Читать книгу Werthers Leiden - Emil Horowitz - Страница 12
26. Mai
ОглавлениеMeine Neigung, mich an einem beschaulichen Ort in einer bescheidenen Hütte niederzulassen, und da unter einfachsten Verhältnissen zu hausen, kennst du ja von früher. Auch hier habe ich ein Plätzchen ausgekundschaftet, das mich fasziniert.
Etwa eine Stunde von der Stadt entfernt liegt Wahlheim, ein Ort in interessanter Lage auf einem Hügel. Wenn man oben auf dem Fußpfad aus dem Ort herausgeht, hat man den Rundblick über das gesamte Tal. Es gibt eine tüchtige Wirtin, für ihr Alter recht freundlich und lebhaft, die Wein, Bier und Kaffee ausschenkt. Aber das Schönste sind zwei Linden, die mit ihren weit ausladenden Ästen den Platz vor der Kirche überwölben. Rings um den Platz sieht man Bauernhäuser, Scheunen und Höfe. Das ist ein Platz, so idyllisch und heimelig, wie ich schon lange keinen mehr angetroffen habe. Hierhin lasse ich mir von der Wirtin ein Tischchen und einen Stuhl bringen, trinke da meinen Kaffee und lese in meinem Homer.
Meine erste Begegnung mit dem kleinen Paradies unter den Linden an einem sonnigen Nachmittag war von einem Gefühl der Einsamkeit geprägt. Alle Anwohner waren auf dem Feld, nur ein etwa vier Jahre alter Junge saß auf der Erde und drückte ein anderes, ungefähr halbjähriges Kind mit beiden Armen an seine Brust, so dass es wie in einem Sessel auf dem Schoß des Jungen saß. Ganz ruhig saß er da, aber aus seinen herumblickenden Augen sprühte er vor Heiterkeit. Der Anblick bereitete mir Vergnügen. Ich setzte mich gegenüber auf einen Pflug, und zeichnete gut gelaunt das niedliche Geschwisterpaar. Ich fügte den nahe stehenden Zaun zu, außerdem ein Scheunentor und einige gebrochene Wagenräder, alles in der Anordnung, wie ich es vorfand. Nach einer Stunde Arbeit hatte ich den Eindruck, dass mir eine gut strukturierte und interessante Zeichnung gelungen war, ohne dass ich irgend etwas aus meiner eigenen Phantasie zugefügt hatte. Das bestärkte mich in meinem Vorsatz, mir künftig ausschließlich Naturmotive vorzunehmen, denn nur die Natur verfügt über unerschöpflichen Reichtum, und nur sie kann große Künstler heranbilden.
Es spricht einiges für die Beachtung dieser Regeln, in etwa wie bei der Würdigung der bürgerlichen Gesellschaft: Jemand, der sich nach diesen Regeln bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes oder Schlechtes hervorbringen, ganz so wie einer, der sich unter dem Einfluss von Gesetzen und Wohlstand entwickelt, nie ein unerträglicher Nachbar oder ein finsterer Bösewicht werden kann. Ganz anders die Regel, dass man reden darf, was immer man will. Diese Einstellung wird das wahre Gefühl von Natur und deren Ausdrucksmöglichkeiten zerstören! Jetzt sagst du vielleicht: „Das ist zu hart! Freie Rede wirkt nur regulierend, beschneidet die verwilderten Reben, etc.“
Soll ich dir eine Analogie dazu geben, alter Freund? Es ist wie in der Liebe: Ein junger Mann widmet sich ganz und gar seinem Mädchen, verbringt alle Stunden des Tages mit ihr, opfert ihr seine gesamten Kräfte und sein gesamtes Vermögen, um ihr so seine uneingeschränkte Hingabe zu beweisen. Und dann kommt irgendeine Krämerseele, ein Philister, vielleicht ein Mann, der im öffentliche Dienst steht, und sagt zu ihm: „Mein Herr, lieben ist menschlich, also müssen Sie auch menschlich lieben! Teilen Sie Ihre Zeit ein: dieser Teil zur Arbeit, dieser zur Erholung. Die Erholungszeit können Sie Ihrem Mädchen widmen. Machen Sie eine Aufstellung Ihres Vermögens. Aus den Überschüssen können Sie ein Geschenk kaufen, da habe ich nichts dagegen. Aber nicht zu oft – zum Geburtstag, Namenstag oder ähnlichem. Wenn Sie diese Grundsätze befolgen, kann ein brauchbarer Mensch aus Ihnen werden, den ich in höchste Ämter empfehlen kann. Das Thema Liebe ist dann natürlich erledigt, und – im Falle eines Künstlers – auch die Kunst.
Geschätzte Freunde, ihr fragt euch, warum der Strom des Genies so selten ausbricht, um als Springflut über euren staunenden Seelen zusammenzuschlagen? Vertraut ganz auf die gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers, deren Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder von einer solchen Flut zugrunde gehen würden, und die daher rechtzeitig Dämme und Ableitungen gegen die drohende Gefahr errichten.“