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»Haben Sie diese Schmerzen sehr häufig und waren sie schon immer gleich stark?«, erkundigte er sich, während er sich mit seinem Stuhl leicht nach links drehte. Sein Blick fiel jetzt auf den Monitor vor sich. Vor mir saß Dr. Ulbrich – erneut. Wir befinden uns nun an einem Punkt, an dem sich meine Geschichte langsam aber sicher zuspitzte.

Ich war hierher gekommen, nachdem mich die vermeintliche Erkältung binnen weniger Wochen ein zweites Mal heimsuchte.

Nach zwei Stunden Warten gab man mir wieder zur Begrüßung die Hand. Ich hockte auf einem durchgesessenen Stuhl und schilderte ihm mein Problem. Ich erklärte, dass der Husten zurück war, weitaus heftiger als noch beim ersten Mal. Das war nicht schwer auszumachen – ich hustete ständig. Der Husten war aber beileibe nicht das einzige Symptom. Wir beschäftigten uns mehr mit Nadelstichen in meiner Brust, die mich seit einigen Tagen plagten. Wieder scheute ich zunächst den Gang zum Arzt und unterdrückte die Schmerzen stattdessen mit einfachen Mitteln aus der Hausapotheke. Ihre Einnahme war für mich so selbstverständlich wie das morgendliche Zähneputzen. Erst als ich sie vergaß und mich das Stechen bei der Arbeit quälte, schickte man mich hierher. Von selbst wäre ich womöglich nie gekommen. Nun ja, wenn ich nun schon einmal hier war, wollte ich dem Herrn Doktor seine Arbeit auch so einfach wie möglich machen. Darum beschrieb ich alles so detailliert wie möglich.

»Momentan habe ich die Schmerzen wirklich sehr oft, anfangs war das nicht so. Ich habe versucht, sie mit Schmerztabletten zu lindern.« Dr. Ulbrich hämmerte jede Information in seinen Computer.

»Was waren das für Tabletten?«

»Einfache Tabletten aus der Apotheke, die gegen Kopf, Hals-, Gliederschmerzen und dergleichen helfen sollen. Nichts Besonderes, der Name fällt mir jetzt auch nicht ein.« Ich konnte ihn auch nicht überprüfen, da ich die Schachtel zu Hause liegengelassen habe.

»Und, helfen sie denn …?«, fragte Ulbrich nüchtern.

»Ja, sehr gut sogar. Die Schmerzen in der Brust sind dann für ein paar Stunden wie weggeblasen. Nur gestern habe ich sie vergessen und …«

»Dann können Sie diese Tabletten ruhig weiter nehmen. Natürlich nie mehr als nötig, sollte klar sein. Solche Medikamente schlagen häufig auf den Magen.« Er fiel mir ins Wort, einfach so. Dr. Ulbrich interessierte sich wohl nicht für die Umstände, wieso ich hier war. Ich hätte ihm jetzt erzählt, dass mich mein Meister schickte, weil er von meinen Problemen Wind bekam. Aber es genügte ihm wohl, sich auf rein medizinische Fakten zu beschränken. Trotzdem, welcher Arzt lässt seine Patienten nicht ausreden?

»Wann treten die Schmerzen meist auf? Am Tag oder in der Nacht?«, wollte er jetzt wissen.

»Unterschiedlich«, antwortete ich. Ich machte eine kurze Pause und präzisierte meine Aussage:

»Ich denke nicht, dass die Tageszeit dabei eine Rolle spielt.«

»Na gut … Haben Sie ohne die Tabletten mal ein oder zwei Stunden ohne das Stechen in der Brust?« Eigentlich wollte ich noch einen kurzen Moment über diese Frage nachdenken. Aber aus irgendeinem Grund sagte ich völlig unbekümmert:

»Nein nicht wirklich, die Schmerzen sind eigentlich so gut wie immer da.« Es stimmte, nur war ich mir dessen gar nicht so recht bewusst. Jedenfalls bis jetzt nicht. Irgendwie hatte ich gar nicht bemerkt, dass die tägliche Einnahme der Tabletten für mich inzwischen so gewöhnlich war, wie das Verschließen der Haustür. Dabei war es alles andere als gewöhnlich. Es war unnatürlich, einen stechenden Schmerz in der Brust als ständigen Begleiter zu haben und diesen so wenig loswerden zu wollen … Loswerden … Loswerden … Ich muss dieses elende Stechen loswerden … Immer wieder schossen mir diese Worte jetzt durch den Kopf. Eine Zecke, die sich am eigenen Leib festsaugt und einem allmählich das Blut aus den Adern zieht, wollte man ja auch so schnell es geht von sich haben. Dieser stechende Schmerz war etwas Vergleichbares. Unerwünscht, unerträglich und absolut unnormal. Warum in alles in der Welt tat ich also nicht mehr als ihn mit Hilfe von Tabletten zu ignorieren? Als mir das klar wurde, überkam mich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

»Was denken Sie, was es sein könnte?«, während ich ihm diese Frage stellte, versuchte ich selbst zu unterbinden, mir das auszumalen.

»Das kann ich jetzt noch nicht so recht sagen. Ich schlage vor, wir machen ein paar Thorax-Röntgenaufnahmen, dann wissen wir vielleicht mehr.« Im Grunde teilte er mir auf eine subtile Art mit, dass er im Moment keine Ahnung hatte, was mir fehlte.

»Die Röntgenabteilung ist im Kellergeschoss des Ärztehauses auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Am besten Sie gehen jetzt gleich dorthin. Dann habe ich spätestens morgen früh die Ergebnisse. Für den Rest der Woche stelle ich Ihnen einen Krankenschein aus. Als reine Vorsichtsmaßnahme, wir wissen ja noch nicht, womit wir es zu tun haben«, er lächelte. Dr. Ulbrich ging ehrlich mit seiner Unwissenheit um. Diesmal bediente er sich nicht seines Stethoskops um mich abzuhorchen. Er schaute mir auch nicht in den Rachen mittels eines dieser elenden Holzstäbchen, wobei man krampfhaft versuchen soll »Ahhh« zu sagen. Und er leuchtete mir nicht mit einer irrsinnig hellen Lampe die Augen aus. Wohl wissend, dass all das wahrscheinlich eh nichts gebracht hätte. Stattdessen sagte er eben Dinge wie: »Wir wissen ja noch nicht, womit wir es zu tun haben«, und grinste dabei wie blöd. Ich wusste nicht recht, was ich von der Art halten sollte, mit der man mir hier begegnete. Eines musste man ihm zugutehalten: Seine Methode war die ehrlichere. Auf der anderen Seite hätte mir ein Quäntchen Scheinheiligkeit wohl nicht geschadet.

Ulbrich hatte, während ich gedanklich mal wieder etwas abschweifte, den Krankenschein fertiggestellt. Er überreichte ihn mir, gab mir erneut die Hand und sagte:

»Wir sehen uns dann morgen!«

»Ja. Danke, bis morgen dann«, antwortete ich und verließ das Behandlungszimmer.

Es waren wirklich nur wenige Schritte bis zum Ärztehaus. In dem muffigen Kellergeschoss, das man hier Röntgenabteilung nannte, verbrachte ich noch etwas mehr als zwei geschlagene Stunden, gemeinsam mit unfreundlichen, scheinbar überarbeiteten Krankenschwestern und anderen genervten Patienten. Die Prozedur selbst dauerte ironischerweise keine fünf Minuten. Exakt den Anweisungen der mich fast anbrüllenden Schwester folgend, machte ich den Oberkörper frei, stellte mich gegen eine beleuchtete Tafel, nahm die Arme nach oben und hielt auf Kommando kurz die Luft an, fertig. Ich warf mir meinen Pullover über und verbrachte noch ein paar Minuten im Wartezimmer. Nur für den Fall, dass die Aufnahmen nicht gelungen waren und neue angefertigt werden müssten. Die Schwester aber war zufrieden und es bestand keine Notwendigkeit mehr für mich, hier noch länger zu verweilen.

Zuhause angekommen rief ich direkt meinen Meister an. Ich musste ihn ja zumindest über meine Krankschreibung informieren. Während ich den Hörer in die Hand nahm und die Telefonnummer eintippte, überkam mich ein ungutes Gefühl. Sicherlich würde er nicht sehr erbaut darüber sein, dass ich zwar krankgeschrieben wurde, ich ihm aber nicht sagen könne, was mir fehle. Das Unbehagen legte sich schnell, als mir anhand seiner Reaktion und Stimmführung klar wurde, dass er in keinster Weise verärgert war. Ich erklärte, dass ich morgen noch einmal bei Dr. Ulbrich bestellt sei und vielleicht wüsste ich dann schon etwas mehr.

»Na gut, dann rufen Sie morgen noch mal an, ja? Ach, und den Krankenschein schicken Sie bitte her, ich brauche ihn für die Abrechnung«, klang es aus dem Hörer.

»Ja sicher, werde ich machen!« Nachdem er mir noch eine gute Besserung und einen schönen Tag wünschte und ich es ihm gleichtat, war das Telefonat erledigt. Alles halb so wild!

Am Tag vor dem Thorax-Röntgen ermutigte mich der Gedanke, dass ich womöglich schon bald wissen würde, was mir fehlte. Ich hielt nichts für schlimmer als die eigene Ungewissheit. Diese Gedanken würden bald ein Ende haben. Ich sollte schon bald über mich Bescheid wissen. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich vielleicht lieber unwissend geblieben wäre.

Warum sollte es anders sein?

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