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Svala belauscht ein Gespräch

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»Dein Typ wird verlangt.« Svala stieß ihre schwarzhaarige Tischnachbarin in die Seite und zeigte auf den roten Volvo, der vor dem Café Kafka anhielt. Durch das hell erleuchtete Schaufenster sahen sie Filippas Mutter auffordernd winken. Seufzend zog sich Filippa die schwarze Baskenmütze über ihr kurz geschnittenes Haar und schnappte ihre Tasche.

»Mensch, Svala, sei bloß froh, dass dich deine Eltern nicht so überwachen. Bei uns ist Essenszeit. Wir sehen uns morgen, ja?«

Es war früher Abend und relativ ruhig im Café, der größte Trubel war schon abgeflaut. Seit Stunden hatte Svala immer wieder sehnsüchtige Blicke auf die Schafskäse-Baguettes geworfen. Wie üblich hatte Filippa vorhin munter an der Theke ihre Bestellung aufgegeben und hätte sie auch eingeladen, aber Svala hatte nur den Kopf geschüttelt. Sie fand es demütigend, dass sie ständig pleite war und sich immer von den anderen durchfüttern lassen musste. Svala gab sich alle Mühe, dass niemand merkte, wie kläglich die Münzen in ihren Taschen klimperten. Papa hatte sich seit Wochen nicht gemeldet und auch nichts auf ihr Konto eingezahlt.

Alle ihre Freundinnen saßen jetzt zu Hause beim Abendessen.

Von ihrem Lieblingsplatz aus, dem durchgesessenen Samtsofa in der hintersten Ecke, ließ Svala ihre Augen durchs Café wandern, entdeckte aber nur Leute, die sie kaum kannte. Stammgäste verschmähten die Tische vorne im Schaufenster. Dort saßen eher Gäste von außerhalb, die sich cool vorkamen, wenn sie über den anderen thronten und die Blicke auf sich zogen.

Ein heftiger Wortwechsel ließ Svala aufhorchen. Ein Pärchen im Fenster stritt sich über Bands.

»Als ob Dennis von Refused in Lederschuhen herumrennen würde! Das glaub ich einfach nicht!«, schimpfte der Typ.

Hundertprozentig Veganer, dachte Svala. Das sieht man schon an den Klamotten.

»Eine Bekannte von mir hat ihn gesehen. Angeblich hat er eben doch Lederschuhe getragen, und wenn sie recht hat, ist er ein Verräter!«

Refused hieß die Band, die Oskar immer auflegte, wenn er zu ihr und Pétur kam. Svala verkroch sich mit angezogenen Knien in ihre Sofaecke, als wäre sie ganz in Gedanken versunken, während sie in Wahrheit aufmerksam die Unterhaltung verfolgte. Erst als das Gespräch auf andere Hardcore-Bands kam, verlor sie das Interesse. Sie drehte sich um und entdeckte Sebastian an einem Tisch weiter hinten.

Aus den Augenwinkeln linste Svala zu ihm hinüber. Am Anfang hatten sie nicht gewusst, wie er hieß, und hatten ihn Nagel genannt wegen seines auffälligen Kinnpiercings. Svalas Freundinnen hatten beim Anblick seiner schwarzen toupierten Haare verzückt geseufzt. »Der ist ja soooo süß!«, fanden sie.

Nachdem Svala ihn eine Weile in Augenschein genommen hatte, hatte sie entschieden, dass er nicht ihr Fall war. Für ihren Geschmack war er viel zu selbstbewusst.

Filippa hatte schon recht, es war super, allein über sein Leben zu entscheiden. Trotzdem wünschte sich Svala manchmal, ihre Eltern würden hupend vor dem Café anhalten und sie abholen, so wie früher.

Sie hatte zwar noch ihren großen Bruder Pétur, aber das war nicht dasselbe.

»Ich bin nicht dein Vater und hab auch keinen Bock auf die Rolle«, hatte Pétur von Anfang an klargestellt.

Als ihre Mutter nach der Scheidung zurück nach Island gegangen war, hatten weder Svala noch Pétur mitkommen wollen.

»Okay, ich fahr probehalber für ein Jahr in meine Heimat und teste es aus. Vielleicht krieg ich ja Sehnsucht nach Schweden«, hatte Aisa gesagt. »Oder ihr überlegt es euch anders und kommt nach.«

»Glaub ich nicht.«

Pétur und Svala hatten beide den Kopf geschüttelt. Mama war auf der Suche nach ihren Wurzeln. Das hieß im Klartext, sie hatte ihren Job als Kunstlehrerin an den Nagel gehängt, um auf Island zu malen. Zu Hause sprachen sie nie isländisch miteinander und in den letzten Jahren waren sie nur gelegentlich zu Besuch dort gewesen. Island war nicht ihre Heimat. Obwohl Svala fand, dass manche typisch isländischen Vorstellungen gut zu ihr passten. Zum Beispiel, dass sich nicht alles mit Vernunft erklären ließ. Oder dass unsichtbare Wesen wie Elfen und Trolle existierten. Irgendwie hatte sich Svala schon immer nach einer Welt gesehnt, die man nur mit besonderer Einfühlungskraft erfahren konnte. Aber weil sie nicht als Hexenschwaflerin abgestempelt werden wollte, redete sie lieber nicht darüber.

»Außerdem kümmert sich euer Vater um euch«, hatte Aisa zu Svala und Pétur gesagt, als sie hier in Stockholm bleiben wollten.

Dabei konnte Mama das gar nicht wissen. Seit der Scheidung sprachen Papa und sie nämlich kein Wort mehr miteinander.

Deshalb hatte sie auch keine Ahnung davon, dass Papa neuerdings als Brummifahrer Hilfstransporte in den Kosovo brachte. Sein Job als Sachbearbeiter bei der Schulbehörde hing ihm zum Hals heraus. Wer konnte es ihm verdenken?! Svala fand, dass Papa von Jahr zu Jahr eingefallener wirkte und immer blasser geworden war. Er hatte immer im Schatten von Aisa gestanden, die eine auffällige Erscheinung war.

Eines Tages hatte Papa Svala und Pétur zu einem Familienrat zusammengetrommelt.

»Ihr wisst ja, was für eine Übermutter Aisa sein kann«, hatte er gesagt. In diesem Moment wurde Svala klar, dass es für ihn um sehr viel ging. Wenn Papa sie um einen Gefallen bitten wollte, benahm er sich immer besonders kumpelhaft.

»Eigentlich könnt ihr doch allein hier im Malmgårdsvägen wohnen, schließlich seid ihr schon siebzehn und vierzehn. Herrje, in dem Alter war ich längst in der Ausbildung und hab mein eigenes Geld verdient.«

Eine Woche später war der Hilfstransport abgefahren. Seinen Anzug hatte Papa gegen eine Lederjacke eingetauscht. So glücklich wie an dem Tag hatte er ewig nicht mehr ausgesehen.

Das Café Kafka leerte sich allmählich. Svala trank ihren Tee aus und warf noch einen schmachtenden Blick auf die köstlichen Schafskäsebrote. Aber solch ein Luxus war nicht drin! Ständig im Kafka abzuhängen und Tee zu trinken riss ein ziemliches Loch in ihr Portemonnaie, doch schließlich war dies ihr Wohnzimmer. Hier erledigte sie nach Schulschluss ihre Hausaufgaben. Der Tisch in der Ecke war ihr Stammplatz, wo sie ihre Freundinnen traf.

Maggan kam zu ihr, um das Geschirr wegzuräumen und den Tisch abzuwischen. Das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr wirkte schwer und sie sah müde aus.

»Willst du gar nicht nach Hause zum Abendessen, Svala?«, fragte sie freundlich.

»Da wartet sowieso keiner auf mich«, antwortete Svala. »Ich glaub, ich hol mir noch heißes Wasser für meinen Tee, wenn das okay ist.« Mit ihrem leeren Becher ging sie zur Theke.

Maggan kam mit und schenkte ihr heißes Wasser ein. Dann steckte sie Svala augenzwinkernd eine gigantische Zimtschnecke zu.

»Hier, hau rein, wir hatten heute eine falsche Lieferung und ersticken in Kuchen.«

Svala ließ sich wieder in das abgewetzte Samtsofa sinken. Im Kafka durften die Gäste die alten Möbel kaufen, wenn sie ihnen gefielen, aber diese gemütlich eingesessene und vollgequarzte Sitzgruppe hatte bisher niemand haben wollen.

Sie sah sich um. Weiter drüben spielten ein paar Leute Schach. Am Nachbartisch saß Antoine, der aus Kuba stammte, mit seinem Freund Andor. Die beiden unterhielten sich immer auf Spanisch. Sie verbrachten genauso viel Zeit im Kafka wie Svala. Mit seinen dunklen Haaren und braunen Augen sah Antoine echt süß aus. Svala hatte mitbekommen, dass er sich in Amanda verliebt hatte, die wie Maggan hier bediente. Unentwegt verfolgte er sie mit sehnsüchtigen Blicken, wenn sie die Tabletts durch das Café balancierte und den Gäste ihre Getränke brachte. Amanda warf dann ihre langen blonden Haare zurück und lächelte ihm zu, aber nach der Schicht holte ihr Freund sie ab und Antoine verkroch sich deprimiert in seine Ecke, um ihr auf Schwedisch liebestrunkene Gedichte zu schreiben.

Plötzlich wurde die wütende Stimme des Mädchens am Fensterplatz lauter. Das Gespräch war offensichtlich bei einem neuen Thema angelangt.

Svala kauerte sich auf dem Sofa zusammen und belauschte wieder den Streit.

»Spinnst du total?«, zischte das Mädchen, die ihr Haar zu zwei kurzen Zöpfen geflochten hatte und einen grauen Strickpulli mit Kapuze trug. »Die freizulassen, schadet uns doch nur ...« Ihre Stimme wurde so leise, dass Svala kein Wort mehr mitbekam.

Ihr Begleiter trug eine Strickmütze, die er weit über die Stirn gezogen hatte, und eine braune, abgewetzte Cordjacke. Er sieht zornig aus, stellte Svala fest, als sie verstohlen zu ihnen rüberlinste, ohne sich anmerken zu lassen, wie gespannt sie zuhörte.

»Eins sag ich dir, wir haben keine Nerze auf Tynningö freigelassen. Mit der Aktion haben wir nichts zu tun. Mir ist genauso klar wie dir, dass die öffentliche Meinung jetzt gegen uns ist. Nee, das muss eine andere Gruppe gewesen sein.«

»Emilie meint, dass vielleicht die aus Nacka dahinterstecken«, sagte das Mädchen in einem leicht entschuldigenden Tonfall.

Nerze, dachte Svala. Das Kafka war ein beliebter Treffpunkt für eine Gruppe von Veganern. Sie achteten hysterisch genau darauf, was sie aßen und tranken, und man konnte ihnen ansehen, dass sie zusammengehörten. All ihre Klamotten sahen aus, als wären sie secondhand. Sie trugen Strickmützen, abgewetzte Jacken und grobe Baumwollpullis. Kein Leder, nicht einmal Wolle.

Von mir aus, dachte Svala. Hauptsache, sie kommen nicht auf die Idee, mich zu missionieren.

Vom Ende der Sechsten bis zum Anfang der Siebten war sie Vegetarierin gewesen, allerdings eher aus Protest, weil das Leben vor der Scheidung ihrer Eltern so chaotisch gewesen war. Svala hatte mitbekommen, dass zu Hause irgendwas nicht stimmte, wusste aber die Ursache nicht. Zwischen Jan und Aisa herrschte ein höflicher, aber eiskalter Umgangston.

Da ließ sich die Stimmung am besten anheizen, indem Svala das Essen verweigerte, wenn Jan wieder einmal seine notorischen Lammsteaks gebraten hatte. In solchen Momenten ließen ihre Eltern ihren Frust an Svala aus, und das war immerhin besser als das unerträgliche Schweigen.

Der Gedanke an Lammsteaks ließ Svala das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie schnappte ihren schwarzen Rucksack, stopfte ihre Baskenmütze hinein und warf sich ihr langes schwarzes Halstuch über ihre abgewetzte schwarze Lederjacke. Hoffentlich war Pétur zu Hause, damit sie gemeinsam kochen konnten.

Als Svala vom Kafka aufbrach, stritt sich das Paar am Fenster immer noch. Es ging wieder um die Nerze. Svala fand es merkwürdig, dass man verliebt sein und sich gleichzeitig dauernd streiten konnte. Sie musste an Kalle denken. Nach Weihnachten, als ihre Eltern fortgegangen waren, hatte sich Svala total nach Wärme und Nähe gesehnt. Kalle war Anarchist und versuchte Svala ständig davon zu überzeugen, dass die bürgerliche Gesellschaft längst in ihren Fugen knackte und bald zusammenbrechen würde. Am Anfang hatte Svala an seinen Lippen gehangen und fasziniert seinen feurigen Blick angeschaut, wenn er von Revolution redete. Inzwischen hatte sie allerdings bemerkt, dass seine Augen längst nicht so glühten, wenn er über sie beide sprach. Hätte sie doch bloß eine beste Freundin, mit der sie alles bereden könnte!

Wenn Svala mit Pétur wegging, kam sie sich immer vor wie das fünfte Rad am Wagen, weil er ständig mit Linda oder irgendeinem anderen Mädel auf Konzerten abhing. Einmal hatte Svala Andeutungen darüber gemacht, aber Pétur hatte nur geantwortet, wenn sie sich nach einem kuscheligen Familienleben sehne, könne sie ja zu Mama ziehen.

Und dann hatte er gemeint, wenn sie etwas mehr Wert auf ihr Äußeres legen würde, bräuchte sie auch nicht allein zu Hause zu sitzen. Das fand Svala ungerecht. Sie war schon lange nicht mehr so moppelig wie früher. Weil sie ihr Haushaltsgeld nicht nur in Lebensmittel investierten, hatten Pétur und sie ziemlich abgenommen.

Übrigens verschwanden sexy Linda und die anderen Girls meistens schnell wieder von der Bildfläche, wenn Pétur merkte, dass er mit ihnen nicht groß reden konnte. Das war ein festes Muster bei ihm, stellte Svala fest, und mit der Zeit wurde es immer deutlicher.

Im Winter waren Svala und Pétur monatelang ziemlich gut miteinander klargekommen. Aber in der letzten Zeit war Pétur nur noch mit seinen Kumpeln und seiner aktuellen Freundin unterwegs.

Als sie am Eingang des alten, gelben Mehrfamilienhauses im Malmgårdsvägen angekommen war, drückte Svala wie gewohnt den Türcode und lief die Treppe hoch zur Wohnung.

Café Kafka im Visier

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