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» … Es hätte schlimmer sein können.«

Die Referentin beendete ihren letzten Satz und schwieg. Ein kurzer Moment der Stille hielt Einzug in den Saal, der mit ungefähr hundertfünfzig Plätzen bestückt und von denen nicht einmal die Hälfte besetzt war. Es dauerte einen Moment, bis das Publikum begriff, dass die junge Frau, die ich auf Anfang zwanzig geschätzt hätte, mit ihren Ausführungen fertig zu sein schien. Doch schließlich applaudierten die rund sechzig Menschen. Eine leichte Spur von Erleichterung war in ihrem Gesicht zu erkennen, während sie noch immer vor ihren Zuhörern am Rednerpult stand und auf anschließende Fragen wartete. Wie es beinahe schon zu erwarten war, blieben diese Fragen jedoch aus. Das Referat war zu Ende.

Nachdem ich im Urlaub meine Erkältung etwas auskuriert hatte, befand ich mich eine Woche drauf an der Berufsschule, wo ich meiner theoretischen Ausbildung nachging. Ich hatte noch einige Stunden zu absolvieren, ehe der Tag hinter mir liegen sollte. Als Wahlpflichtangebot belegte ich das Fach Psychologie und bekam die ersten beiden Stunden frei, um mir dieses Referat zu Gemüte führen zu können. Das Angebot meiner Psychologie-Lehrerin nahm ich dankend an. Als ich zusagte, tat ich das aber nicht, weil ich an einem ellenlangen Vortrag interessiert war, bei dem eine mir fremde Frau über das Leben schwadronierte. Vielmehr konnte ich so einem Test in Elektrotechnik entgehen, für den zu lernen ich aus irgendeinem Grund nicht bereit war.

Inzwischen kann ich aber sagen: Ich bin froh, hier gewesen zu sein. Die junge Dame hatte in den letzten Minuten wirklich eine Menge Interessantes zu berichten. Wie sich herausstellte, hatte sie es im Leben oft nicht leicht. Sie wurde früh Zeuge eines Gewaltverbrechens, bei dem ihre beiden Eltern ihr Leben verloren. Sie wuchs bei ihren Großeltern auf, der Mann ein Trinker, die Frau schon verhältnismäßig früh an Alzheimer erkrankt. Bei all den Strapazen zog die junge Sprecherin ein bemerkenswertes Fazit, das sie immer wieder wiederholte und auch ein allerletztes Mal an das Ende ihres Referates stellte: »Es hätte schlimmer sein können.« Menschen mit einer solchen Einstellung faszinierten mich. Es gehört schon eine Menge dazu, unter solch widrigen Umständen nicht in Selbstmitleid zu versinken, sondern sich an dem zu erfreuen, dass einem das Leben sonst noch so bietet. Von meiner eigenen Warte aus würde ich allerdings behaupten, dass man mit so einer Einstellung gar nicht so schlecht lebt. Schon während des Vortrages habe ich gemerkt, dass ich mich mit dem Thema weitaus besser identifizieren kann, als ich es zunächst für möglich hielt. Auch ich war mal in einer ähnlichen Situation widerferentin.

In meinem Fall hat das jedoch weniger etwas mit einer schweren Kindheit zu tun. Mitnichten. Als Kind hatte ich alles. Meine Eltern taten ihr Möglichstes, um mir jeden Wunsch zu erfüllen. Mit dem Kindsein war es dann aber schlagartig vorbei, als mein Vater an Krebs verstarb. Damals war ich siebzehn. Sein Leiden dauerte nicht enden-wollende sechs Monate. Am Ende musste man als Angehöriger froh sein, dass seine Qualen mit dem Tod vorbei waren. Aber ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen. Noch im selben Jahr bin ich dann von der Schule geflogen. Ich war kaum noch dort. Nach dem Tod meines Vaters baute ich eine Barriere um mich herum auf, ließ nichts und niemanden an mich heran. Wann immer ich konnte, blieb ich der Schule fern. Ich erreichte das Klassenziel nicht, das Jahr wiederholen durfte ich auch nicht – ich absolvierte es bereits zum zweiten Mal. Ohne das Abitur in Händen, fing ich eine Lehre an – zum Mediengestalter für Digital- und Printmedien. Damals glaubte ich, das wäre etwas für mich, dabei kann ich kaum einen Bleistift gerade halten. Zeichnerisches Talent schadet in dem Beruf aber nicht. Ich schmiss die Lehre fast so schnell wieder hin, wie ich sie begonnen hatte.

Die Misserfolge frustrierten mich, irgendwann war das Maß voll. Ich schlief nicht mehr, stattdessen plagten mich nachts starke Magenkrämpfe.

Wie sich nach zahlreichen ergebnislosen Untersuchungen herausstellte, waren diese Schmerzen psychosomatischer Natur. Eineinhalb Jahre und die Hilfe einer Fachärztin waren nötig, damit ich heute hier sitzen konnte – beschwerdefrei. Sie gab mir einen Rat, den ich von jetzt an als so etwas wie meine Philosophie ansehen wollte. Diese Philosophie deckte sich mit den Erkenntnissen der Frau, die noch vor wenigen Minuten zu mir und einigen anderen sprach. Wann immer es mir in der Zukunft an etwas fehlen sollte, würde ich mich an die Vergangenheit zurückerinnern. Dann würde ich feststellen, dass es Zeiten in meinem Leben gab, die übler waren als das, was vor mir läge. Vermutlich würde auch ich mir dann sagen: »Es hätte schlimmer sein können.«

Ich saß noch immer in der Aula und spielte mit dem Gedanken, in den Unterricht zurückzukehren. Dabei war die zweite Unterrichtseinheit, für die man mich freistellte, noch nicht vorüber. Zum Glück bin ich sitzengeblieben. Denn hätte ich das nicht getan, wäre mir entgangen, mit wem die junge Referentin jetzt den Platz am Rednerpult tauschte. Eine schlanke Frau mit kurzem schwarzem Haar löste sie unter dem Applaus der noch verbliebenden Zuhörer ab. Als sie sich den Menschen im Saal zuwandte, blickte ich in ein vertrautes Gesicht. Sie war diejenige, der ich so viel zu verdanken hatte, die mir eineinhalb Jahre mit Rat und Tat zur Seite stand – die Fachärztin für Psychologie, Dr. Isabel Hofmann.

Warum sollte es anders sein?

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