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ERSTES KAPITEL

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Zehntausend Meilen hinter der Kimm


Der Sarg war aus Kistenholz, sechs Männer trugen ihn, gebückt unter der leichten Last, als drücke die Sonnenglut sie nieder. Ein langer Zug Deportierter gab dem toten Kommunarden das letzte Geleit, und dicht hinter dem Sarg schritten die wenigen Frauen des Lagers. In der ersten Reihe der Männer befanden sich der Journalist Paschal Grousset und dessen Freund, der ehemalige Marineoffizier Roger Kervizic, der öfter seinen Blick auf eine der Frauen richtete. Sie erschien größer, da sie erhobenen Hauptes ging. Als sie sich kurz umwandte, um den Zug zu überschauen, sah Kervizic die Trauer in ihren großen dunklen Augen. Louise Michels Gesicht wirkte herb, der selbstbewusste Blick, die lange gerade Nase, der dünnlippige Mund verrieten Intelligenz und Tatkraft.

Ein Engpass war erreicht, hier musste eine Felsstufe erklommen werden. Die Männer halfen den Frauen, Kervizic reichte Louise Michel die Hand. Sie sagte leise danke, dabei glitt ihr Blick prüfend über sein Gesicht, und er wusste, sie hatte einige Fragen auf dem Herzen.

Andere Männer übernahmen den Sarg, wie ein altersschwacher Nachen schwankte er vor dem schweigenden Zug her. Am Ende des mühevollen Aufstiegs hoben viele Hände den Schrein von den Schultern der Träger und stellten ihn sanft neben das Erdloch. Es war kaum einen Meter tief. Überall unter dem gelbgrauen Sand der Halbinsel trat bröckliges Gestein zutage. Es hatte die Kameraden des Verstorbenen Anstrengung gekostet, mit unzulänglichem Grabzeug die flache Grube auszuheben.

Dichtgedrängt standen die Trauernden auf dem kleinen Areal mit den vielen Kreuzen aus Treibholz, auf denen die eingekerbten Namen bald verwittert sein würden. Die Deportierten nahmen ihre Kopfbedeckungen ab, speckige Mützen, ausgebleichte Kappen, selbstgeflochtene Sonnenhüte. Der Sarg wurde hinabgelassen, es polterte dumpf. Paschal Grousset trat an die Grube, er hielt die Hände zu Fäusten verkrampft. Nicht zum ersten Mal sprach er die Abschiedsworte für einen toten Kameraden, und jedes Mal hatte er versucht, durch alle Trauer Zuversicht hindurchleuchten zu lassen. Den Hass in seiner kurzen Rede dämpfte er nicht, er erinnerte daran, dass wieder einer fortgegangen war, zu den gemordeten Kämpfern an der Mauer der Föderierten, zu den Gefallenen auf den Barrikaden, zu den Toten der unvergesslichen zweiundsiebzig Tage.

Nacheinander traten die Frauen vor, jede streute weiße und rote Blüten auf den Sarg, Blumen, die an wenigen Sumpfstellen des Strandes von Ducos wuchsen. Die letzte Deportierte trat vom Grab zurück, und dumpf kam es aus vielen Mündern: "Es lebe die Kommune!"

Unbeweglich verharrten alle in einer Minute des Schweigens. Roger Kervizic stand etwas erhöht, sein Blick wanderte hinunter zur seewärts gelegenen Seite der Halbinsel. Dort unten, hinter dem spärlichen Pflanzenwuchs des Strandes, begann das blanke Wasser mit der Kette seiner Korallenbänke und dem weißen Gischtgürtel, und wo der Azur des Ozeans mit dem Grau des Horizonts verschmolz, zehntausend Meilen hinter der Kimm, lag Frankreich. Einen Augenblick vergaß Kervizic alles um sich, vom Wort Heimat herbeigezaubert, tauchten Gesichter und Bilder auf. Sehnsucht war sekundenlang heißer, körperlicher Schmerz, und sein Ich war erfüllt von dem einen Gedanken, die Flucht muss gelingen, muss, muss, muss.

Einige Kameraden ergriffen die primitiven, selbstgefertigten Schaufeln, schippten mit Bedacht; kein lautes Geräusch sollte die feierliche Ruhe stören. Grousset trat vom Grab zurück. Er hatte den ordnungsgemäßen Vollzug der Bestattung in der Verwaltung zu melden. In losen Gruppen zogen die Trauernden wieder hinunter in die Senke, zu den Zelten, Baracken, Bretterbuden.

"Nun, Freunde? Wann sticht die 'Plymouth' in See?" Louise Michel fragte es in gedämpftem Tonfall und trat mit den beiden Männern den Rückweg an.

"Es ist noch schwieriger geworden, Informationen zu bekommen", antwortete Grousset. "Madame Tichy, eine von den fünfundsiebzig Frauen, die ihren Männern hierher nachgeschickt wurden, hat nun auch ihre Arbeit in Nouméa verloren, nachdem man ihr dreimal hintereinander den Tagespassierschein zu spät aushändigte.

"Hoffentlich ist die 'Plymouth' nicht nur de jure ein britisches Schiff?" Louise Michels Besorgnis war nicht abwegig, es trieben sich genug Segler auf den Meeren herum, deren Ursprungsland sich ganz woanders befand, als Flaggen und Schiffspapiere auswiesen. Allerdings konnte man die Frage auch als Kritik für mangelhafte Nachrichtenarbeit auffassen. Deshalb schnurrte Kervizic ein wenig ironisch herunter: "Heimathafen der Viermastbark 'Plymouth' ist Bristol; dürfte nur mäßig hoch bei Lloyds versichert sein, da noch recht seetüchtig. Segelt unter dem Kommando des Kapitäns Anthony Darnbridge, der kein Freund der Versailler ist, weil er Thiers des versteckten Bonapartismus bezichtigt."

Louise Michel gefiel die freundschaftliche Ironie Kervizics, umso mehr, als nicht nur die Männer des Lagers sie mit betonter Ehrfurcht behandelten, sondern auch die siebzehn Gesinnungsgefährtinnen. Zudem mochte sie den welterfahrenen Leidensgenossen besonders. Mit der Figur eines Athleten, den blauen Augen und blonden Haaren erinnerte er an einen Wikinger. Louise Michel lächelte ein wenig wehmütig, wenn sie daran dachte, dass sie über vierzig Jahre alt war, er dagegen nicht viel älter als dreißig. Auf seinen Ton eingehend, sagte sie: "Wann die 'Plymouth' ausläuft, scheint mir allerdings am wichtigsten für euch."

"Der Kapitän weiß es selbst noch nicht", sagte Kervizic. "Es soll zeitraubendes Hin und Her mit einem der reichsten Händler von Quen geben, der in Nouméa verladen lässt oder in Yate, je nachdem, von welcher seiner Plantagen die Güter kommen."

Grousset bewunderte den Freund wegen seiner Geduld, denn er bereute manchmal, der gutherzigen Louise von seinen Fluchtgedanken gesprochen zu haben, ziemlich überzeugt, sie würde von dem abenteuerlichen Plan abraten. Aber sie hatte vorwurfsvoll festgestellt, endlich habe ein Kamerad den Einfall. Was wäre wohl notwendiger als die Flucht nach Europa, um dort das öffentliche Gewissen gegen die Schande von Neukaledonien aufzurütteln. Und ehe Grousset den Vorschlag aussprechen konnte, hatte sie bereits erklärt, wenn Roger Kervizic mitmache, sei das die beste Chance für ein Gelingen der Flucht. Insgeheim verglich Grousset Louise manchmal mit einer Glucke, die junge Entlein ausgebrütet hat. Ansonsten respektierte er ihre überragenden Eigenschaften nicht weniger als die meisten anderen Deportierten.

Kervizic gehörte zu den vorbehaltlosen Verehrern Louises. Er sah in ihr eine Jeanne d'Arc der Kommune. Sie gehörte zu jenen Menschen, die ohne besonderes Zutun stets schnell die geistigen Fäden einer Gemeinschaft in der Hand haben. Ihre sprichwörtliche Bescheidenheit war das Resultat bewusster Selbsterziehung. Sie fürchtete nichts mehr als die Verführung durch die Macht. Louise misstraute allen Ämtern und Institutionen, Parteien und Vereinigungen, überzeugt, früher oder später entwickelten sie sich zu Apparaturen des Machtmissbrauchs. Darin steigerte sie sich leicht ins Extrem. Über solche und ähnliche Fragen stritt sich Grousset gern mit ihr. Aber für sie gab es kein wichtigeres Thema mehr als das Fluchtunternehmen. Sie wollte es sowohl als revolutionäre Tat wie auch als politischen Auftrag verstanden wissen.

Kervizic sagte nachdenklich: "In zwei Tagen ist Neumond. Dann müssen wir hinüber zur 'Plymouth’. Weiß der Teufel, wann wir wieder eine ähnliche Chance haben."

In der Befürchtung, es könnte ein unersprießliches Wenn und Aber Louises geben, präzisierte Grousset: "Kurz nach elf Uhr abends müssen wir los. Die Hafenpolizei macht ihre Kontrollfahrten um acht, um elf, um zwei und um fünf Uhr. Wir hoffen, für den halben Kilometer nicht viel mehr als eine Stunde zu brauchen."

Louise Michel hatte aufmerksam zugehört, doch ehe sie eine Frage aussprechen konnte, nahm Grousset abermals das Wort. Als er heute wegen der Beerdigung auf der Verwaltung gewesen sei, habe ihn ein Kamerad, angesprochen, den er in seinem bejammernswerten Zustand nicht erkannt hätte. Die Verhältnisse auf der Ile de Pins müssten noch mörderischer sein als auf Ducos, denn einst sei Jourde, Journalist und Schriftsteller ein lebensprühender Kerl gewesen.

Auf der Ile de Pins, über fünfzig Kilometer entfernt von der Südostspitze Neukaledoniens, erinnerte Kervizic, würden sie weit weniger Chancen zur Flucht haben, obwohl die Deportation dorthin juristisch die mildere Variante der Verbannung darstelle.

Wegen angeblicher Unstimmigkeiten in seinen Papieren, fuhr Grousset fort, sei Jourde nach Ducos geholt worden. Sie konnten sich unbeobachtet sprechen und Jourde habe ihm Aufzeichnungen übergeben, da er fürchte, seine Tage seien gezählt. Grousset legte die Hand auf die Stelle, wo er im wasserdichten Brustbeutel neben den eigenen nun auch die Aufzeichnungen Jourdes bewahrte. "Das wird sich dem europäischen Gleichmut in die Haut brennen - wenn uns die Flucht gelingt."

Die Frauen hatten haltgemacht und warteten auf Louise Michel. Sie blieb stehen und sah Grousset an. "Es gibt keine bedeutsameren Aufgaben für einen Journalisten, als Menschengewissen wachzurütteln. Dann wandte sie sich an beide Freunde. "Seien Sie stark, geschickt und ausdauernd. Mein brennender Wunsch: Es soll Ihnen gelingen. Will einmal die Zuversicht Sie verlassen, dann denken Sie daran, Sie müssen Tausenden gefangener Kommunarden das Leben retten." Wie stets, wenn sie ergriffen war, hatte Louise Michel mit Pathos gesprochen. Bewegt drückte sie den Freunden die Hand und wandte sich rasch ab. In ihrer aufrechten Haltung ging sie den Kameradinnen nach, die der abseits gelegenen Frauenbaracke zustrebten.

Kervizic und Grousset sahen bereits den kleinen Trupp der Männer auftauchen, die, müde von der traurigen Arbeit des Begrabens, sich Zeit ließen auf ihrem Weg zurück ins Lager, zurück in die Misere des Untätigseins.

"Wie war denn der Vormittag, hat er sich gelohnt?", fragte Grousset.

Kervizic murmelte noch im Nachhinein einige Flüche. "Eine Satansarbeit." Das heillos verfilzte Tauwerk eines Segelkahns war in Ordnung zu bringen gewesen. Eines jener Boote, die Ducos mit Ware beliefern, wäre bei plötzlich einfallender Bö durch ein ungeschicktes Halsen beinahe gekentert. Der Besitzer, Cagonard, ließ die Ducos-Geschäfte durch seinen Superkargo abwickeln. Monsieur Volvet war ein besserer Handelsmann als Segler, und der Gedanke, was er auszustehen gehabt hätte, wäre die Ladung auf dem Grund der Bucht gelandet, hatte ihm arg zu schaffen gemacht.

Ein derart erschrockener Mann war ein dankbarer Gesprächspartner, und in der Unterhaltung hatte Kervizic vom Ärger des Kapitäns Darnbridge mit Cagonard erfahren, der verlangte, die "Plymouth" solle auch in Yate Fracht aufnehmen, bevor sie nach Europa zurück segele.

"Ich habe das ganze Boot gründlich durchstöbert." Kervizic grinste verschmitzt. „Schließlich brauchte ich Ersatztauwerk und Handwerkszeug. Ich fand beides." Er machte eine bedeutungsvolle Pause und berichtete mit fast knabenhaftem Stolz: "Außerdem ein Seemannsnähbesteck, Schwefelhölzer, ein Klappmesser und - den Clou des Ganzen - eine alte Landkarte von Neukaledonien. Ich habe alles in dreckige Guttapercha gewickelt, in einen löchrigen Eimer getan, obendrauf faulige Lumpen und das an den Posten vorbei zu den Abfalltonnen hinter dem Verwaltungsblock getragen. Keinem verlangte danach, den stinkigen Eimer zu durchsuchen. Aber nach Beendigung der Arbeit haben sie mich gleich am Ende des Landungsstegs gefilzt. Später holte ich mir dann von den Tonnen, was man wohl als ehrlichen Lohn für eine ehrliche Arbeit betrachten darf."

"Galgenvogel." Grousset stupste den Freund anerkennend, ehe er sich eilig entfernte. Wahrscheinlich würde er wegen seiner Verspätung auf der Verwaltung Ärger haben. Er erreichte den mit Richtpflöcken markierten Weg, der einst zur Straße hatte ausgebaut werden sollen und dann liegengeblieben war, versandet, wie alle begonnenen Projekte. Vom schnellen Gehen schweißnass, war Grousset trotzdem gut gelaunt, er dachte, wie Roger jene Kostbarkeiten aus dem Kahn zu schmuggeln gewusst hat, ist charakteristisch für ihn. Louise schätzt seine Lebenstüchtigkeit besonders. Erstaunlich, dass Roger aus einer jener begüterten Familien stammt, die meist ihre Kinder verhätscheln und für ein raues Leben untauglich machen. Vielleicht hat ihn gerade deswegen der Vater in eine der härtesten Schulen gegeben. Es klingt wahrlich nicht spaßig, was Roger von seiner Zeit als Seekadett erzählt. Kleinste Verstöße wurden mit der neunschwänzigen Katze geahndet. Klettern an rostigen Ketten oder Hangeln an Stahltrossen mochte blutige Hände geben, wer aber seinen Schmerz zeigte, der wurde vor versammelter Mannschaft lächerlich gemacht. Für gutes Schießen gab es Landurlaub, für schlechtes Schießen Arrest. Englisch und Spanisch waren Pflichtfächer, wer seine Lektion nicht gelernt hatte, bekam einen Tag lang nichts zu essen. Nicht zuletzt auch gegen derartige Menschenverachtung haben wir auf den Barrikaden gestanden, dachte Grousset, aber was hat den Freund stark gemacht? Dieser Widerspruch beschäftigte den Journalisten nicht zum ersten Mal. Die Kommissköpfe einer zum Abtreten reifen Gesellschaft drillten junge Männer zum Schutz dieser Gesellschaft. Niemand hätte sagen können, wie viele aufgrund der unmenschlichen Methoden zerbrachen, wie viele desertierten und dann fast zwangsläufig kriminell wurden. Der größere Teil ließ sich abrichten zum Kriechtier oder zum Hetzhund, der kleinere Teil gewann das andere Ufer. Rogers geistige Regsamkeit hatte ihm sicherlich geholfen, fortschrittliche Ideen aufzunehmen. Doch wann, wie ist das geschehen? Kann ein Mensch sagen, an dem und dem Tag bin ich Revolutionär geworden? Es gibt doch ebenso intelligente Burschen auf der Gegenseite, weshalb hat nicht auch ihnen das Licht der Erkenntnis geleuchtet?

Grousset näherte sich eilig dem Verwaltungsgebäude, das gegen die starke Sonnenstrahlung durch einen weißen Anstrich geschützt war. Der begrünte Innenhof war eine Augenweide. In der Mitte des geräumigen Patios sprudelte ein Springbrunnen. Ingenieure und Techniker aus den Reihen der Deportierten hatten eine Apparatur installiert, ähnlich jenen Schöpfwerken mit Schneckengetriebe, die den Bauern am Nil seit Jahrtausenden ihre Felder bewässern. Durch ein Göpelwerk getrieben, wurde das Wasser aus einem Brunnenloch in der Nähe des Strandes geschöpft und zu einem Bassin im Felsgestein oberhalb des Verwaltungsbaues befördert, aufgrund der Fallkraft erzeugte es im Innenhof eine Fontäne, die angenehme Kühle und das Geräusch erfrischenden Regens spendete. Die Maden, wie die Deportierten die Leute der Verwaltung nannten, waren weniger an ihren Amtstischen zu finden als auf den Bänken des Laubenganges um den Patio. Häftlinge hatten diese Oase schnellen Fußes zu durcheilen, hätte sich einer hier nur fünf Minuten erquickt, drei Tage Arrest in dunklem Felsloch wären ihm dafür sicher gewesen.

Grousset vermied es grundsätzlich, den Patio zu betreten. Denn es gab Maden wie auch Offiziere, die aus sadistischem Spaß behaupteten, ein Gefangener habe die Hände ins Becken gehalten, sich die Stirn mit Wasser gekühlt.

Das Zimmer mit der Häftlingskartei, den Journalen für die Eingänge und für die Abgänge, wie man die Verstorbenen hierorts bezeichnete, lag im ersten Stock. Der amtlich bestallte Journalführer war wieder einmal nicht anwesend, das hieß, er erholte sich beim Brunnenplätschern vom schweren Tagewerk. Grousset verspürte keine Sehnsucht nach drei Tagen Arrest, also musste er warten. Er setzte sich so, dass er nicht überrascht werden konnte. Durch ein weitgeöffnetes Fenster drang das wohltuende Geräusch der Fontäne. Die Wasserkunst war ein Symbol dafür, was Hirne zu bewegen, Hände zu bewerkstelligen vermochten. Dass Ducos mehr Hölle als Oase wurde, lag nicht am Mangel von Arbeitskraft und Arbeitseifer. Bequemlichkeit und Schlamperei hatten jeden Tatendrang erwürgt. Nicht einmal die Gefangenenbaracken waren fertiggebaut worden.

Grousset empfand Genugtuung darüber dass der weiße Kastenbau, diese Zwingburg der Bedrücker, zugleich deren schwächsten Punkt bedeutete. Die Gefangenen, die hier arbeiteten, waren die Augen und Ohren der Kommunarden von Ducos.

Commissar Fenichon kam, und Grousset schnurrte seine Meldung herunter. Fenichon erkundigte sich voller Hohn, ob das Begräbnis etwa bis jetzt gedauert habe. Mit dem treuen Blick des erfahrenen Sträflings log Grousset dem Commissar ins Gesicht, seit einer Stunde sei er auf der Suche nach ihm; Fenichon war nicht dumm, hatte nur kein Gespür für versteckten Spott. Ständig forschte er nach einem doppelten Sinn in den Worten Groussets, manchmal, wenn er einen entdeckt zu haben glaubte, rächte er sich dafür mit wüsten Beschimpfungen. Heute war er zu allem zu träge. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass, wenn er seine Havanna aufgeraucht haben würde, für ihn Büroschluss sei. Diesen Genuss wollte er sich keinesfalls vergällen. Er hielt Grousset das Journal hin, der setzte seinen Schriftzug in die entsprechende Spalte, und Fenichon knurrte, er solle eilen, ihm aus den Augen zu kommen. Dieser Ärger mit den Abgekratzten stinke ihn so langsam an.

Das ist nun die Schlusszeremonie für einen dahingegangenen Kommunarden, dachte Grousset. Cochet hatte nicht wenige Zeichen seines Wirkens in der Zwingburg der Maden hinterlassen, an kunstvoll gefugten Treppengeländern, an Rahmen und Türen, Möbeln und Holzgerätschaft, all dem, was ein Gebäude bewohnbar macht. Zugleich Möbel- und Bautischler, Zimmermann und Drechsler, hatte er eine gutgehende Werkstatt in Paris besessen, doch weil seine Fortschrittsgläubigkeit ebenso stark war wie seine Werkbesessenheit, war er auf die Barrikade gegangen. Die entsetzliche Überfahrt, Hunger und Durst, allem hatte er widerstanden, gestorben war er, Mitte Fünfzig erst, als seine Hände zum Nichtstun verurteilt wurden, als die Arbeitslosigkeit zur härtesten Strafe auf Ducos wurde.

Grousset machte einen kleinen Umweg, vorbei an jener Plattform mit dem Göpelwerk. Der Esel, der es bewegte, hatte Bastkappen vor den Augen. Merkte er, dass er sich ständig nur im Kreis bewegte, er bliebe stehen, weder Schläge noch Schmeichelei brächten ihn von der Stelle, wusste Grousset, und er fand es nicht verwunderlich, dass es über den Esel vielerlei Fabeln gibt.

Das Plateau erlaubte einen unbegrenzten Rundblick über Reede und Hafen von Nouméa. Sehnsüchtig schaute Grousset hinüber zur "Plymouth". Es wäre wie ein Märchen, segelte das Schiff gleich davon, nachdem wir aufgeentert sind, dachte er. Leider geschehen Wunder selten, aber wie auch dieser Kapitän Darnbridge beschaffen sein mag, es heißt, er sei kein Anhänger der Versailler. Es heißt...? Man soll gleichlautende Informationen nicht anzweifeln, sonst könnten wir unsern Plan begraben. Schließlich basiert er darauf, dass wir dem Kapitän keine andere Wahl lassen, als zwei Menschen zu retten oder sie dem Tod auszuliefern.

Ein Offizier tauchte am Hauptweg zur Plattform auf, Grousset verschwand rasch in einen abschüssigen Seitengang, der in die Nähe des Strandes und von dort zum Lager führte. Die Sonne stand schon tief, Grousset traf einzelne Mitgefangene, tagsüber war das Lager eine menschenleere Einöde, alle hatten irgendeinen schattenspendenden Platz aufgesucht, der gegen die mörderische Tagesglut Schutz bot. Die Wüstenei machte auf den Uneingeweihten kaum den Eindruck eines Gefangenenlagers. Es stand nicht hinter jedem Gefangenen ein Wachtposten, man sah keine scherbengespickten Mauern, weder Stacheldrahtzäune noch Beobachtungstürme, das Areal der Frauen hatte lediglich eine symbolische Drahtumgrenzung.

Ein Gefangener löste sich von einer Gruppe an jener Sonnenschutzmauer, die Deportierte aus Felssplittern, Steinen und großen Muscheln aufgeschichtet hatten. Er kam auf Grousset zu und sagte: "Ich bin Emile Bapaume. Natalie lässt grüßen. Es geht ihr besser. Eine Pflegerin im Hospital tut für sie, was nur möglich ist."

"Natalie Lemel?" Grousset fragte, weil er Zeit gewinnen wollte, sich zu erinnern, woher ihm der Mann bekannt war.

"Natürlich", erwiderte der Gefragte, "ist denn noch eine andere Natalie im Hospital?"

"Du hast selber mit ihr gesprochen?"

Bapaume machte eine Kopfbewegung zu den Männern hin. „Jean Poctoire hat gestern im Hospital ein paar Fensterscheiben eingesetzt. Natalie lässt natürlich alle grüßen, aber Jean meinte, du kennst sie besser als die meisten."

Grousset fragte geradezu: "Bei welcher Gelegenheit sind wir uns eigentlich begegnet?"

"Als kaum noch Hoffnung auf den Sieg bestand." Bapaume sagte es mit dem Groll des vom Unrecht Geschlagenen. "Du kamst zu unserm Stützpunkt hinter der Barrikade in der Rue de Rivoli, glaubtest Kervizic ist bei uns. Wenigstens hattest du das neueste Exemplar deiner Gazette mitgebracht - und wohl auch das letzte. Ich habe mit dir geschimpft, ihr Federfuchser seht die Sache zu rosig. - Leider habe ich Recht behalten."

"Wer sah zu diesem Zeitpunkt noch richtig durch." Grousset ärgerte sich im selben Augenblick über seine lendenlahme Erklärung und stippte Bapaume freundschaftlich gegen die Brust. "Mangel an Verpflegung, Mangel an Munition, Mangel an Geschützen - sollten wir euch da noch das Herz schwer machen mit pessimistischen Artikeln?"

Ein wenig verweisend, fragte Bapaume: "Trinkst du nicht auch lieber reinen Wein?" Da seine direkte Art Grousset betroffen gemacht hatte, wurde. Bapaume versöhnlicher: "Lass gut sein, ihr habt es nicht böse gemeint." Er berührte den Journalisten am Arm. "Gehen wir ein Stück."

Bapaume erzählte, dass er den Namen Kervizic damals nicht zum ersten Mal gehört habe. Später habe er sich öfter gefragt, ob Grousset und Kervizic sich noch gefunden hätten.

Grousset beschäftigten Fragen über Natalie Lemel. Gibt es noch Hoffnung für sie? Wird man sie der Auszehrung noch einmal entreißen können?

Bapaume wiederholte die Frage, und Grousset entschuldigte sich für seine Geistesabwesenheit. Jene Tage wurden wieder in ihm lebendig. "Zu gern hätte ich ihn schon in Paris kennengelernt. Während ich Louise mehrmals inmitten des Kampfgeschehens fand und über sie berichten konnte, jagte ich dem legendären Roger Kervizic vergebens hinterher. Immer war er schon wieder woanders eingesetzt, um Feindeinbrüche abzudämmen, Ausfälle vorzubereiten. Erst hier auf Ducos trafen wir uns. Er kam mit demselben Transportschiff, das auch Louise und Natalie brachte. Wir Gefangenen standen am Strand, die Wachtposten hatten es aufgegeben, uns zurückzuscheuchen, es war schon schwierig für sie, den Landesteg frei zu halten. Dort legte immer nur eine Schaluppe mit Deportierten an, die Posten brüllten und stießen sie, als hätten sie Galeerensklaven, vor sich. Tausende Augen schauten aufmerksam, ob unter den Ankommenden ein Freund oder Bekannter sei. Zurufe suchten die sich Dahinschleppenden aufzurichten. Als letzter kam Roger Kervizic, er hatte schwächeren Kameraden aus dem Boot geholfen. Provozierend aufrecht ging er, und alle wussten, warum er es tat. Der Posten am Schluss wusste es auch. Mal ging er neben Roger, mal hinter ihm, behauptete, er trödle bewusst, und beschimpfte ihn unaufhörlich. Es gab eine kleine Stockung. Um seinen Vordermann nicht zu treten, blieb auch Roger einen Augenblick stehen. Es war ganz in meiner Nähe. Der Posten baute sich vor ihm auf und blökte aufreizend: 'Weshalb tanzt du dauernd deinen eigenen Tanz, du Dreckhaufen?' Ich sah, wie sich Rogers Faust ballte. Nur ein Gedanke beherrschte mich, der darf wegen einer Unbedachtheit nicht vor die Hunde gehen. Als Kervizic die Faust anhob, warf ich mich zwischen ihm und dem Posten auf die Erde, erhob mich sofort wieder und brüllte: 'Verzeihung, Monsieur Sergeant, mir ist mein Schneuztuch auf die Erde gefallen.' Der Kupon war einen Augenblick verdutzt, ich verschwand schnell in der Masse der Kameraden, und Kervizic folgte schon wieder seinem Vordermann, als habe ihn nie der Jähzorn gebeutelt."

Bapaumes bärtiges Gesicht mit den leicht entzündeten Augen verzog sich in gutmütigem Spott. "Es war Lagergespräch, Kervizic war der Held des Tages. Eigentlich ungerecht, denn er hatte euch beide in Gefahr gebracht."

Ein wenig verlegen strich Grousset sich über den Nasenrücken. "Die öffentliche Meinung honoriert mutiges Verhalten, ob es taktisch richtig ist oder nicht. Wer seinen Peiniger niederschlagen will, der ist ein Held, basta! Haben wir es ähnlich nicht oft genug in den Tagen der Kommune erlebt?"

Bapaume spürte, dass Grousset es eilig hatte, und so stellte er nur noch eine Frage. Er, Bapaume, wolle sich mit einigen Kameraden eine ähnliche Erdhütte bauen, wie Grousset und Kervizic sie hätten. Ob Grousset einige Tipps dafür wüsste?

Grousset bedauerte insgeheim, dass er nicht sagen konnte, spart euch die Mühe, in zwei Tagen könnt ihr unsre Hütte übernehmen. Andrerseits war Bapaume ein Kamerad, den man nicht leichtfertig vertröstete. Also erklärte Grousset dem Bärtigen einige Kniffe und Pfiffe, sodass der ahnungsvoll schmunzelte, und das hieß, dieser Journalist versteht von seinem weltbefahrenen Freund zu lernen. Denn man wusste im Lager, es war Kervizic, der den Gedanken gehabt hatte, der Höllenglut in den Baracken und Zelten zu entfliehen, indem er in den sanften Abhang zum Strand hin eine Erdhütte hineinbaute. Material dazu lieferte das Meer. Wer sich die Mühe machte, ständig den Strand von Ducos abzulaufen, fand angespülte Planken, Bretter, Bohlen, Stämme und Äste.

Bapaume gab Grousset die Hand. "Eine Mühe, die sich auszahlt. Wer nicht jede Nacht zu Schweiß zerfließt, hat vielleicht Chancen, Ducos zu überstehen."


Als Grousset in die Hütte trat, saß Kervizic wie abwesend vor dem vergilbten Kartenblatt. Landkarten hatten ihn schon als Knaben fasziniert, von ihrer, Betrachtung angeregt, konnte man sich die tollsten Abenteuer ausdenken.

Grousset machte einen Scherz, der auf jene Jugendromantik anspielte, Kervizic erwiderte, wer Ducos ausgesucht habe, um Gefangene auf Nummer Sicher, zu wissen, sei ein verteufelt kluges Köpfchen gewesen.

"Fundamentale Erkenntnis", spöttelte Grousset, "leider nicht neu."

"Bis auf einige Einzelheiten", widersprach Kervizic, "die einem erst dann in aller Deutlichkeit klarwerden, wenn man die Karte studiert." Kervizic zeigte mit der Spitze des Klappmessers auf die buntbedruckte Leinwand. "Nehmen wir an, es gelingt, nachts schwimmend den Hafenkai zu erreichen. Dann sind wir auf der Hauptinsel Neukaledonien - aber der Heimat nicht näher als auf ihrer Halbinsel Ducos."

"Allerdings mit dem Vorteil, weniger hungern zu müssen. Flora und Fauna Neukaledoniens sind gegen Ducos paradiesisch und bieten genug Nahrung."

„Dafür wirst du gejagt wie ein wildes Tier, musst dich vor den Menschen verstecken, als seien sie Kopfjäger." Kervizics Falten auf der Stirn vertieften sich. "Ein Meer zwischen der Freiheit und den Gefangenen ist zuverlässiger als die dicksten Mauern. Gnädig überlässt man den Deportierten die Halbinsel; denn eine Flucht von Ducos scheint absurd. Aus dem Grund sind sich Maden und Wachhunde unserer so sicher."

"Zum Glück wollen wir nicht nach Neukaledonien, sondern nach Europa, wohin uns die brave Viermastbark 'Plymouth' bringen wird."

"Das ist unsere Chance", Kervizic murmelte es nicht gerade enthusiastisch. "Und wer Chancen nicht nutzt, ist sie nicht wert."

Er legte das Kartenblatt zusammen und schob es in einen Brustbeutel, ähnlich dem Groussets. Sie beratschlagten, was sie beim Weggang mitnehmen wollten. Es galt, sich so wenig wie möglich zu belasten. Andererseits konnten Dinge wie Zündhölzer oder ein Klappmesser lebenswichtig werden. Was sie im vereinbarten Versteck zurückließen, würde Louise Michel unter den Gesinnungsfreunden verteilen. Grousset schlug vor, eine Nachricht an Louise ins Versteck zu legen, dass Emile Bapaume die Erdhütte bekommen sollte.

"Wer ist Bapaume?" fragte Kervizic.

"Ich hatte ihn beim Stützpunkt hinter der Barrikade in der Rue de Rivoli kennengelernt. Inzwischen legte er sich einen Vollbart zu und hat sich bislang dahinter versteckt. Heute hat er mir Grüße von Natalie übermittelt."

"Deshalb soll er unsere Bude haben?"

"Er ist ein erfrischend kritischer Kopf."

"Kritische Köpfe gibt es mehr auf der Welt."

"Trotz seiner skeptischen Ader hat Bapaume bis zum Schluss gekämpft. Dazu gehört mehr, als wenn ein Brausekopf in blindem Eifer mitrennt."

Kervizic stand auf und trat vor die Hütte. Von See her wehte es frisch. Tief ein- und ausatmend reckte er sich. "Ja", sagte er, "dazu gehört mehr. Soll Bapaume die Hütte haben."




Die Verbannten von Neukaledonien

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