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18. Kapitel
Butterpolonäse

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Inhaltsverzeichnis

Der Aushungerungsplan Englands durch Absperrung der Lebensmittelzufuhr begann sich allmählich in Deutschland fühlbar zu machen. Die Lebensmittel, besonders die Fette, wurden knapp. Aber trotz alledem durften die Engländer ihren schändlichen Plan, Deutschland durch Aushungerung zu einem schmählichen Frieden zu zwingen, nicht verwirklichen. Das deutsche Volk hielt durch, selbst wenn die Butter ganz vom Brot verschwand, selbst wenn statt der zwei fleischlosen Tage in der Woche deren sieben eingeführt werden sollten.

Wie draußen an der Front die Männer, so standen daheim die Frauen und Kinder tapfer und opferfreudig im Kampf gegen jederlei Entbehrungen, alle von demselben Willen beseelt: »Wir müssen siegen!«

Dank glänzender Einteilung und sparsamer Fürsorge der Regierung wurde mit den Vorräten weise hausgehalten, daß Deutschland auf Jahre hinaus versorgt war. Da gab es Brot-und Mehlkarten, Eier-, Butter-, Zucker-und Fleischkarten, Kartoffel-und Milchkarten, ja selbst solche für Seife.

Jetzt galt es, auch seine Gedanken bei jedem Einkauf zusammenzuhalten, und das wurde nicht jedem leicht.

Doktors Nesthäkchen, das mit seinen Gedanken oft ganz wo anders weilte, als wo sich seine kleine Person gerade befand, wußte bald ein Lied davon zu singen.

Annemarie holte für ihr Leben gern ein. Und galt es gar, der lieben Großmama einen Weg abzunehmen, dann war Nesthäkchen doppelt schnell bereit. Früher machte es der alten Dame Spaß, selbst einige Besorgungen zu übernehmen. Aber seitdem die Lebensmittel auf Karten ausgegeben wurden, war das für Großmama viel zu anstrengend. Sie konnte sich unmöglich in der Menge drängen und lange stehen, bis sie an der Reihe war. Einmal war die alte Dame selbst gegangen und nie wieder. Als sie nach langem Warten glücklich bedient werden sollte, hatte sie statt der Zuckerkarte die Milchkarte aus der Tasche gezogen, und als sie schnell den Schaden gut machen wollte, erschienen Fleischkarte und Kartoffelkarte auf der Bildfläche. Nun mußte erst die Brille herausgeholt werden, was bei alten Leuten immer etwas umständlich zu sein pflegt. Die andern Käufer, die sich in Scharen drängten, waren ärgerlich, daß sie solange aufgehalten wurden, und auch die Verkäuferin verlor die Geduld und die ihr zukommende Höflichkeit. Nein – nie wieder ging die Großmama jetzt einkaufen.

Meistens fiel Fräulein diese Aufgabe zu, da Hanne mit der Wirtschaft reichlich zu tun hatte. Aber während der Sprechstunden konnte Fräulein schlecht fort. Es kamen immer noch Patienten, die nicht wußten, daß Doktor Braun im Felde war, und die seinem Vertreter überwiesen werden mußten. Das verstand Fräulein am besten.

Da ward öfters Nesthäkchen das Ehrenamt, für die »Lebensmittelzufuhr« des Braunschen Hauses zu sorgen. Annemarie entledigte sich dieser Aufgabe mit viel Geschick. Es kam ihr gar nicht darauf an, stundenlang vor einem Geschäft zu stehen. Nur schade war’s, daß sie trotz des geduldigen Wartens ohne das Gewünschte heimkehrte. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil das vergeßliche kleine Fräulein die zum Kauf berechtigende Karte auf dem Kinderstubentisch hatte liegen lassen.

Viel Spaß machte es den Kindern, die den Ernst der Zeit nicht durchschauten, zur sogenannten »Butterpolonäse« anzutreten. Da standen die Leute zu vieren aufgestellt, oft von einer Straßenecke bis zur andern, viele Stunden um ein Viertelpfund, oder wenn’s hoch kam, ein halbes Pfund Butter. Aber manchmal geschah’s auch, daß die Butter, nachdem man Gott weiß wie lange gestanden und bei der Winterkälte fast erstarrte, ausverkauft war.

Trotz aller dieser Schwierigkeiten und Opfer erlahmte der Wille zum »Durchhalten« im deutschen Volke nicht.

Großmama wollte nicht erlauben, daß Nesthäkchen sich in Sturm und Regen durch das lange Stehen einer Erkältung aussetzte. Klaus durfte schon eher der Witterung trotzen, das war ein kräftiger Junge. Denn weder Hanne noch Fräulein konnten solange von Hause fortbleiben.

Aber leider hatte Klaus nicht viel Geduld. Nicht nur, daß er drängelte und sich dadurch bei den Umstehenden unbeliebt machte, er hatte es sogar mal gewagt, anstatt ganz hinten anzutreten, wie es sich gehörte, sich gleich in die ersten Reihen hineinzumogeln. Das war ihm aber schlecht bekommen. Der Polizist, der stets die Ordnung bei der Butterpolonäse aufrecht erhielt, zog ihn am Ohr hervor, und er durfte sich überhaupt nicht wieder mit anstellen. Seitdem war er nicht mehr zum Butterladen zu kriegen; lieber futterte er Marmeladenstullen mit Käse oder Wurst belegt.

Gewiß, die Jugend konnte sich behelfen. Großmama aber sollte nicht um ihr Butterbrötchen kommen. Dafür sorgte Nesthäkchen getreulich. Nach Tisch, wenn Großmama ihr Nachmittagsschläfchen hielt, machte sich Annemarie mit warmen Überschuhen, mit Pelzkäppchen und Muff, wie zu einer Nordpolfahrt ausgerüstet, auf den Buttereinkauf. Oft verabredete sie sich dazu mit Margot und Vera. In Gesellschaft der Freundinnen war das Warten nur halb so schlimm.

»Also Punkt halb vier am Savignyplatz zur Butterpolonäse!« rief Annemarie den Freundinnen heute beim Abschied nach der Schule wieder zu.

Es war ein tolles Schneewetter. In wildem Tanz wirbelte der Sturm die Silberflocken zur Erde herab, man konnte kaum die Augen aufhalten. Wie die Schneemänner sahen die Leute auf den Straßen aus.

Und trotzdem wand sich bereits eine lange, lange Menschenschlange an den Häusern entlang, als Doktors Nesthäkchen, den Blondkopf weiß überpudert, vor dem großen Buttergeschäft an der Ecke erschien. Der Verkauf begann eben erst. Dabei standen die Leute schon seit Mittag um zwölf, um nur ganz bestimmt noch etwas Butter zu erhalten. Manche hatten sich Stühlchen mitgebracht und ließen sich darauf nieder. Hier und da strickte eine fleißige Frau für den fernen Mann oder Sohn an dem feldgrauen Strumpf, soweit sie es mit ihren klammen Fingern vermochte.

Vergeblich spähte Annemarie in dem Schneegetriebe nach Vera aus. Ob die am Ende des schlechten Wetters wegen nicht kommen durfte? Margot hatte bereits aus demselben Grunde abgesagt. Auch Fräulein wollte Annemarie durchaus nicht fortlassen. Aber die hatte lachend behauptet, sie sei nicht aus Zucker, daß so ein bißchen Schnee sie gleich aufweichen würde. Sie hatte sich doch an der Nordsee gründlich gegen jede Witterung abgehärtet. Und Großmama hatte schon zum Frühstück keine Butter gehabt, da wollte Annemarie sie abends damit überraschen.

Nein, Vera kam sicher nicht mehr. Annemarie mußte sich jetzt auch unbedingt anstellen, denn von Minute zu Minute wuchs die Schlange. So lang war sie noch nie gewesen. Auf zwei bis drei Stunden Wartens konnte sich Nesthäkchen gefaßt machen.

Aber diese Aussicht schreckte Annemarie nicht. Es ging ganz gemütlich bei den Butterpolonäsen zu. Sie waren ja alle Leidensgefährten, die da standen, das verband sie miteinander. Und da man sonst nichts zu tun hatte, verkürzte man sich die Zeit durch Unterhaltungen über die Kriegs-und wirtschaftliche Lage. Die Frauen tauschten Kochrezepte aus, bei denen keine Fette notwendig waren, oder lasen sogar Feldpostbriefe ihrer Angehörigen vor. Nein, Annemarie fand es immer sehr ulkig bei der Butterpolonäse.

Heute aber wurde die Geschichte nach und nach etwas ungemütlich. Det seine Schnee, der Nesthäkchen zuerst Spaß gemacht, drang allmählich mit seiner Nässe durch die Sachen und machte einen frösteln. Trotz der Überschuhe und trotzdem Annemarie, soweit es bei der Enge möglich war, von einem Fuß auf den andern sprang, wurden ihr die Füße allmählich ganz steif.

»Ach wat, in ’n Schützenjraben bei so’n Wetter zu liejen, is ooch jrade keen Verjnijen nich, und lieber laß ich mir die Schneeflocken um de Näse sausen als de Kugeln«, meinte die Grünkramfrau von nebenan, die in ihrer ganzen stattlichen Breite sich neben Annemarie aufgepflanzt hatte.

Da lachten sie alle und empfanden nicht mehr die Unbill der Witterung. Wenigstens für eine Weile.

Unmerklich nur schob sich die Menschenschlange vorwärts. Annemarie benutzte die gute Gelegenheit, sich inzwischen das Gedicht, das sie morgen für die deutsche Stunde zu lernen hatte, einzuprägen. Es war Schillers »Glocke«.

Wenn die Leute nur nicht in einem fort um sie herum geschwatzt hätten, dann wäre es ganz gut mit dem Lernen gegangen.

»Kocht des Kupfers Brei,

Schnell das Zinn herbei –«

deklamierte Annemarie im Geiste.

»Nee, Frau Schulzen, wenn et kocht, ’n bißken Eiersatz zu, und des sieht Ihn’ denn aus, als ob es mit mindestens drei Jelbeiern abjezogen is«, klang es in Schillers Verse hinein.

»Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang.«

»So lang ist die Reih’ noch nich jewesen wie heute«, ließ sich wieder jemand vernehmen. Da wußte Annemarie nicht mehr, ob es Reu’ oder Reih’ hieß.

»Der Mann muß hinaus

Ins feindliche Leben – – –«

»Jawoll, der muß hier raus, der hat hier nich jestanden, hinten wird anjetreten – –« ein Wortwechsel entspann sich, der so interessant war, daß Nesthäkchen ihr Lernen unterbrach.

»Jotte doch, nu fängt’s ooch noch an zu rejnen – –«

»Aus der Wolke quillt der Segen,

Strömt der Regen« –

wiederholte Annemarie im Geiste.

»Neulich bin ich das reine Eisbein vorm Buttergeschäft geworden, und wie ich denn ran war, ja Prost Mahlzeit – da war die Butter alle«, tönte es von links.

»Leergebrannt ist die Stätte«

murmelte Nesthäkchen vor sich hin.

»Holder Friede, süße Eintracht,

Weilet, weilet freundlich über dieser Stadt!«

»Was meinen Sie, ob es auch noch mit Amerika Krieg gibt?«

Nein, es war wirklich nicht möglich, bei dem Radau zu lernen, sie gab es auf.

»Männe, gut, daß du mir ablösen kommst, nu werd’ ich meinen inwendigen Menschen mal mit ’n Troppen heißen Kaffee aufwärmen jehn«, die dicke Grünkramfrau verschwand aus der Reihe, und ihr rothaariger Sprößling nahm statt ihrer den Platz ein.

Ach, hätte Annemarie doch auch bloß daran gedacht, sich von Klaus ablösen zu lassen. Wie gern hätte sie sich auch ein wenig aufgewärmt. Denn jetzt wurde es empfindlich kalt. Die dicke Nachbarin hatte mit ihrer breiten Gestalt den Wind abgefangen, aber Männe war dünn und gab keinen Schutz.

Na, nun war man ja schon bald an der Tür. Noch ein Weilchen – dann stand Nesthäkchen stolz in der ersten Reihe und spürte vor lauter Erwartung die Kälte nicht mehr. Der Polizist zählte die Reihen ab – so, nun war man endlich drin.

Hurra – ein halbes Pfund Butter bekam sie – hätte das verwöhnte kleine Fräulein jemals gedacht, daß es darüber solche Freude empfinden könnte? Ja, man lernte im Kriege erst alles richtig schätzen.

Ihr halbes Pfund Butter fest gegen das Herz gepreßt, eilte Annemarie aus dem Laden. Vorbei an den mit neidischen Augen noch immer Wartenden. Jetzt sollte der Kaffee aber zu Hause im molligen Zimmer schmecken!

Da hörte sie eine zittrige Stimme: »Ach Gott, ich kann ja nicht mehr stehen – ich glaube, ich werde ohnmächtig.« Es war ein alter Mann mit langem, weißem Bart, der sich kaum noch auf den Füßen hielt.

»Gehen Sie doch nach Haus – das stundenlange Warten bei solchem Wetter ist auch nichts für alte Leute« – rief es hier und da.

»Ich selbst würde ja gern auf die Butter verzichten, aber mein Enkelchen war sehr krank, der Arzt sagt, es muß gut ernährt werden, wenn wir’s am Leben erhalten wollen«, hörte Annemarie, die neugierig stehen geblieben war, den Greis mit matter Stimme sagen.

Nesthäkchen schwankte – das war ein Großvater, der für sein Enkelchen im Sturm und Schnee stundenlang stand. Wenn Großmama so frieren müßte – da war der Kampf in Nesthäkchens Innern entschieden.

»Hier, bitte,« sagte sie mit der ihr eigenen Freundlichkeit, »bitte, nehmen Sie meine Butter und gehen Sie nach Haus. Ich bin jung, ich kann schon noch ein halbes Stündchen länger in der Kälte stehen.«

»Dank – tausend Dank – du bist ein braves Kind – Gott wird dir deine gute Tat lohnen«, innig erfreut griff der Greis nach Annemaries Butter und gab ihr das Geld dafür. Unter dem beifälligen Gemurmel der Umstehenden nahm Annemarie den Platz des alten Mannes ein.

Merkwürdig, sie empfand jetzt Kälte, Schnee und Regen viel weniger. Das Gefühl, ein gutes Werk getan zu haben, machte sie von innen heraus warm.

An der Menschenschlange schob sich suchend ein Haulemännchen, die Kapuze der Lodenpelerine fast bis aus die Nase gezogen, entlang.

»Annemarie«, rief es aus der Kapuze heraus. Das Haulemännchen machte an Nesthäkchens Reihe halt. »Annemarie, du sollst gleich nach Haus kommen, deine Großmutter sorgt sich um dich. Ich will dich ablösen.«

»Nein, Trude, du hast doch erst das kranke Bein gehabt, du kannst nicht solange stehen – ich danke dir schön«, lehnte Annemarie ab.

»Ach, mein Bein ist längst wieder heil, davon merke ich nicht die Spur mehr – geh’ nur nach Haus!«

»Aber ich bin viel wärmer angezogen als du, du wirst frieren!« meinte Annemarie immer noch zögernd.

Trude lachte sie aus.

»Da hab’ ich früher anders frieren müssen. Und die armen Kinder in unserm Haus, die jetzt schon mitten in der Nacht vor den städtischen Fleischverkaufsstellen antreten, haben auch mehr Kälte auszuhalten.«

Trotzdem drängte Annemarie der Trude noch ihre Überschuhe und ihre Muffe auf, dann sprang sie, so schnell die erstarrten Füße sie trugen, niesend nach Haus.

Hatschi – hatschi – Annemarie mußte lachen. Der Lohn für ihre gute Tat würde sicherlich in einem tüchtigen Schnupfen bestehen. Es war ja auch gar nicht nötig, daß der liebe Gott sie noch belohnte. Das Bewußtsein, dem alten Mann geholfen zu haben, war schon Lohn genug.

Aber als Nesthäkchen heimkam, als Fräulein ihm ausgewärmte Strümpfe und warme Schuhe hingesetzt und Hanne dampfenden Kakao gebracht, da legte Großmama mit frohen Augen vor das liebe, böse Kind, das für sie im Schneesturm stundenlang gestanden, einen Brief aus überseeischem Papier.

»Von Mutti – von meiner Mutti – endlich!« jubelte Nesthäkchen los und küßte die feinen Schriftzüge, die sie monatelang nicht gesehen.

Doch als Annemarie las, daß die Mutter ganz fest hoffe, nun endlich bald die Erlaubnis zur Heimkehr zu erhalten, da verstummte der laute Jubel. Denn die höchste Freude äußert sich nicht lärmend, die bleibt still. Fest schmiegte Nesthäkchen den Kopf im Überschwang des Glückes an Großmamas Brust.

Ob der liebe Gott nicht doch jede Guttat lohnte?

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