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Vorwort des Bearbeiters
ОглавлениеRückblickend kann ich nicht mehr nachvollziehen, wie ich auf die Idee kam, Die Leiden des jungen Werthers in heutige Sprache zu übertragen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung kannte ich den Werther noch gar nicht, hatte ihn nie gelesen. Ich denke, es war wohl das lockende Versprechen der Literaturströmung Sturm und Drang, das mich unwiderstehlich anzog. Sturm und Drang – es klingt, als lägen darin Botschaften an unsere Zeit vorborgen.
Das kommt nicht von ungefähr. Die Kultur der Selbstdarbietung, wie wir sie seit dem Aufkommen der Netzkultur beobachten, hat eine berühmte Entsprechung in der Vergangenheit, eben in der aus der Aufklärung hervorgegangenen Strömung des Sturm und Drang mit ihrem Modell des Originalgenies.
Sturm und Drang birgt aus heutiger Sicht eine verblüffende Aktualität in sich. In der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts wendete sich das Persönlichkeitsideal der jungen Generation gegen Autorität und Tradition und hin zur Betonung überbordender Emotionen, ein Gefühlsuniversum, in dem Tränen noch nicht für Schwäche und Verweichlichung standen.
Die jungen Wilden setzten auf die Selbständigkeit des Originalgenies, das sein Erleben und seine Erfahrungen in eine individuelle künstlerische Form brachte und mit den Regeln der traditionellen Poetik sehr frei umging. Nicht anders verfahren heute Blogger und YouTuber.
Die Literatur des Sturm und Drang hätte uns heute viel zu sagen – wenn es die Sprachbarriere nicht gäbe. Der heute gültige pädagogische Ansatz, jungen (und älteren) Menschen die Texte in alter, ungewohnter Sprache zu erschließen, entspricht nicht unbedingt der literarischen Intention des Dichters. Die Autoren des Sturm und Drang, von Friedrich Schiller über Gottfried August Bürger bis Johann Wolfgang Goethe bedienten sich der aktuellen Sprache ihrer Zeit, die ihre Leserschaft direkt in deren Gegenwart abholte. Von den Lesern heute zu verlangen, sich in patinierte, nicht mehr gebräuchliche Sprache einzufühlen, ist ein kontraproduktiver Gedanke, wenn es um die Vermittlung der Inhalte, der Geisteswelt und der Gefühle des Sturm und Drang geht.
Das also ist der grundlegende Ansatz, der mich zu dieser Bearbeitung veranlasst hat. Aber es gibt noch eine Ebene darüber – oder darunter. Während meiner Arbeit wurde mir klar, dass es der tragische Held selbst war, der mich anzog, sogar schon, als ich nur oberflächliche, lückenhafte Informationen über seine Welt und sein Schicksal hatte. Während des Schreibens erkannte ich, worum es mir wirklich ging: die erstaunliche, nein, erschreckende Erkenntnis darüber, wie viel Werther in mir ist. Werther, eine Kerze, die an beiden Enden brennt, doppelt so hell, halb so lang. Werther, ein Mann, der nach und nach erkennen muss, dass er mit der Welt und ihrem Wirken nicht kompatibel ist. So ging es früher auch mir – öfter, als mir lieb war. Inzwischen habe ich erkannt, dass ich selbst es bin, der meine Welt passend oder unpassend macht. Ich selbst – keine höhere Macht, kein unwägbares Schicksal. Ich habe die Alternative, die Werther nie hatte.
Emil Horowitz