Читать книгу Das flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau - Emmy Ball-Hennings - Страница 10
Die Verlobung aus Gefälligkeit
ОглавлениеBevor ich zu einem neuen Lebensabschnitt übergehe, und da ich mich ungern von meiner leichten Mädchenzeit trenne, möchte ich an dieser Stelle die Geschichte meiner Verlegenheitsverlobung einfügen, die so recht zeigt, daß ich vom Wesen der Ehe nicht die blasseste Ahnung hatte. Meine Unwissenheit auf diesem Gebiet war eine vollkommene. Meine Mutter hatte es nicht für nötig befunden, mich auch nur im geringsten aufzuklären, und ich glaube, daß die Unkenntnis der geheimnisvollen und doch wiederum einfachen Vorgänge der menschlichen Natur viel dazu beigetragen hat, mich in Gefahren zu bringen, welche die bedenklichsten Folgen nach sich zogen. Doch will ich nicht vorgreifen, sondern erzählen.
Also im Atelier Hollesen hatten wir einen Photographen namens Bebenrot, der ein recht netter Kamerad war, mit dem ich mich in freien Minuten gelegentlich über religiöse Fragen unterhielt. Er war ein langaufgeschossener, magerer Mann von etwa vierzig Jahren. In seiner etwas dürftigen, aber stets sauberen Kleidung und seinem höflichen Benehmen war er das, was man für gewöhnlich eine sympathische Erscheinung nennt. Nur seine langsame, fast feierliche Sprechweise, die er auch bei nebensächlichen Dingen anwandte, ermüdete und langweilte leicht. Dagegen war es mir nicht uninteressant, wenn er mir hin und wieder von seinen göttlichen Eingebungen sprach. Von seinen guten Beziehungen zum lieben Gott hörte ich sehr gern. Er war nicht sonderlich gesund. Er hatte, wenn ich mich nicht irre, ein Leberleiden, das recht schmerzhaft und störend war. Es wäre ihm jedoch nie eingefallen, irgendein Mittel gegen seine Schmerzen zu nehmen. Er sprach von seinen Schmerzen mit der gleichen Behutsamkeit wie von seinen Freunden. Nicht nur die Freuden, sondern auch die Schmerzen schienen seine Schwestern zu sein. Dies wollte ich mir allenfalls merken für vorkommende Fälle. Was mir ferner noch an Herrn Bebenrot imponierte, war, daß er niemals einen Arzt zu Rate zog und nie genau sein eigentliches Leiden zu wissen begehrte. Er war eine besondere Art von Kreuzträger.
Dennoch war er kein Kopfhänger. Meine Kameradinnen, Irmelin und Lena, ein paar Jahre älter als ich, waren beide vergnügte junge Mädchen. Wir drei konnten über ein Nichts lachen. Es genügte, daß das Kätzchen seine kleine Pfote vorsichtig ins Tonbad steckte, um sich enttäuscht abzuwenden, weil es keine Milch war, oder irgendeine Kundin hatte zuviel Kunstblumen auf dem Hut, kurzum, wir hatten viel Grund zu lachen. Und dann lachte auch Herr Bebenrot mit.
Er hatte eine lungenkranke Schwester im Sanatorium, für die er in der rührendsten Weise sorgte. Er wünschte diese Schwester durch die Macht des Gebetes zu heilen. Leider wurde die Schwester immer mehr krank, worüber der gute Bebenrot sich sehr wunderte. Er meinte, der liebe Gott könne gekränkt sein, weil seine Schwester unter ärztlicher Aufsicht stand. Immer wieder versuchte ich, ihn über diesen Punkt zu beruhigen.
Der liebe Gott hätte auch die Ärzte erschaffen, meinte ich. Mehr noch, der Arzt, der Mann der Wissenschaft, sei sogar ein Liebling Gottes, weil er doch seine ganze Kraft, sein Studium und sich selbst in den Dienst der leidenden Menschheit gestellt habe. Ich wußte aus den Arbeiterkreisen manche Beispiele anzuführen für die schöne Opferbereitschaft, für die Selbstlosigkeit, für die Menschenliebe des Arztes. Es gelang mir zwar nicht, Bebenrot hiervon zu überzeugen, aber es tat ihm dennoch wohl, von mir zu hören, daß der Arzt doch helfen will und sehr oft helfen kann, das Leben zu erhalten. Freilich, einmal müsse man ja sterben, ob nun etwas früher oder später. Dann nickte Herr Bebenrot tiefsinnig, mit dem ganzen Kopf nickte er. Und ich begann wieder einen leichten Ton anzuschlagen und sprach vom möglichst späten Sterben. Herr Bebenrot lächelte mir dann liebreich zu. Er mochte mich gern, und ich ihn auch.
Seine Mutter war eine sehr liebe Frau, die mich und meine Freundinnen aus dem Atelier an schönen Sonntagnachmittagen manchmal zu sich einlud. Wir bekamen dann jedesmal prachtvollen Kuchen zum Kaffee, und nachher gingen wir meistens zu fünft in den Garten, wo wir Volkslieder sangen, was Frau Bebenrot und ihrem Sohn besonders gut gefiel.
Eines Sonntags ergab es sich, daß ich mit Frau Bebenrot einige Minuten allein in der Wohnung blieb, da meine Freundinnen, Karen und Marie, sich mit Herrn Bebenrot schon in den Garten begeben hatten. Da bat Frau Bebenrot mich, doch noch ein wenig Platz zu nehmen, es gefiele ihr, mal mit mir allein zu plaudern. Sie fragte dann, so wie nebenbei, wie es meiner Mutter ginge, und wann und woran mein Vater gestorben sei, und welchen Beruf er gehabt habe. Ich gab ihr Auskunft und fragte meinerseits mehr aus Höflichkeit denn aus Wißbegierde nach dem seligen Herrn Bebenrot, nur um eine gewisse Teilnahme zu bezeigen, da ich merkte, daß dies Frau Bebenrot wohltat.
Dann kam sie auf ihren Sohn zu sprechen, und wie es sei, daß er einen Posten im Atelier Hollesen habe.
«Aber wenn er nur eine nette kleine Frau finden würde.»
Nun dachte ich nicht im entferntesten daran, daß Frau Bebenrot auf mich anspielen wollte. Ich antwortete höflich:
«Aber Frau Bebenrot, Ihr Sohn braucht doch nur zu wählen. Jedes anständige Mädchen wird sich glücklich schätzen, ihn zum Manne zu bekommen. Er muß sich nur bemühen, anfragen.»
Frau Bebenrot sah mich ungemein freundlich an, musterte mich und dann mein hübsches blaues Kleid, mein ein wenig verblaßtes Kornblumenkleid mit dem weißen Halskragen, den sie mir, da er verrutscht war, in mütterlicher Art ein bißchen gerade schob.
«Finden sie nicht, daß mein Willi etwas zu alt zum Heiraten ist? Darüber wüßte ich gerne Ihre Meinung. Er ist schon vierzig Jahre alt. Wußten Sie das?»
«Nein, das wußte ich nicht. So, er ist schon vierzig Jahre? Das hätte ich nicht gedacht. Er sieht bedeutend jünger aus.»
«Nicht wahr?» erwiderte Frau Bebenrot mit mütterlichem Stolz. «Willi hat sich gut gehalten. Das kommt vom soliden Leben. Er ist sehr solide in jeder Hinsicht. Er ist ja ein frommer Mensch und geht jeden Sonntag, den Gott werden läßt, in die Kirche. Ja, was das anbetrifft, ist nichts an ihm auszusetzen. . . Nein, nein, nicht das mindeste. . . Wenn er sich nur etwas mehr gerade halten wollte. Er geht so schrecklich mit dem Kopf vornüber. Er ist ja nicht grad krumm. Nein, verwachsen an sich ist mein Willi nicht. Wie oft aber habe ich ihm gesagt: wenn du dich nur ein bißchen besser halten wolltest.»
«Aber warum denn, Frau Bebenrot? Er ist doch über die Entwicklungsjahre hinaus. Lassen Sie ihn doch gehen, wie er Lust hat. Das geht doch keinen Menschen etwas an. Wie er geht, das muß man doch ihm überlassen. Es ist seine Privatsache.»
«Macht Ihnen das nichts aus, wie ein Mensch geht? Er schleift ja auch ein bißchen mit den Füßen. Macht Ihnen das nichts aus?»
«Nicht die Spur», versicherte ich lebhaft. «Die Hauptsache ist doch, daß er vorwärts kommt.»
«Wie vernünftig, wie großzügig Sie denken», rühmte Frau Bebenrot, «wissen Sie, mein Willi kommt nicht nur auf seinen zwei Beinen, sondern auch sonst vorwärts. Sie haben ja recht, ein gerader Charakter ist mehr wert als eine gerade Haltung, die nur äußerlich ist. Es ist nämlich so, mein Willi möchte sich gerne selbständig machen. Ein kleines Atelier will er aufmachen mit zwei bis drei Assistenten. Er kann nämlich grad jetzt eine Erbschaft antreten und bekommt eine sehr ansehnliche Summe, aber nur, wenn er verheiratet ist. Das ist eine Klausel im Testament seines Onkels.»
«Das verstehe ich weniger. Wie kann man über seinen Tod hinaus anderen Leuten Vorschriften machen, ob sie heiraten sollen oder nicht.»
«Nun ja», seufzte Frau Bebenrot, «es ist dies aber die Bedingung des Onkels, und wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, wird das Geld nicht ausbezahlt.»
«Dann werden Sie oder Ihr Sohn vielleicht auf das Geld verzichten müssen.»
«Ach, Fräulein Helga, verzichten, das ist leichter gesagt als ausgeführt. Wir könnten das Geld so gut brauchen.»
«Ja, Geld kann man immer brauchen», gab ich verständnisinnig zu. Es tat mir sehr leid, daß Frau Bebenrot und ihr Sohn so sehr auf das Geld angewiesen waren, aber ich konnte den beiden ja nicht helfen. Das Gespräch wurde mir ungemütlich, und ich suchte der Unterhaltung ein Ende zu bereiten, indem ich in zuversichtlichem Tone sagte: «Ihr Sohn wird sicher die passende Frau finden, aber er muß sich umsehen.»
Wenige Tage später, und zwar ausgerechnet in der Dunkelkammer, sah Herr Bebenrot sich um, und zwar nach mir. Wir waren damit beschäftigt, eine Vergrößerung zu entwickeln. Hier, mitten im Finstern, sagte mir Herr Bebenrot, daß er mich schon lange gern habe, und ob es nicht möglich wäre, daß wir ein Paar würden, und ob er mich wohl um meine Hand bitten dürfe.
Ich war verdutzt und sehr in Verlegenheit. Ausgerechnet hier mir einen Antrag zu machen, wo man die eigene Hand nicht einmal vor Augen sehen konnte. Dann schlug ich vor, wir wollten zunächst einmal unsere Arbeit verrichten, wir könnten ja später das andere besprechen. Dann bewegten wir mit vereinten Kräften die große viereckige Schale, in der sich allmählich das Bild zu entwickeln begann, hin und her.
«Was für ein gräßlicher Kerl», flüsterte ich vor mir her, erschrocken auf das Bild starrend.
«Meinen Sie vielleicht mich?» fragte Herr Bebenrot mit unglücklich-enttäuschter Stimme.
«Gott bewahre», beruhigte ich ihn, «was denken Sie auch? Sie sind doch. . . aber sehen Sie doch nur dieses unmögliche Gesicht. Nein, so etwas. Dieses schlaffe, dicke, schläfrige Gesicht. Wie kann man so etwas nur vergrößern!»
«Es ist doch der verstorbene Mann von Frau Fleth. Können Sie nicht verstehen, daß die Frau gern ein Andenken an ihren Mann haben will?»
«Andenken ist gut. Das vergißt doch die arme Frau ihr Lebtag nicht, wie der Mann aussah. Das weiß sie doch in- und auswendig. Das braucht sie doch nicht erst an die Wand zu hängen. Und dann überlebensgroß.»
«Wie herzlos Sie sprechen, Fräulein Helga.»
«Ja, ich bin nun einmal so herzlos.»
Das Bild war tatsächlich der reine Albtraum, und weil ich es nicht länger ansehen konnte, blickte ich unwillkürlich zu Herrn Bebenrot hinüber, den ich plötzlich im roten Licht im Verhältnis zu Herrn Fleth recht hübsch fand. Er sah so betrübt drein, und plötzlich dachte ich an seine Mutter und was sie mir alles erzählt hatte. Und hatte Frau Bebenrot mich nicht mit Guttaten überhäuft? Sie hatte mir Blumen aus ihrem Garten geschenkt, einen Kürbis, den Mutter eingemacht hatte. Und jetzt erst hatte ich eine Flasche Fliedersaft und ein Glas Gurken bekommen, und ein Häkelmuster hatte sie mir gezeigt, und. . . Das stand alles vor mir, und ich fühlte mich Frau Bebenrot zu Dank verpflichtet. War eine Gefälligkeit nicht der anderen wert? Freilich, heiraten war eine große Sache, aber Herr Bebenrot war ein musterhaft ordentlicher Mensch, an dem meine Mutter sicher ihre Freude haben würde. Wenn Mutter wüßte, was sich mir hier bot! Sie würde mir wahrscheinlich zureden. Die arme Frau Fleth! Womit hatte sie sich begnügen müssen? Und war ich denn etwas Besonderes? Nicht die Spur. Wann Herr Bebenrot wohl die Erbschaft ausbezahlt bekam? Vor oder nach der Heirat? Ich hätte ihn zu gerne gefragt, aber ich hätte dadurch verraten, daß seine Mutter mir anvertraut hatte, was los war.
Ich befand mich an diesem Morgen wie inmitten einem meiner Nachtträume, in denen ich einer übertriebenen Schüchternheit nicht Herr werden konnte und zu allem ja und amen sagen mußte, was mir begegnete. Was Herr Bebenrot wohl von mir gedacht hat, als ich ihm erklärte, ja, ich wolle mich mit ihm verloben, eventuell, doch möge er mich zunächst über seine finanziellen Verhältnisse unterrichten? Er wurde blutrot, als fühle er sich ertappt, oder wähnte er mich am Geld so sehr interessiert? Nach und nach erzählte er mir dann dieselbe Geschichte, die ich von seiner Mutter her schon kannte, nur fügte er hinzu, daß von den dreißigtausend Mark, die er zu erwarten habe, zweitausend Mark Schulden für seinen seligen Vater abbezahlt werden müßten.
«O, bitte, Herr Bebenrot, sprechen Sie nicht weiter. Sie sind mir doch keine Rechenschaft schuldig.»
«Aber Sie haben doch vorhin selbst gewünscht, daß ich Ihnen Auskunft gebe, Fräulein Helga, und Ihre Genauigkeit gefällt mir gut.»
«Sonst nichts?»
Dieses Gespräch fand auf dem Balkon unseres Ateliers statt, am Samstagnachmittag. Irmelin und Lena hatten sich schon verabschiedet, und so konnten wir also unsere Verbindung mit allem dafür und dagegen in aller Ruhe besprechen.
Wir saßen auf den leichten Korbstühlen und sahen uns beim Sprechen kaum an, sondern blickten auf das Häusermeer, das vor uns ausgebreitet lag.
«Fräulein Lund, Sie müssen ja nicht meinen, daß es sich für mich ausschließlich um eine Interessenheirat handelt. Es ist Zufall, daß das eine zum andern kommt. Ich habe Sie viel lieber, als ich es jetzt im Zusammenhang mit der Erbschaft sagen mag. Oder finden Sie es betrüblich, daß wir gleich etwas Geld haben würden, wenn wir heiraten?»
Ich mußte lächeln: «O, nein, das Geld muß kein Charakterfehler sein.»
«Sehen Sie. Es ist doch sehr angenehm, etwas Geld zu haben.»
Das mußte ich zugeben. Doch hätte ich gehört, daß Geld allein nicht glücklich mache.
Hierauf erwiderte er, daß er mich nicht bedrängen wolle, und ich möge mir die Sache bis morgen überlegen.
Das hörte ich gern. Es war wenigstens ein kleiner Aufschub.
Dann lud er mich ein, am nächsten Morgen mit ihm in die Kirche zu kommen, und zwar in die Klosterkirche. Ich sagte zu, und wir beschlossen, allenfalls in der Kirche gemeinsam für unser Glück zu beten.
Am nächsten Morgen, als ich meiner Mutter sagte, daß ich ausnahmsweise in die Klosterkirche gehen wolle, fragte sie mich im scherzhaften Spott, warum ich denn so gar weit pilgern müsse und ob mir unsere kleine Bethlehemskapelle nicht mehr genüge. Ob hinter diesem Kirchgang nicht eine andere Geschichte stecke?
«Was denkst du von mir?» fragte ich gekränkt zurück. «Wenn man in die Kirche geht, geht man in die Kirche.»
«So, so, ich dachte nur, du gehst vielleicht auf den Südermarkt zum Morgenkonzert.»
Mir war nicht nach Morgenkonzert zumute.
«Es soll ein so guter Prediger an der Klosterkirche sein.»
Zu meinem Schrecken sagte Mutter: «Ich hätte Lust mitzukommen. Ich möchte mir die Predigt auch anhören.»
«Ich will dir einen Vorschlag machen, Mutter. Geh du in die Bethlehemskapelle und ich gehe in die Klosterkirche, und nachher erzählen wir einander, was wir gehört haben. Wäre dir das recht?»
Mutter willigte ein, aber ich glaube nur, weil sie merkte, daß ich sie an diesem Morgen nicht brauchen konnte. Wer weiß, wie es gekommen wäre, wenn sie dabeigewesen wäre und ich ihr verfrüht meinen eventuell zukünftigen Mann hätte vorstellen müssen. Noch heute bin ich meiner Mutter dankbar, daß sie so vernünftig war, daheim zu bleiben,
Herr Bebenrot erwartete mich an der Kirchentüre. Er war völlig in Schwarz gekleidet und hatte schon zum voraus ein feierliches Gesicht aufgesetzt. Er sah mich tiefernst an, wie ein Pastor etwa die Konfirmandin ansieht. Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber wenn man das B vermeiden will, darf man das A nicht sagen.
In der Klosterkirche fand ich es recht angenehm, daß Männer und Frauen hier nicht beisammensitzen dürfen, und der Kirchendiener hat darauf zu achten, daß keine Frauensperson auf die Männerseite geht und umgekehrt. Zunächst wollte ich in aller Unschuld mich neben Herrn Bebenrot setzen, als auch schon der Kirchendiener mich sanft am Arm nahm und mir mahnend zuflüsterte: «Sie dürfen auf keinen Fall beisammenbleiben.»
O, das machte nichts. Es war recht so. Dann saß ich also auf der Frauenseite, warf aber doch hin und wieder einen Blick auf die Männerseite, wo mit mir in derselben Reihe Herr Bebenrot gradaus vor sich hinträumte. Er sah aus wie ein langes schwarzes Gesangbuch, dann wieder wie ein Sargdeckel, und solcher Vergleiche konnte ich mich leider nicht erwehren. «Sie dürfen auf keinen Fall beisammenbleiben», ging es mir durch den Kopf. Wie wurde ich nur den Mann los, ohne ihn zu verletzen? Da saß er jetzt, ganz in Andacht versunken, und hatte keine Ahnung, was mir durch den krausen Kopf ging. Er tat mir leid. Wenn ihm doch der liebe Gott ein nettes Mädchen zuschicken wollte, mit dem er recht glücklich werden konnte. Ich gönnte ihm das Glück so sehr, wenn ich es nur nicht grad teilen mußte.
Es wurde das herrliche Lied gesungen:
«Eins ist not, ach, Herr, dies eine,
Lehre mich’s erkennen doch.
Alles andre, wie’s auch scheine,
Ist ja nur ein schweres Joch.»
Der liebe Gott möge mir verzeihen, daß ich bei jedem Wort nur an meine irdischen Verhältnisse denken konnte, und beim schweren Joch nur an eine Ehe mit Herrn Bebenrot. Ich wußte ja ganz genau, was ich nicht wollte, aber es würde schwer sein, es ihm begreiflich zu machen. Wie sag ich’s nur Herrn Bebenrot?
Der Pastor empfahl und legte die Worte aus: «Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird euch alles andere zufallen.»
Und «alles andere» war Herr Bebenrot, mein Bräutigam und dreißigtausend Mark, die wir vielleicht noch verspekulieren würden. Ach, alles andere, es lag mir gar nichts daran. Vielleicht war meine Freundin Guschi Krümel die Richtige für Bebenrot. Ob sich das nicht einfädeln ließe? Fieber Gott, schenk ihm das Glück, doch laß mich für diesmal ledig bleiben.
Als wir uns vor der Kirchentüre wieder trafen, war ich so nervös und erregt, daß ich dem Weinen nahe war. Herr Bebenrot sah mich so treuherzig und besorgt an:
«Hat die Predigt Sie so angegriffen, Fräulein Helga? Es war herrlich, nicht wahr?»
«Ach, Herr Bebenrot, das ist es leider nicht. Es ist etwas anderes, was mich beschäftigt. Bitte, gehen wir abseits, wo weniger Menschen sind.»
Auf dem Südermarkt, an dem wir vorbei mußten, wenn ich heimwollte, waren noch viel mehr Menschen als vor der Kirche. Hier spielte das Stadtorchester «Lohengrin».
Alljährlich naht vom Himmel eine Taube,
um neu zu stärken seine Wunderkraft. . .
Das lenkte eine Weile ab, und wir hörten zu, jeder das Gesangbuch unterm Arm.
Als das Stück aus war, gab’s ein großes Gedränge, und mit Mühe erreichten wir den Holm, wo es stiller war. Beim großen Konfektionsgeschäft von Mau und Andresen blieb ich stehen und erklärte, hier auf die Straßenbahn warten zu wollen, ich müsse rasch nach Hause, ich habe meiner Mutter versprochen, ihr die Predigt zu erzählen, und er, Herr Bebenrot, habe wahrscheinlich dasselbe vor.
«Wie denn? Wünschen Sie, daß ich Sie nach Hause begleite?»
«Nein, nein, nein danke. Sie haben mich nicht recht verstanden. Sie müssen zu Ihrer Mutter, und ich zu meiner Mutter.»
Herr Bebenrot sah melancholisch auf die vier flott gekleideten Herren, die als Musterbeispiele der Eleganz siegessicher im Schaufenster standen. Jeder der Herren lächelte selig vor sich her, als sei das Leben ein Vergnügen sondergleichen. Herr Bebenrot blickte verloren und betrübt drein. Er tat mir so furchtbar leid, aber ich mußte ihm doch meinen Entschluß mitteilen.
«Herr Bebenrot, Sie kennen nicht zufällig Fräulein Krümel?»
«Nein, warum fragen Sie?»
«Ach, ich meinte nur so. Es fiel mir gerade ein. Sie ist ein so reizendes Mädchen.»
«So?»
«Ja.»
«Nein, ich kenne sie nicht.»
Da merkte ich, daß mein Anerbieten mit Guschi noch nicht reif war. Ich begann sanft und leise: «Herr Bebenrot, sagen Sie, würden Sie es mir sehr übel nehmen, wenn ich, das heißt, wenn wir unsere, Verlobung auflösten?»
«Aber wir sind doch noch gar nicht verlobt, Fräulein Helga.»
«Nein, das nicht, aber wir planen es doch, und wenn überhaupt, dann müssen Sie sich selbstverständlich sofort verloben und dann möglichst bald heiraten. Schon wegen. . . Ob aber ich gerade die Richtige für Sie bin. . .? O, bitte, liebster Herr Bebenrot, sehen Sie nicht so betrübt aus, das tut mir weh. Ach, Sie haben ja keine Ahnung. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen. . . »
«Was? Wovon habe ich keine Ahnung?»
«…was es für ein Glück bedeuten kann, mich nicht zur Frau haben zu müssen. . . »
«Wie? Was?»
«Nein, bitte, wollen Sie mich aussprechen lassen. Ich muß es Ihnen genau sagen, das bin ich Ihnen schuldig. Sehen Sie, ein bißchen kennt sich doch jeder Mensch, nicht wahr? Nicht sehr viel, aber es gibt doch einige Hauptsachen, mit denen man bei sich Bescheid weiß. Hören Sie, ich neige nämlich dazu, immer das Gegenteil von dem zu tun, was man von mir erwartet. Das habe ich schon mehrmals an mir bemerkt.»
«Aber was erwarte ich denn von Ihnen, Fräulein Helga?»
«Unausgesprochen vielleicht sehr viel. Würde ich zum Beispiel einen solch frommen oder religiösen Menschen, wie Sie es offenbar sind, zum Manne bekommen, wär’s wahrscheinlich eine Gnade oder ein Wunder, wenn ich nicht für lebenslänglich ins Zuchthaus käme. Und das wollen Sie doch gewiß nicht, nicht wahr? Sehen Sie wohl. Aber so würde es kommen. Ich würde bestimmt etwas anstellen. Einen Diebstahl, einen Einbruch, Mord und Todschlag, kurzum, ich wäre sorglich aufs Gesetzwidrige bedacht. Warum? Weil Sie so sehr fromm sind! Ja. Und was hätten Sie davon, wenn Sie allein mit Ihrem lieben Gott in der Klosterkirche säßen, und ich, die Frau, wäre nicht mal daheim, geschweige denn in der Kirche, sondern hocke bei Wasser und Brot, in Ketten und Banden, hinter Schloß und Riegel in irgendeinem finsteren Loch. Das würde Ihnen nahegehen. Wollen wir es darauf ankommen lassen?»
«Um Himmels willen! Das sind ja schauderhafte Bilder, die Sie da entwerfen. Wo wollen Sie nur damit hinaus?»
«Nirgends hinaus. Nur bei mir selber bleiben will ich. Etwas anderes will ich ja gar nicht.»
«Nun ja, ich gefalle Ihnen nicht. Das ist nicht Ihre Schuld, und ich habe Ihnen keinen Vorwurf zu machen. Sie können mich nicht liebhaben. Das ist es. Habe ich recht, Fräulein Helga?»
«Nein, ganz und gar nicht. Das Liebhaben, das würde ich bald heraushaben. Das ist etwas, was sich lernen läßt. Das hab’ ich schon an meinen Eltern bemerkt, und auch an mir selber. Also Lieben, das ist das wenigste. . . »
Schon wollte ich mich über dieses Thema verbreiten, als ich noch rechtzeitig bemerkte, daß ich mich damit in ein gefährliches Fahrwasser begebe, und darum schwieg ich.
Wir sahen uns die Wachspuppen an, die’s da drinnen so leicht und lustig hatten. Eine Bahn nach der andern fuhr vorüber. Es war Zeit, daß ich heimkam.
«Herr Bebenrot, darf ich Sie nicht doch mit meiner Freundin bekannt machen. Sie ist Retuschöse und Kopiererin im Atelier Müller, an den Norderhofenden. Es könnte doch sein, daß sie einander gefallen.»
«Sie sind sehr liebenswürdig, Fräulein Helga. Aber Sie bemühen sich unnötig.»
«Das können Sie doch nicht wissen, ob ich mich unnötig bemühe. Werde mich vielleicht noch oft unnötig bemühen. Das ist meine Sache. Und ich tu es doch so gern für Sie. Was ich nur kann, will ich für Sie tun. Nicht ruhen werde ich, bis Sie glücklich verheiratet sind und die Erbschaft gemacht haben. Wenn ich eine Sache in die Hände nehme, ruhe ich nicht eher, bis es klappt. Die Geschichte selbst läßt mir keine Ruhe. Wissen Sie, ich habe heute früh etwas schußlich gebetet, aber Sie dürfen versichert sein, daß ich es ganz korrekt nachholen werde. Und mit Guschi Krümel werde ich morgen abend sprechen. Das kann auf keinen Fall schaden.»
«Seltsam, gestern waren Sie so entgegenkommend. Ich verstehe ja, meine Anfrage kam Ihnen etwas plötzlich. Können Sie sich nicht noch einmal prüfen, ob. . . »
«Herr Bebenrot, ich bitte, fangen Sie nicht wieder davon an. Ich habe mich genug geprüft. Gestern abend und heute morgen, und zwar gründlicher, als Sie annehmen.»
«Gut, Fräulein Lund, es ist gut. Aber müssen Sie jetzt nicht die Bahn nehmen?»
Sobald er mich losließ, hatte ich wieder Zeit für ihn. Guschi Krümel bekam er nicht zur Frau, dafür aber machte ich eine andere Freundin auf ihn aufmerksam, mit der Herr Bebenrot Glück hatte, so daß ich mich wieder frei fühlen durfte.