Читать книгу Arkadien - Emmanuelle Bayamack-Tam - Страница 13

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Ich würde Victor gern auf eine Art und Weise beschreiben, die seine abstoßenden Merkmale wiedergibt. Bin ich objektiv? Keineswegs, aber ich muss subjektiv vorgehen, wenn ich mich nicht in rhetorischen Vorsichtsmaßnamen und halbherzigen Umschreibungen verlieren will: Victor ist ein Scheusal, wer das nicht offen anspricht, verschleiert die Tatsachen. Dass es ihm gelingt, Arkady über sein wahres Wesen hinwegzutäuschen, ist für mich so verblüffend wie betrüblich. Vielleicht täuscht Arkady sich auch nur selbst, weil er unfähig ist, sich die Existenz solch einer schwarzen Seele vorzustellen. Das ist die Gefahr bei höheren Wesen: Sie können keine niedere Gesinnung und auch keine niederen Beweggründe nachvollziehen.

Ich muss Victor Ravannas zugestehen, dass er über eine gewisse Stattlichkeit und Gewandtheit verfügt, die ihn durchaus zu einem angenehmen Gesprächspartner machen können. Er imponiert allein schon durch seine Erscheinung: Groß und gewaltig dick, hat er stets einen Knaufstock dabei, dessen Nutzen zwar fragwürdig ist, der dafür aber mächtig Eindruck macht. Der achteckige Knauf aus schwerem Elfenbein fügt sich in eine Strategie ein, die viel ausgeklügelter ist, als es den Anschein hat, doch ich kenne mich mit Äußerlichkeiten aus, mir selbst erschweren sie das Leben so sehr, dass ich nicht auf sie hereinfalle, und so ist mir nicht entgangen, dass Victor stets versucht, sich mit einer Aura von Vornehmheit und edler Abkunft zu umgeben. Darüber wird kein Wort verloren, während jedes Detail es glauben machen soll, von seinem Gehstock bis zu seiner kunstvoll geringelten silbrigen Frisur, von den gebauschten Ärmeln seiner Hemden zur vorgeblichen Lässigkeit seiner Lederpantoffel. Diese Eitelkeiten könnte ich ihm verzeihen, wenn er sie durch Herzenstugenden ausgleichen würde, aber er hat ja kein Herz, anders gesagt nur ein speckummanteltes Organ, das fleißig weiterschlägt, trotz aller Wunschgebete, die ich täglich aufs Neue formuliere. Da Fettleibigkeit die Lebenserwartung beträchtlich senkt, ist nichts daran auszusetzen, wenn man das Unvermeidliche herbeiwünscht. Leider durchkreuzt Victor jede Prognose und erscheint Tag für Tag voller Glanz und Theatralik an unserem Tisch, wo er sich einer grenzenlosen Gefräßigkeit hingibt. Im Liberty House werden die Mahlzeiten gemeinsam im Refektorium eingenommen, Victors absolutem Lieblingsraum, weil er so schön erhaben ist, beim Kreuzrippengewölbe angefangen, unter dem er unerhörte Essensmengen verschlingt – und sich dabei den scheußlichen Mund sachte mit einem Monogrammtaschentuch abtupft, da bei ihm alles Pose, affektierte, kalkulierte Verrenkung ist.

Bevor Liberty House sich in eine Zuflucht für Freaks verwandelte, war es ein Mädchenpensionat, und das Haus bewahrt noch vielerlei Spuren seiner ursprünglichen Bestimmung: das Refektorium, die Kapelle, die Lernstuben, die Schlafsäle und vor allem unzählige Porträts der Schwestern vom Heiligsten Herzen Jesu, eine ganze Serie von Ehrwürdigen und Glückseligen, die nur dem Namen nach glückselig waren, wenn man ihren tuberkulösen Teint und trüben Blick bedenkt. Ich weiß nicht, welches Sammelsurium von Bischöfen, Theologen und Ärzten über ihren Status befunden hat, jedenfalls wurden Verbitterung und Frustration offensichtlich mit Märtyrertum verwechselt. Ein Segen, dass ich mich inzwischen nicht mehr so leicht einschüchtern lasse wie früher, denn als ich hier ankam, machten mich diese vielen erbaulichen Farbdrucke eher mürbe. Ich fürchtete mich ganz besonders vor einer Ordensschwester aus Kerala, die in einem Flur im ersten Stock mit gelben Wangen und irren Augen nach mir spähte. Wenn ich an ihr vorbei musste, drückte ich mich an der Wand gegenüber entlang und hielt den Atem an, dennoch nahm ich die bleibende Wirkung ihres Grolls und die Ausdünstung aller üblen Fieber wahr, die sie hier befallen hatten. Im Gegensatz zu mir ist Victor ganz vernarrt in Maria-Eulalia vom Heiligsten Herzen und wollte eine Zeit lang ein Fresko in Auftrag geben, das sie mit ausgebreiteten Armen und ekstatischem Lächeln darstellen sollte, den Blick zum dornenbekrönten Herzen erhoben, dem sie ihr ganzes erbärmliches Leben gewidmet hatte. Als aber die Gäste des Liberty House dazu befragt wurden, stimmten sie zum Glück mit einer einzigen Ausnahme dagegen, sämtliche Mahlzeiten unter dieser frommen Ägide einzunehmen – denn natürlich wäre dem Refektorium die zweifelhafte Ehre eines Wandgemäldes der Erleuchteten von Kerala zuteil geworden.

Tatsächlich ist Victor nicht nur ein Heuchler und eitler Fatzke, er ist außerdem noch ein Frömmler der übelsten Sorte. Man muss ihm allerdings lassen, dass seine Verehrung für Maria-Eulalia sich gering ausnimmt im Vergleich zum Kult, den er um seinen berühmtesten Namensvetter betreibt, gemeint ist Victor Hugo. Oh ja, Victor der Kleine vergöttert den Großen. Selbst seine Begegnung mit Arkady erfolgte von Gnaden des Châtiments-Dichters – ob Gnade hier das richtige Wort ist, sei dahingestellt. Jedenfalls schlug bei beiden der Blitz ein, als sie gerade eine Büste von Hugo in dessen Pariser Gemächern an der Place des Vosges bewunderten. So sehr ich bedaure, dass Victor und Arkady sich ineinander verliebten, kann ich mich über die segensreichen Folgen ihrer Begegnung und Leidenschaft doch nur freuen, über dieses Phalansterium, das sie gemeinsam entworfen und verwirklicht haben, wobei sie sich in ihrem Größenwahn gegenseitig befruchteten, unter der Schirmherrschaft des illustren Meisters, selbst ein Experte in Megalomanie. Denn obwohl das Liberty House einst von in Gottesfurcht erstarrten Nonnen angeleitete und Zopf mit Schleife tragende Schülerinnen beherbergte, haben Arkady und Victor daraus einen Ort gemacht, der vom Geist Hugos durchweht ist und eher an das Hauteville House erinnert als an eine Klosterschule – schon allein wegen seiner Inneneinrichtung.

Geknausert haben sie jedenfalls nicht. Das karge Mobiliar der Nonnen wurde durch gotische Anrichten und Lehnstühle ersetzt, an allen Ecken und Enden stößt man auf prunkvolle Teppiche und Wandbehänge aus Damast. Und dann sind da noch die Spiegel, ein Steckenpferd von Victor, der sie mit manischer Entschlossenheit auf Trödelmärkten aufstöbert und in allen Varianten zur Schau stellt. Wandspiegel, Stehspiegel, dreiteilige Rasierspiegel, Hexenspiegel, Sonnenspiegel aus den 70er Jahren, Ankleidespiegel, blattvergoldete Spiegel, Intarsienspiegel, Spiegel mit Rahmen aus geflochtenem Rattan, Tau, Bambus, Messing, gekalktem Holz, Schmiedeeisen, asymmetrische, ovale, achteckige, rechteckige, facettierte Spiegel – im Liberty House kann man keinen Schritt tun, ohne seinem entgeisterten Ebenbild gegenüberzustehen. Mit entgeistert meine ich allerdings mich, denn Victor wirkt immer entzückt, wenn er sich betrachtet. Aus dem großen Salon hat er einen richtigen Spiegelsaal gemacht, in welchem er ständig umherstolziert, um jedes kleine Detail zu überprüfen und an die richtige Stelle zu rücken: den Gehstock mit Elfenbeinknauf, das karmesinrote Einstecktuch, die Manschettenknöpfe, die wohlgeordnete Fülle seiner schneeig schimmernden Locken. Leider werden alle Mühen, die er auf seine Erscheinung verwendet, von seiner unförmigen Hose mit Gummizug ruiniert, dem einzigen Modell, das solch eine knietief hängende Plautze zu fassen vermag. Auch wenn ich weiß, wie sehr Arkady jede Form von Monströsität toleriert, frage ich mich doch, wie ihr Sexualleben aussieht. Dessen ungeachtet lautet Victors Spitzname im Liberty House tatsächlich »Monsieur Mirror«. Und so wird man mir bestimmt nachsehen, dass ich Arkadys Schmährede gegen diese Spiegel für eine Art von Kritik am zügellosen Narzissmus seines Liebhabers gehalten habe. Schließlich war er selten so leidenschaftlich und überzeugend wie an jenem Tag, an dem er uns in die Kapelle zusammentrommelte, um uns jeglichen Blick auf spiegelnde Oberflächen zu untersagen. Seine Stimme vibrierte vor Eindringlichkeit, seine Wangen röteten sich, seine Faust flog nach oben oder stürzte auf das schwere Eichenpult nieder, wenn er seiner Empörung trommelnd Ausdruck verlieh:

»Nicht nur, dass die Spiegel zu eurer Seelenmarter beitragen – mir ist schleierhaft, was ihr dort erfahren oder nachprüfen wollt. Die Spiegel können euch nichts beibringen, rein gar nichts! Und sei es nur, weil sie ihren eigenen geometrischen Gesetzen folgen. Versucht doch mal, die linke Hand vor eurem Spiegel zu erheben, dann werdet ihr feststellen, dass euer Ebenbild die rechte hebt!«

Arkady lässt den Blick über seine Zuhörer schweifen, über all die offenen Münder und wackelnden Köpfe, die nur eines anstreben: die positive Bewertung ihres Schönheitskapitals. Sie haben wohl vergessen, dass man im Liberty House vor allem bei den weniger Begünstigten rekrutiert. Mit offensichtlicher Ausnahme meiner wunderschönen Mutter und meines Vaters, dem jeder Charme und regelmäßige Gesichtszüge bescheinigt, sehen alle anderen, ich inbegriffen, schauderhaft aus und können in der Tat von den Spiegeln keinerlei Trost erwarten. Arkady fährt fort:

»Außerdem ist nichts kälter und glatter als ein Spiegel! Was kann er schon von eurer Wärme einfangen, euren Unebenheiten, eurem Innenleben, also genau dem, was euch ausmacht und von jedem anderen unterscheidet? Wisst ihr was?«

Die Versammelten beben, atmen mit ihm ein und halten erwartungsvoll die Luft an. Arkady runzelt die Stirn, zieht die Augenbrauen zusammen und nimmt diesen herrischen Ausdruck an, der ihn in meinen Augen so unwiderstehlich macht.

»Wir werden alle Spiegel im Haus verhängen oder umdrehen. Alle! Auch die Spiegel, die ihr im Zimmer oder im Bad habt. Verstanden? Liberty House soll zur spiegelfreien Zone werden!«

Seine Schäfchen nicken, Arkady ist aber noch nicht fertig.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass manche von euch sogar Vergrößerungsspiegel besitzen. Das geht dann doch zu weit, meint ihr nicht? Jetzt mal ganz ehrlich: Welcher Teil – von euch, von mir, von uns – verdient so viel Aufmerksamkeit? Im Ernst?«

In einer der Reihen vor mir nehme ich wachsende Unruhe wahr, ein Rascheln und Stöhnen: Dadah möchte sich zu Wort melden, und das dauert bei ihr immer eine gewisse Zeit, als müssten sich ihr altersschwaches Hirn und ihr ebenso altersschwacher Körper erst einmal aufwärmen und zurechtruckeln, um überhaupt zu funktionieren. Ein wütendes Schnauben, das Froufrou ihrer Rüschen, Zähneknirschen, das ungeduldige Hämmern ihrer Hand auf der Armlehne, dann ist sie so weit: »Arkady …«

Ihre nach fast hundert Jahren Raucherei vermännlichte Stimme erhebt sich unter dem Kreuzrippengewölbe und schlägt alle in Bann – mit Ausnahme von Arkady, der sich durch nichts beeindrucken lässt. Man muss wissen, dass Dadah – mit bürgerlichem Namen Dalila Dahman – stets gesprochen hat, um Furcht zu wecken und Gehorsam zu fordern; und selbst, wenn sie das gar nicht fordern wollte, fürchtete man sie und gehorchte ihr, so wie ihr praktisch alles von Geburt an in den Schoß gefallen ist. Als steinreicher Spross einer Familie von Kunsthändlern war Dadah nichts Besseres eingefallen, als sich noch mehr zu bereichern, über jedes vernünftige, ja vorstellbare Maß hinaus, denn wer hat schon die Gehirnkapazität, die Größe eines Vermögens zu ermessen, das auf Millionen beziffert wird? Eins muss man Dadah allerdings lassen, sie wusste ihr Geld auszugeben, und im Gegensatz zu dem, was eine dämliche Volksweisheit behauptet, hat dieses Geld sie durchaus glücklich gemacht. Würden die Gebrechen des Greisenalters sie nicht an ihren Rollstuhl fesseln, wäre sie übrigens noch immer regelrecht glücklich und unempfänglich für das Leid von anderen, und zwar in einem Grade, wie man ihn maximal erreichen kann. Nun, da Arthritis und Emphysem sie davon abhalten, in ihren Privatjet zu springen, ist ihre Welt auf die Größe des Liberty House geschrumpft, das vor allem von ihr gesponsert wird. Doch obwohl sie Dutzende von solchen Wohlfahrtseinrichtungen großzügig fördern könnte, geizt Dadah bei ihren Spenden, während sie verschwenderisch mit Worten umgeht, die unsere mangelnde Dankbarkeit anprangern – und uns jeden Euro, den sie für Heizkosten und Landschaftspflege aufwendet, teuer bezahlen lässt. Ja, Reiche können ganz schön knickrig sein, trotzdem kenne ich außer Dadah niemanden, der Verpackungen aus Aluminium wiederverwendet und anderen rät, das Kochwasser für die Kartoffeln später zum Pflanzengießen oder Geschirrspülen zu benutzen. Mittlerweile ist sie in Fahrt geraten, und ich bin sicher, dass sie zu Arkadys großartigem Vortrag über die Spiegel einiges zu sagen hat.

»Arkady, Vergrößerungsspiegel sind beim Schminken doch sehr praktisch, besonders in unserem Alter!«

Mit ihren sechsundneunzig Jahren ist Dadah bei weitem die Älteste im Phalansterium, aber sie redet immer so, als wäre ganz Liberty House eine Seniorenresidenz. Dabei sind – einmal abgesehen von meiner erst zweiundsiebzigjährigen Großmutter und Victor, der da vorgibt, fünfzig zu sein – die meisten Gäste in der Blüte ihres Lebens. Es kommt Dadah jedoch gelegen, so zu tun, als stünden alle hier kurz vor ihrer Vergreisung. Auf der Kanzel sammelt Arkady seine Notizen zusammen, ein Bündel vergilbter Blätter, die vermutlich kaum Bezug zum Thema des Tages haben, aber er liebt es nun mal, seine Eloquenz mit solchen Requisiten zu unterstreichen und mit den Insignien der Gelehrsamkeit Eindruck zu schinden. Dalila Dahman muss sich warm anziehen.

»Wozu die Schminke? Habt ihr jemals erlebt, dass jemand durch Make-up oder Lippenstift schöner wird? Das Gegenteil ist der Fall: Glaubt mir, mit jedem Lidstrich, jedem Tropfen Nagellack, jedem Puderhauch rückt ihr ein Stück weiter von aller Schönheit und Wahrhaftigkeit ab!«

Dadah klammert sich an die Armstützen ihres elektrischen Rollstuhls für siebentausend Euro und bebt, weil sie sich angegriffen fühlt und gleichzeitig auf ein Wortgefecht mit ihrem Lebenscoach freut – denn so lautet die Rolle, die sie Arkady zuweist. Gleich bei ihrer Ankunft hat sie ihm ihre Seele anvertraut und voller Erleichterung deren Führung überlassen. Dennoch lehnt sie sich immer wieder wegen Kleinigkeiten auf, damit niemand vergisst, dass sie jederzeit ihre Freiheit – und ihr Geld – wieder für sich beanspruchen kann. Und so hebt sie zu einem Plädoyer für Blush und Wimperntusche an, die sie hartnäckig als Rouge und Mascara bezeichnet, trotzdem verstehen wir sie, vor allem, da sie beides im Übermaß aufträgt und uns das von Arkady gegeißelte Unnatürliche lebhaft vor Augen führt: asymmetrische, safrangelb bestäubte Wangenknochen, geschwollene, fettig glänzende Lippen, verspachtelte Falten, verklebte Wimpern. Neben ihr – natürlich nur im übertragenen Sinn, weil sie sich gegenseitig nicht leiden können und jede Tuchfühlung meiden – wirkt meine Großmutter so frisch und rosig wie ein Laib Reblochon. Man muss wissen, dass sie der Kosmetikindustrie schon lange vor ihrer Begegnung mit Arkady misstraute und lieber ihre von erweiterten Äderchen durchzogenen Wangen und ihr zerknittertes Dekolletee zur Schau stellt, als sich mit irgendeiner Creme zu behelfen – geschweige denn mit Skalpell oder Silikon.

Arkady hört Dadah nur mit einem zerstreuten, vielleicht sogar ungeduldigen Ohr zu. Er mag ja gerontophil sein, doch die senilen Haarspaltereien, in denen Dadah regelmäßig schwelgt, gehen ihm schnell auf die Nerven. Leider hat sie sich nun des Themas bemächtigt und wird so bald nicht lockerlassen. Im Gegensatz zu Arkady, der immer mit einer Bühne und einem andächtigen Publikum rechnen kann, wenn er sich äußern möchte, bleibt Dadah inzwischen die willfährige Aufmerksamkeit versagt, die sie in ihrer Glanzzeit erlebt hat. Zwar ist sie nach wie vor reich und furchterregend, ihr Verstand lässt sie aber meist dermaßen im Stich, dass ihr selbst die größten Speichellecker in ihrer Gefolgschaft kaum mehr zuhören. Doch obwohl Dadah nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, bleiben ihr genug Synapsen, um zu merken, dass ihr Wort nichts mehr gilt. Darum nutzt sie jede Gelegenheit auf das Ausgiebigste, um andere zuzuschwallen, und setzt sich dabei souverän über sämtliche Unterbrechungen und Anzeichen von Überdruss hinweg. Mangelnder Zuspruch dient ihr sogar als Ansporn, und so dreht sie sich genüsslich in ihrem Rollstuhl hin und her und setzt mit ihrem Kontra-Alt dramatische Akzente:

»Das ist ja unerhört, dass eine Frau sich nicht einmal mehr hübsch machen darf, solange sie noch kann! Kleinere Unreinheiten zu beheben, ist außerdem ein Gebot der Höflichkeit! Heutzutage findet man äußerst wirksame Anti-Aging-Produkte. Ja wirklich!«

Seltsamerweise glaubt Dadah immer noch, ihre Haut weise nur winzige Makel auf, etwa ein brauner Fleck hier, oder dort eine geplatzte Ader, ein Lachfältchen vielleicht, die man alle leichter Hand mit Concealer oder Highlighter abdecken kann. Und da deutet sie auch schon mit zittrigem Finger auf ihre verheerten Gesichtszüge, als wollte sie uns zeigen, welche Wunder die Kosmetologie bei ihr bewirkt hatte – dabei ist Dadah der lebende Beweis ihrer Unwirksamkeit. Während sie für dreißig Sekunden triumphierend verstummt, nimmt Arkady geschwind den Faden seines Vortrags wieder auf und wendet sich dem »einzigen brauchbaren Spiegel« zu. Als guter Redner holt er etwas weiter aus und baut gezielt Spannung auf, sodass sich alle den Kopf zerbrechen und überlegen, was wohl gemeint sein könnte. Das gibt auch mir genügend Zeit, allerlei kraftlose Vermutungen anzustellen: die Augen, das Gewissen, die Quellen, die Brunnen, die Pfützen, der Himmel, was weiß ich. Dann erweist sich allerdings, dass ich vollkommen daneben liege, denn nun reckt sich der kleine Arkady hinter seinem Pult zur vollen Höhe auf und verkündet, dass Der Spiegel der einfachen vernichtigten Seelen und jener, die einzig im Wollen und Verlangen der Liebe verbleiben fortan unser aller Spiegel sein soll. Natürlich folgt auf diese Erklärung ehrfürchtiges Schweigen, aber mit ein paar flüchtigen Blicken nach links und nach rechts stelle ich fest, dass keiner was verstanden hat, abgesehen von Victor, dessen selbstgefällige, vielsagende Miene mich auf den Gedanken bringt, dass er hinter diesem hochliterarischen Verweis steckt. Sollte es sich nämlich um ein Buch handeln, dann stammt die Idee garantiert nicht von Arkady, der das Lesen verabscheut.

Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das erkannte, weil er fortwährend bekundet, die Literatur im Allgemeinen und den großen Victor im Besonderen zu lieben, und weil er das Liberty House zudem noch sehr großzügig mit Glasschränken und Regalen ausgestattet hat, die Hunderte Bücher mit Goldschnitt fassen. Ich habe selbst, auf den Aubusson-Teppichen der Bibliothek sitzend und von einem Sonnenstrahl beleuchtet, stundenlang in ihnen geblättert, als vollendete Allegorie jugendlichen Bildungshungers, aber auch als Mensch gewordene Ratlosigkeit – denn es handelte sich bei den meisten Büchern um uralte Abhandlungen über Arithmetik oder Agronomie, die Arkady meterweise gekauft hatte, wohl eher darauf bedacht, die Einbände auf unsere Sesselbezüge abzustimmen, als unseren Wissensdurst mit richtigen Büchern zu stillen. Nachdem diese dekorativen Schwarten zur hagiografischen Sammlung der Schwestern vom Heiligsten Herzen hinzugekommen sind, bleibt für die Literatur hier im Grunde nur wenig Raum – ein Regalbrett, wenn überhaupt. Nein, ich übertreibe, denn auch wenn Victor ein furchtbarer Angeber ist, hegt er für die Poesie eine wirkliche Leidenschaft und besitzt eine eigene Bibliothek. Zu meinem Leidwesen befindet sich diese jedoch im Zimmer, das er mit Arkady teilt, und besteht außerdem aus einem herrlichen neogotischen Glasschrank mit drei Flügeltüren, die er stets mit einem Vorhängeschloss sichert, sodass ich mir noch nie Zugang dazu verschaffen konnte, trotz meiner heimlichen Erkundungen ihrer Hochzeitssuite.

Ich liebe Arkady und halte ihn für den Inbegriff von Seelengröße, dennoch muss ich zugeben, dass Victor und er sich selbst die prunkvollsten Räumlichkeiten zugeteilt haben, während den Gästen des Liberty House geradezu klösterliche Zellen oder Bettnischen zugewiesen wurden, die man durch Unterteilung der Schlafsäle gewonnen hatte. Ich selbst verfüge nur über ein fünf Quadratmeter kleines Kämmerchen, und meine Eltern sind kaum besser dran. Das ist mir aber egal. Es gefällt mir sogar, auf so engem Raum zu hausen, und ich fühle mich in meinem Schlupfwinkel mit dem winzigen Fenster geborgen. Vor allem, weil besagtes Fensterchen auf das Geäst einer Atlas-Zeder blickt und ich mich allein schon über ihre Nachbarschaft freue, über den Duft ihrer Zapfen, das beständige Schrammen ihrer Zweige gegen die Fassade, das fröhliche Getöse der Vögel, die in ihnen nisten und mich jeden Morgen wecken – jeden Morgen, als wäre es der erste Morgen. Bevor ich ins Liberty House einzog, lebte ich in einem Zustand sensorischer Entbehrung, der mir nicht einmal bewusst war. Eltern, die ihr Kind mehr als hundert Meter von einem Grasmückennest oder Zistrosenstrauch entfernt aufwachsen lassen, sollten strengstens bestraft werden. Meine Eltern haben diesen Fehler begangen, sodass ich um ein Haar nie das Vergnügen erlebt hätte, meine Blütenblätter in der Sonne zu entfalten, die Wange an einen harzigen Baumstamm zu schmiegen oder auf eine Gewitterfront zuzustürmen.

Arkady wagt sich an eine mitreißende Exegese der gelungensten Seiten seines Spiegel der einfachen Seelen, aber ich höre ihm gar nicht mehr zu, weil mir schlagartig diese Erkenntnis gekommen ist: Die einfache und vernichtigte Seele bin ja ich; das Verlangen der Liebe ist mein einziges Verlangen – ohnehin habe ich nie so recht gewusst, was die Liebe von der Vernichtigung unterscheidet. Während der Mann meines Lebens sich voller Begeisterung über Marguerite Porète und die Brüder und Schwestern vom Freien Geist auslässt, lasse ich meinem eigenen freien Geist freien Lauf, auf dass er die duftenden Pfade meiner Ländereien beschreite. Dort, vom zirpenden Lied der Zikaden umgeben, genieße ich die Vernichtigung und das Gefühl, dass mein ganzes Wesen sich im Wind verstreut wie der Kopf einer Pusteblume.

»Niemand kann als Mensch ausgelöschter sein!«

Arkady blickt mich an, als erriete er meine Gedanken und richtete diesen Schlusssatz direkt an mich, höchstwahrscheinlich ein Zitat der bemerkenswerten Marguerite Porète, deren gesammelte Werke zu beschaffen ich mir augenblicklich vornehme – es sei denn, sie stecken bereits zwischen zwei Bänden des Palmier séraphique, einem Machwerk, das sowohl Arkadys Vorliebe für Halbledereinbände befriedigt als auch dem spirituellen Trachten der Schwestern vom Heiligsten Herzen gerecht wird. Der Titel – Seraphisches Palmbuch – gefällt mir sehr, und ich habe es mehrmals angefangen, doch mit jedem Versuch sinkt es mir unweigerlich aus der Hand, sobald ich beim erbaulichen Leben des Jean Parent ankomme, auch bekannt als »Meister der Tränen«, was mir längst eine Warnung hätte sein sollen: Nichts ist langweiliger als Heulsusen. Kurzum, auch ich bin ausgelöscht, meinen bukolischen Betrachtungen vollkommen hingegeben, wesenloses Schirmchen einer Pusteblume, oder gehe ganz und gar in meiner Vergötterung Arkadys auf, als eifrige Schülerin, Groupie, fast schon Leibdienerin – ganz wie er will. Doch etwas in mir sträubt sich gegen die Auflösung, das spüre ich, etwas hält stand. Zart, aber zäh, wie ein Versprechen auf neuerliches Sprießen nach sommerlicher Glut oder winterlichem Frost, wie eine empfindliche Jahreszeit, für die es keinen Namen gibt, außer meinem, vielleicht.

Arkady hat seine Predigt beendet und schickt uns weg zu unseren Beschäftigungen. Alle stemmen sich erleichtert aus ihren Stühlen. Nur Victor bleibt auf seinem sitzen, man muss allerdings wissen, dass er Hilfe braucht, um sich hochzuquälen, und dass ich ihm diesen Gefallen ganz sicher nicht tun und sein angestrengtes Ächzen und das Schwabbeln seiner Plautze nicht ertragen werde, hopp, ich husche davon, obwohl er nach mir Ausschau hält und seinen Siegelring auf den Knauf seines Stocks klirren lässt. Soll er doch allein zurechtkommen: Ich habe mich zwar der Sklaverei verschworen, doch er ist mein Herr nicht.

Arkadien

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