatte Großmama noch gar nicht mal gemerkt, daß Annemarie fehlte. Sie dachte nicht daran, nach dem Kaffee zu klingeln, trotzdem es längst Kaffeezeit war.

Unbeweglich saß die alte Dame und starrte auf das vor kurzem angekommene Schreiben in ihrer Hand. Es stammte von ihrer Tochter aus England.

»Lieber Gott, wie sage ich das bloß den Kindern!« Großmama seufzte, als läge ihr eine Zentnerlast auf der Brust.

Da hörte sie auch schon die helle Stimme Nesthäkchens durch das Haus schallen, und wenige Minuten später trat Annemarie, wieder in Mädchenkleidern, ins Zimmer.

»Bitte, sei nicht böse, Großmuttchen«, begann sie, ein wenig scheu auf die Großmama blickend, die gar nicht von ihr Notiz zu nehmen schien. War sie so ärgerlich über ihr Ausbleiben?

Da gewahrte Annemarie plötzlich den Brief in Großmamas Hand.

»Ein Brief von Mutti? Hurra! Wann kommt Mutti – kommt sie bald?« erwartungsvoll hingen der Kleinen Augen an dem Brief.

Wie schwer war es, das arme Kind zu enttäuschen!

»Mutti wird sobald nicht kommen können«, begann die Großmama, nach Worten suchend. Selbst das unerfahrene Nesthäkchen merkte, daß da was nicht in Ordnung war. »Sie ist wegen einer unvorsichtigen Äußerung festgenommen worden.« Nun war es heraus.

Nesthäkchens Blauaugen sahen die Großmama ungläubig an.

»Fest – festgenommen – wer hat meine Mutti festgenommen – weshalb denn bloß?« Annemaries noch eben so freudig pochendes junges Herz schien plötzlich vor Schreck still zu stehen.

»Die Engländer, Herzchen – Mutti hat sich über den Erfolg unserer Unterseeboote begeistert geäußert. Das ist von irgend jemand gehört worden, man hat sie angezeigt und als Spionin verhaftet – –«

»Als Spionin – meine Mutti als Spionin!« Nesthäkchen schrie es mit ungestümer Heftigkeit. Und dann brach es in eine Flut von Tränen aus.

»Still, Herzchen, ruhig – reg’ dich nicht so auf, mein Liebling«, tröstete Großmama mit matter Stimme, trotzdem sie selbst des Zuspruchs bedurfte. »Es muß sich ja herausstellen, daß es ein grundloser Verdacht ist, dann wird sie wieder frei gelassen. Weine doch bloß nicht so, mein Kleines«, dabei rollten Großmama selbst die Tränen aus den alten Augen.

Aber Annemarie hörte nicht auf zu schluchzen.

Ihre über alles geliebte Mutti im Gefängnis – als Spionin … ein Gedanke durchzuckte plötzlich Annemarie. Wie … war sie etwa selbst schuld daran, wollte der liebe Gott sie dafür strafen, daß sie Vera als Spionin verdächtigt hatte … Wollte er ihr zeigen, wie weh solcher Verdacht tat … Immer heißer flossen Nesthäkchens Tränen.

Als Klaus nach Hause kam und nichtsahnend durch die Wohnung schmetterte: »Karlchen, wo steckst du?« da war es Annemarie zumute, als seien Wochen vergangen, seit sie als »Karlchen« so lustig den Wollwagen gezogen hatte, und nicht wenige Stunden.

»Au weh – so doll hat es was abgesetzt?« fragte der Bruder, mit drollig hochgezogenen Augenbrauen auf das verweinte Schwesterchen blickend.

»Nee – Mutti – meine Mutti – – –« mehr brachte die arme Kleine nicht heraus.

Wieder mußte Großmama sich die Worte von den Lippen ringen.

Klaus schrie und weinte nicht, wie es Annemarie getan. Er ballte die Hände zu Fäusten, als wolle er gegen einen unsichtbaren Feind los, und »Gott strafe England!«, das war das einzige, was er vorläufig in ohnmächtiger Empörung wild herausstieß.

Dann saßen die beiden Geschwister, die noch vor kurzem so ausgelassen gewesen, ganz zerschmettert und studierten gemeinsam den Brief der Mutter.

Nur wenige Zeilen waren es:

»Meine Geliebten alle daheim! Ich muß Euch heute Schmerz zufügen, und das tut mir noch weher, als es Euch tun wird. Ich befinde mich nicht mehr bei den Verwandten. Meiner Begeisterung über die Erfolge unserer Unterseeboote habe ich unvorsichtigerweise gegen Kusine Annchen allzu laut Ausdruck gegeben. Diese Äußerung ist von anderen gehört und wohl entstellt zur Anzeige gebracht worden. Die Folge davon war meine Festnahme als mutmaßliche Spionin. Es geht mir hier verhältnismäßig nicht schlecht. Ich hoffe zu Gott, daß meine Unschuld sich in allernächster Zeit herausstellen muß und ich wieder frei gelassen werde.«

»Wenn sie die Mutti man bloß nicht als Spionin erschießen«, unterbrach hier Klaus, Entsetzen in den sonst so übermütigen braunen Augen, das gemeinsame Lesen.

»Klaus – – –«, gellend schrie es Nesthäkchen. Dann verhüllte eine mitleidige Ohnmacht dem armen Kind die furchtbaren Gedanken.

Als Annemarie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Zur Seite desselben saß die liebe Großmama mit sorgenvollem Gesicht. Fräulein ging ab und zu und legte kalte Umschläge auf die Stirn des kleinen Mädchens.

»Großmama, ich habe so furchtbar geträumt, oder – – – ist es wahr, Großmama … sag’ doch, bitte, bitte, sag’ doch, daß es nicht wahr ist – – –« angstvoll klammerte sich Annemarie an Großmamas Hand.

»Es ist leider die Wahrheit, mein Liebling. Aber was Klaus gesagt hat, das ist dummes Zeug. Auf einen bloßen Verdacht hin wird keiner abgeurteilt. Onkel John wird schon dafür sorgen, daß sie Mutti bald wieder freilassen.«

»Ja, meinst du wirklich, Großmuttchen?« wie erlöst schloß Nesthäkchen wieder die Augen. Tiefe Abspannung folgte aus die furchtbare Aufregung.

Ganz so zuversichtlich, wie Großmamas Worte zur Beruhigung des Kindes geklungen, empfand die alte Dame in ihrem Herzen nicht. Das englische Volk war erbittert über erhebliche Schiffsverluste durch die Unterseeboote, über den nächtlichen, bombengefährlichen Besuch der Flieger und Zeppeline. In den großen Städten war es zu Ausschreitungen der Bevölkerung gegen deutsche Firmen und Familien gekommen. Konnte Feindseligkeit und Gehässigkeit nicht auch harmlose Äußerungen ihrer Tochter so entstellen, daß eine genügende Belastung vorlag …

»Lieber Gott, da oben, erbarme du dich!« aus angstvollem Mutterherzen stieg in tiefer Seelennot ein heißes Flehen zu dem empor, der die Geschicke der Völker und Menschen lenkt.

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)

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