Читать книгу Arkadien - Emmanuelle Bayamack-Tam - Страница 19

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Wäre ich nicht bereits in Arkady verliebt, wäre ich es bestimmt in Fiorentina, ihrem fortgeschrittenen Alter zum Trotz – wobei sich dieses nur schwer bestimmen lässt. Eines immerhin steht fest: Sie war vor allen anderen da. Anscheinend zählte sie sogar zu den Schülerinnen des Heiligsten Herzen, damals, als das Liberty House noch als Mädcheninternat fungierte. Arkady und Victor haben sie dort vorgefunden und gleich miteingekauft, samt Haus und Anwesen, das sie gespensthaft verwaltete. Aufgrund der ungeschriebenen Gesetze, die unser Leben im Liberty Haus regeln, hat sie einen Spitznamen verpasst bekommen, der genauso kryptisch ist wie meiner, nämlich Mrs. Danvers. Sie findet sich damit ab, wie mit allem anderen, den Launen von Arkady, den Schrullen von Victor, dem Aktionismus der Veganer, dem Leichtsinn der einen und den Schwächen der anderen. Dies fällt ihr umso leichter, als sie sowieso nur macht, was sie will. Es dauert eine Weile, bis man ihre Charakterstärke erkennt, da sie mit ihrer Schürze und ihrem sanften Blick wie eine Allegorie der Fügsamkeit wirkt – tatsächlich schätzt sie Fügsamkeit vor allem bei den anderen. Man braucht sie nur in ihrer Küche zu erleben, wo sie Hilfe allein unter der ausdrücklichen Bedingung annimmt, dass die Helfer sich ihr unterordnen und sich ausschließlich an ihre Anweisungen halten. Angesichts dieses eisernen Willens hatte die Anti-Gluten-Fraktion nicht die geringste Chance. Nein, ich irre mich und muss einsehen, dass die Liebe mich blind macht – was in ihrem Wesen begründet liegt. Ich irre mich, denn trotz ihrer autokratischen Neigungen und ihres ehernen Herzens erlitt Fiorentina an dem Tag, als sie uns ihr vitello tonnato nicht mehr servieren durfte, eine furchtbare Niederlage. Dazu muss man wissen, dass Fiorentina aus dem Piemont stammt: Für sie steht im Mittelpunkt einer Mahlzeit ganz selbstverständlich der Wildschweinbraten, mit einem Carpaccio als Vorspeise und Polenta als Beilage – oder allenfalls eine Pfanne voller gebratener Steinpilze. Für Desserts hat sie gar keinen Sinn und bereitet sie ohne Lust oder besonderen Eifer zu, dennoch sind ihre crostata di castagne, ihr semifreddo al torroncino oder ihre sbriciolata fragole e panna von erlesenster Qualität.

In der ersten Zeit zählte das Liberty House nur eine Hand voll Mitglieder und suchte gleichzeitig nach seiner Ausrichtung, Funktionsweise und Hausordnung. Das heißt, dass Fiorentina sich nach Herzenslust am Herd austoben und alle Welt ihrer Fleischdiät unterwerfen konnte, abwechselnd mit arrosticini, Leber auf venezianische Art, Hackbraten und gezupften Ochsenbäckchen – und natürlich mit ihrem berühmten Wildschweinbraten. Ich war nicht dabei, was ich bedaure, denn Daniel schwärmt mir mit Tränen in den Augen von ihrem fritto misto aus Kalbsbries vor. Doch dann musste sich Fiorentina zack nach zwei, drei Jahren ungeteilter Herrschaft geschlagen geben. Nicht, dass man ihr Titel und Amt streitig gemacht hätte, nein, sie blieb unumstößlich die Herrscherin unserer Küche, dafür hatte Arkady aber die Gleichheit von Mensch und Tier zu einer der sieben Säulen seiner Weisheit erklärt und uns somit lebenslänglich den Genuss von Osso Bucco und Kaninchen in Senfsauce entzogen. So esse ich eben in der Kantine Fleisch, obwohl meine Eltern der Schulverwaltung zahlreiche antispeziesistische Briefe geschickt haben. Und ich hege den Verdacht, dass auch Fiorentina gegen unsere Statuten verstößt und ihr vitello tonnato still und heimlich in ihrer gigantischen mittelalterlichen Küche verzehrt.

Dabei ist Arkady gerade dann besonders eloquent, wenn er über Tiere redet, ich könnte mich bei diesem Thema kaum auf eine einzige Predigt stützen, da es diesbezüglich Dutzende gibt – und ich mein eigenes, also Fiorentina, nicht aus den Augen verlieren will. Aber was kann ich noch über diese italienische Sphynx erzählen, die Daniel Metallica nennt, ein Spitzname, der sich durch Anschaulichkeit auszeichnet und dem Gerüst aus rostfreiem Stahl entspricht, das sie hinter ihrer sanften Miene, ihrem Wachspuppenteint und ihrem piemontesischen Gurren verbirgt? Fiorentina hat zwar eine Tochter und eine Enkelin, aber weder Ehemann noch Schwiegersohn. Als würden sich im Valle Maira die Frauen untereinander fortpflanzen. Tochter und Enkelin tauchen gelegentlich bei uns auf, um endlos lange auf Italienisch zu tuscheln. Wo sie herkommen und wo sie leben, wenn sie nicht gerade im Liberty House herumgeistern? Ein Rätsel, ein weiteres Rätsel in diesem Leben, das nur aus wohlgehüteten Geheimnissen und strengster Zurückhaltung in jeder Lage besteht. Selbst wenn man sie niederwalzte, würde Fiorentina den Schlüssel zu ihrer Seelenfestung nicht hergeben.

Ihr Zimmer liegt gleich neben meinem, im abgelegensten Teil des Hauses, dennoch kann ich an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft ich im Laufe von zehn Jahren Gelegenheit hatte, einen Blick auf ihre Chenilletagesdecke, ihren Kleiderschrank aus dunklem Holz und das Foto von Papst Benedikt XVI. zu erhaschen – entweder hat sie den Übergang zu Franziskus noch nicht vollzogen oder sie hegt gegen ihn einen Groll, der nicht minder obskur ist als der Rest ihres Seelenlebens. Kurzum, neben Kruzifix und Palmzweig lächelt breit und mit päpstlich erhobener Hand allein Benedikt. Fiorentina, sie lächelt nie und lacht noch weniger. Nein, ich übertreibe und lasse mich von meinem Hang zu stehenden Wendungen mitreißen, denn sie hat durchaus heitere Momente – man muss nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, will man sie nicht verpassen. Sie ergeben sich ganz unerwartet und aus völlig undurchschaubaren Gründen, auch wenn ich mit der Zeit ein paar Konstanten ausgemacht habe. So kann Fiorentina über Tiere Tränen lachen, vor allem, wenn sie jung und ungestüm sind, denn auch Fleischesser sind empfänglich für den tollpatschigen Charme eines Kätzchens oder Kalbes.

Zu Fiorentinas Pech ist unsere Liebe zu Tieren anders geartet als ihre und verbietet, dass man sie verzehrt. Das hat Fiorentina sehr wohl verstanden und sie verzichtet darauf, ihre Missbilligung offen zu zeigen, aber ich spüre sie in ihren Gesten, ob sie Eier schlägt, Staudensellerie zerteilt oder ihren Maisgrieß rührt, alles Gesten, die sie perfekt beherrscht, ohne ihre Kochkünste damit voll entfalten zu können. In Ermangelung besserer Speisen serviert sie uns Borretschflans, Auberginentians, Minestrone, Raukenpesto oder Pfifferlingfrikassee, doch ohne rechte Überzeugung. Wäre sie dem Ort nicht so stark verbunden, wäre sie nach all der Zeit nicht sogar unfähig, woanders zu leben, hätte sie ihre Dienste sicher vernünftigeren Leuten angeboten. Leider haben die Bewohner des Liberty House den Antispeziesismus voll und ganz verinnerlicht, würde Fiorentina also wieder Fleisch auftragen, müsste sie mit lebenslanger Verbannung rechnen, das heißt mit dem Tod, angesichts ihres Alters und ihrer Unkenntnis der modernen Welt. Oder könnte sie dank ihrer Seelenstärke in einer feindlichen Umgebung überleben? Und wer weiß, ob sie nicht bereits Schlimmeres ausgestanden hat? Zwischen der nackten Armut ihres heimatlichen Tals und dem missionarischen Wahn der Schwestern vom Heiligsten Herzen hat sie bestimmt keine einfache Kindheit gehabt. Das Erwachsenenalter dürfte für sie eine Erleichterung gewesen sein, und ich kann verstehen, dass sie ungerührt bleibt vom Los der Hühner und Schweine, deren Alltag sie sicher in einem Schuppen mit losen Planken und über einer Schüssel Kastanienbrei geteilt hat. Die anderen Hausbewohner sind nicht so abgehärtet, sie können das tierliche Leid nicht ertragen. Ich stehe eher auf Fiorentinas Seite und teile die Ansicht, dass ein Hase dazu bestimmt ist, im Pfeffer zu landen. Zwar habe ich gelernt, so zu tun, als ob die Tiere meine Geschwister wären, aber ich denke mir meinen Teil.

Ich weiß nicht, wann Arkady und Victor sich zum Vegetarismus bekehrt haben. Als ich mit meiner Familie im Phalansterium angekommen bin, stand bereits fest, dass man dort weder Fleisch noch Fisch mehr isst. Eier und Milchprodukte waren noch umstritten, doch inzwischen hat Fiorentina, wie schon berichtet, über den veganen Fundamentalismus und die orthorektischen Fantasien mancher Bewohner obsiegt.

Im Liberty House leben wir in gutem Einvernehmen mit allen möglichen Tieren: Mit Hunden und Katzen, natürlich, aber auch mit einem Haufen Geflügel und sogar einem kleinen Bestand an Kühen und Ziegen, die wir abwechselnd melken, während wir versuchen, ihrem dämpfigen Ausschlagen und übelriechenden Gefurze auszuweichen. Ich verstehe vollkommen, dass wir nicht das Recht haben, sie nur zu töten, um in den Genuss ihrer Hachse oder Hochrippe zu kommen, fordert man für sie jedoch die gleiche Achtung ein wie für Menschen, bin ich nicht bereit, diesen Schritt zu vollziehen, und der Umgang mit unserem degenerierten Kleinvieh bestärkt mich erst recht im Gefühl meiner Überlegenheit. Abgesehen von der Fähigkeit, Eier zu legen und sich heiser zu gackern, verfügen Hausund Perlhuhn über keinerlei nennenswerte Kompetenzen und sind nicht einmal besonders sympathisch. Hunde sind wenigstens freundlich, und ich kann nachvollziehen, dass man seine Freunde nicht verspeist, aber ein Huhn? Gott weiß, wie sehr ich Arkady liebe, doch wenn er auf die Kanzel steigt, um sich für die Tiere stark zu machen, verschwimmt alles vor meinen Augen, bekomme ich Ohrensausen, fliehe ich in Gedanken, renne meine Steilhänge hinunter, klettere die Bäume hoch, wälze mich im Gras mit seiner Glasur aus Herbstzeitlosen, warte darauf, dass dieses Wiederkäuen Claudelschen Unsinns ein Ende nimmt. Ja, Arkady, der zwar wenig liest, jedoch gern als Literaturkenner auftritt, hat Victor Hugo, Marguerite Porète und Paul Claudel zu seinen Lieblingsautoren erklärt und plündert sie im großen Stil, um seine verblasenen Predigten zu untermauern, anstatt sich auf seine eigenen Geistesgaben zu verlassen, so beachtlich diese sind – als weise seine herrliche Intelligenz einen blinden Fleck auf, einen toten Winkel, der sich seiner Vernunft entzieht und dafür wahnwitziger Tierliebe und der Verkündung von so absurden wie erniedrigenden Gaumenverboten Vorschub leistet.

Ich fordere alle auf, die gegen das Stopfen von Gänsen sind, eine halbe Stunde in deren Gesellschaft zu verbringen. Nach einigen Schnabelhieben werden sie vermutlich weniger Skrupel haben, sich ihre Foie gras schmecken zu lassen. Außerdem ist die Gans ein scheußliches Tier, mit ihren gelb umrandeten Augen, den schuppigen Füßen und diesem Hals, den sie streckt, als wollte sie einen Rekord brechen, den bisher Schwan oder Strauß halten – die ebenso hässlich und gemein sind. Zur Krönung des Ganzen gibt es in unserem Hühnerhof auch ein Pfauenpärchen. Das Weibchen mag ja noch angehen, das sich mit seinem unscheinbaren Gefieder nicht aufspielt, der Hahn ist dagegen unerträglich, mit seinen furchtbaren Schreien, dem vorgeschobenen Kropf und der aufbrausenden Entfaltung seines Prachtbürzels. Erwartungsgemäß hat Victor ihn zu seinem Totemtier gemacht: Als filigrane Figur ziert der Pfau seine Visitenkarten und sogar seinen Siegelring, ein Schmuckstück, das er als uraltes Erbstück zur Schau trägt, dabei hat er für dessen Fertigung verschiedene Ohrringe und sein Taufkettchen einschmelzen lassen. Aber zeichnet sich der Pfau nicht gerade durch seine Gefallsucht aus, ist er nicht, abgesehen von seinem dekorativen Aspekt, das unnütze Tier schlechthin?

Je mehr ich mit der Tierwelt zu tun habe, desto weniger verstehe ich, dass Arkady auf seine Vorherrschaft über niedere Wesen und auf die Möglichkeit ihrer größtmöglichen Ausbeutung verzichtet. Das äußere ich umso gelassener, als ich Tiere liebe und am glücklichsten bin, wenn ich einem Igel begegne, unverhofft auf ein Füchslein stoße oder auf einen Bussard mit wildem Blick. Und natürlich habe ich an unserer Meute von verkrüppelten Hunden und Katzen einen Narren gefressen. Denn das Liberty House nimmt nicht nur gesellschaftliche Außenseiter auf, es ist auch eine Zuflucht für Tiere, da Arkady und Victor ständig Laborkaninchen, Schafe, die für den Abdecker bestimmt sind, oder Kläffer, die man am Straßenrand ausgesetzt hat, retten. Unsere Hunde und Katzen werden selbstverständlich mit vegetarischen Kroketten gefüttert, wobei die Katzen sich ihren Anteil an tierischen Proteinen dadurch sichern, dass sie die Feldmäuse des Anwesens dezimieren, die sie zuvor ganz langsam bei lebendigem Leibe zerlegen. Und auch hier gilt: Man braucht nur etwas Zeit mit einer Katze zu verbringen, um zu erkennen, dass sie von allen Vivisektierern der grausamste und hemmungsloseste ist, ohnehin ist Grausamkeit in der Tierwelt, und der Mensch ist da natürlich inbegriffen, überaus verbreitet.

Bevor wir über die ungerechte Behandlung unserer tierischen Freunde Tränen vergießen, schlage ich allen eine Schnupperlehre im Dschungel vor, wohlwissend, dass der Dschungel gleich vor unserer Tür beginnt. In jedem Vorstadtgarten, auf jeder Grünfläche findet man ganze Populationen von kleinen Folterknechten im Feder- oder Fellkleid. Von Insekten gar nicht zu reden, die in der Universalgeschichte der Grausamkeit ein eigenes Kapitel verdienten. Jeder Garten ist zunächst ein Garten der Qualen, die anderen im Humus oder harmlosen Blätterrauschen verborgen bereitet werden. Und die Krustentiere stehen dem in nichts nach. Wenn Sie diese für ungefährlich halten, zu nichts anderem fähig als mit Mayonnaise garniert auf Ihrem Teller zu enden, dann haben Sie noch nicht von der Cymothoa exigua gehört, die nach und nach die Zunge des Wirtsfisches vertilgt, um dann ihren Platz einzunehmen, indem sie sich mit den Beinen am Stumpf festkrallt. Und was soll man zum Sackkrebs sagen, der seinen Sadismus bekanntlich an der Strandkrabbe auslebt, indem er, neben anderen Misshandlungen, deren Geschlechtsorgane umfunktioniert. Antispeziesisten wissen ja gar nicht, wie recht sie haben, wenn sie behaupten, das Schlimmste spiele sich im Meer ab, auch wenn sie dabei nur an den Schaden denken, den die Schleppnetzfischerei anrichtet, aber vollkommen außer Acht lassen, was die Meerestiere sich gegenseitig antun. Und so kann Arkady sich noch so lang und breit über das beeindruckende Gehirn der Kopffüßer auslassen oder über die Solidarität unter Affen, mir ist das völlig schnuppe: Ich weiß nun mal Bescheid und werde auch künftig meinen Cheeseburger essen, im Gegensatz zu den Mitgliedern meiner erweiterten Familie und ohne dass sie es merken, da ich jeden Tag mit der ehrlichen Miene und dem matten Blick eines waschechten Vegetariers heimkomme – denn ich bin eine Schlange, was in unserem Eden einiges heißen will. Was soll’s. Ich stehe zu meinen Schandtaten, meinen Eidbrüchen und deren Verschleierung, wenn das die Voraussetzung sein soll für ein halbwegs friedliches Dasein an diesem Ort, den mein Umfeld beharrlich als Garten der Lüste betrachtet, und zwar aus purer Unfähigkeit heraus, die Seiten voller Mord und Blut zu lesen, die dort Tag für Tag geschrieben werden.

Arkadien

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