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VII.

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Der Gottesdienst in der Hedwigskirche war zu Ende, die Türen öffneten sich, die Gemeinde strömte heraus. Auf dem Vorplatz bildeten sich kleine Gruppen, man begrüsste sich und sprach ein paar Worte miteinander.

Premierleutnant Storkow stand allein etwas abseits — jetzt straffte sich seine Haltung, er salutierte mit leichtem Neigen.

Fräulein Eugenie Erdösy, die die Stufen der Freitreppe hinunterschritt, dankte mit freundlichem Lächeln und reichte ihm, als er nähertrat, die Hand.

„Darf ich das gnädige Fräulein ein Stückchen begleiten?“

„Aber gewiss doch — sind Sie auch in der Kirche gewesen?“

„Nein — ich habe hier gewartet!“

„Wollen wir die Linden hinuntergehen — vielleicht treffen wir den Schweighofer Felix?“

„Sie kennen ihn schon lange?“

„Von Wien her — wir spielten beide in der Operette „Das Spitzentuch der Königin“. Denken Sie an, Herr Graf, ich hatte eine Hosenrolle ...“

„Ich kann mir den Beifall vorstellen ...“

Ein schneller Blick ihrer grossen, dunklen Augen streifte ihn und verwirrte ihn noch mehr. Aber dann nahm er plötzlich einen Anlauf.

„Darf ich etwas fragen — hat Herr Justizrat von Hilken etwas von einer Unterhaltung mit mir erzählt?“

„Den Herrn von Hilken kennen Sie? Das ist mir doch eine ganz neue Sache — wieso denn — erzählen Sie, Herr Graf!“

„Also — er hat nichts gesagt, ich habe eine Dummheit gemacht, wenn ich Sie fragte. Wir wurden durch einen Zufall bekannt —“

„Na — und weiter?“ drängte sie.

„Und weiter eigentlich nichts!“

„Warum sind Sie nicht offen zu mir?“

„Ich will es sein, gnädigstes Fräulein. Er deutete mir an, dass ich Ihnen durch meine damalige Begleitung vom Theater leicht Unannehmlichkeiten hätte machen können.“

„Was geht’s aber den Herrn von Hilken an — ich werd’ ihn zur Rede stellen!“

„Ich bitte Sie sehr, es nicht zu tun! Ich habe seinen Rat befolgt, habe alles versucht, mit meinen Gedanken von Ihnen loszukommen — aber ich vermag’s nicht!“

„Und Sie haben auch nichts erzählt, dass wir mit dem Schweighofer Felix neulich im Café gesessen sind?“

„Nein!“

„Gut, dann haben wir beide ein Geheimnis miteinander!“

Er sah sie beglückt an. „Wenn es doch nicht das einzige bliebe!“

Sie wandte sich ihm zu und sagte überrascht: „Sie freuen sich ja wie ein Bub, der einen Mandelkolatschen erwischt hat!“

„Ich weiss zwar nicht, was das ist, aber ungefähr so ist mir zumute!“

Sie lachten beide — und dieses Lachen verband sie, sie waren sich plötzlich nähergekommen. Er begann von seinen Pferden zu sprechen, seinem Grauschimmel und der Goldfuchsstute Fatme, die er ausser seinem Dienstpferd noch im Tattersall der Luisenstrasse stehen hatte. „Ein reizendes Bild — das Musikreiten dort, allerbeste Gesellschaft kommt zusammen. Aber Sie interessieren sich wohl nicht für Pferde?“

„Bin doch daheim von kleinauf geritten!“

„Und hier gar nicht?“

„Nein — die Gelegenheit hat gefehlt!“

„Darf ich Ihnen diese Gelegenheit bieten? — Fatme ist an den Damensattel gewöhnt und würde Ihnen gefallen. Wenn Sie Lust hätten, gnädigstes Fräulein, würde ich Ihnen das Tier gleich vorführen — es ist ja nicht weit nach der Luisenstrasse.“

„Nein, danke, ich muss jetzt heim!“

Sie standen an der Ecke der Charlottenstrasse, und Fräulein Erdösy gab der eben leer vorüberfahrenden Droschke einen Wink.

„Aber — mein Anerbieten ist nicht grundsätzlich abgelehnt? Das Pferd steht jederzeit zu Ihrer Verfügung — ich gehe jetzt hin und gebe die Anweisung. Als Begleiter —“

„— haben Sie sich ausersehen — eine grosse Ehre für mich, Herr Graf! Aber, bitt’ schön, ich muss es mir überlegen — —“

Der Droschkenkutscher sagte vom Bock herunter: „Jeht’s nu bald los? Ick derf hier nich halten, sonst schreibt mir der Blaue uff — er blickt schon rüber!“

Fräulein Erdösy stieg ein, Storkow küsste ihr die Hand, und der Wagen ratterte davon. —

In der Wohnung am Enckeplatz angekommen, roch Jenny gleich beim Aufschliessen den appetitlichen Duft des Gänsebratens, und als sie in das Esszimmer trat, fand sie den Tisch schon gedeckt.

Fräulein Mertini, die am Fenster gelesen, liess das Buch sinken und fragte: „Schön, dass du da bist — wenn nur Franz auch schon käme — das Essen ist fertig!“

Jenny setzte sich ihr gegenüber. „Also — nu schau mich an — wie gefall’ ich dir?“

„Was hast du?“ fragte Fräulein Mertini verwundert.

„Du wirst es nicht raten, Blanka! Du schliefst noch, als ich fortging, sonst hätte ich dir’s gleich gesagt, weil’s mich so freut. Mit der Post hab’ ich heute früh einen Brief bekommen — vom Vorsitzenden des Vereins ‚Tyll Eulenspiegel‘!“

„Sollst du da wieder umsonst singen?“

„Nein — man hat mir die Ehrenmitgliedschaft übertragen!“

„Gratuliere, Jenny — dann kannst du lachen!“

„Ja — es hat mich so froh gemacht — ich find’ auf einmal das Leben wieder schön!“

Die Klingel schrillte an der Entreetür.

„Gott sei Dank, der Franz ist da. Wenn er später gekommen, wäre die Gans schwarz und trocken im Bratofen geworden!“

Der Justizrat trat ein, begrüsste die Damen.

„Sieh dir das Ehrenmitglied hier an — gratulier der Jenny!“

„Erzähl nicht, ich werde den Brief holen — er soll es selbst lesen!“

Kaum war sie draussen, sagte der Justizrat leise: „Ich habe sie vorhin gesehen — Unter den Linden — sie verabschiedete sich gerade von dem Grafen Storkow. Hat sie dir etwas gesagt?“

„Nein!“

„Also — warten wir ab — aber nicht, bis es zu spät ist!“

Schon kam Jenny zurück, reichte Herrn von Hilken den Brief, sah ihn triumphierend an.

„Naa —“, sagte er beifällig, als er gelesen, „da gratuliere ich herzlich. Der ‚Tyll Eulenspiegel‘ hat seine Bedeutung im Berliner Leben, und die Ehrenmitgliedschaft bei diesem Verein kann wirklich als eine Auszeichnung von Wert gelten!“

Das Mädchen kam mit der Suppe, und man ging zu Tisch. Es herrschte die behagliche Atmosphäre, die Jenny immer an ihr Vaterhaus erinnerte.

„Wenn nur nicht“, sagte Hilken, „das verflixte Tranchieren wäre, das immer den Herren übertragen wird, damit sie sich vor den Damen blamieren. Denn es ist doch ein Nonsens, einen Mann, der von dem Knochenbau einer Gans keine Ahnung hat, ein Messer nehmen zu lassen, damit er solch einen Korpus zerlegt. Ja — ein Anatom — ein Chirurg könnte da wohl mit Anstand aus solcher Affäre hervorgehen, aber ein Jurist — jeder andere, wenn es nicht ein Schlächter ist, steht hilflos solcher Aufgabe gegenüber.“

Fräulein Mertini sagte: „So — dann sieh einmal jetzt wirklich zu, damit du es lernst!“

„Das werde ich nie“, sagte er, „denn ich sehe doch nur deine schönen, schlanken Hände; dann fällt mir zweitens der Witz ein von der Köchin, die beim Braten die knusperige Haut allmählich aufass und den lieben Gott bat, dass er der Gans rasch eine andere Pelle wachsen lassen sollte. Ja — und drittens denke ich an den Gänsemarkt auf dem Dönhoffplatz, wenn ich mit unserer Köchin dort den Feiertagsbraten aussuchen half. Diese Stimmung da — mit den Bauernwagen, der winterlichen Luft, dem frohen Getriebe der Händler und Hausfrauen, namentlich in der Schummerstunde, wenn die Wagenlaternen angezündet wurden — ach, es war für den kleinen Jungen eine phantastische Welt!“

„Brust oder Keule?“ fragte Fräulein Mertini.

„Brust“, sagte der Justizrat, „ich bin immer für Brust!“ Und aus irgendeiner Gedankenverbindung heraus lachte er vor sich hin.

Jenny sah ihn erstaunt an.

„Ja“, sagte er, „mir fiel da eben noch etwas anderes ein bei Blankas Frage. Beim Fischservieren sagte einmal eine etwas genierliche Dame auf die Frage ‚Kopf oder Schwanz?‘: ‚Wenn ich bitten darf, verlängerten Rücken!‘“

„Gott, wie witzig — die Jenny kann darüber wirklich lachen! Soll ich dir also ein Stück verlängerten Rücken geben?“

„Der Berliner nennt diesen Teil der Gans ‚Stietz‘ — er isst ihn, verlangt aber immer einen Kognak danach! Bei uns erhielt ihn stets unsere Köchin, weil sie eine Vorliebe dafür hatte. Die Damen trinken Mosel? — Kann ich einschenken? — Ich werde mich an diesen Macon halten — das einzig richtige Getränk zum fetten Gänsebraten!“

Ein Abglanz des Sonnenscheins kam von draussen herein und liess das grosse Ölbild über der Kredenz — ein niederländisches Stilleben — in hellen Farben aufleuchten.

„So würde es immer wirken, so frisch und schön, wenn es die richtige Beleuchtung hätte. Aber unsere Berliner Stuben sind für Ölbilder ungeeignet, sie führen darin ein so trauriges Dasein wie die Fächerpalmen, deren gelbe Spitzen man täglich abschneiden muss. Aber — gut, dass das Wetter noch einmal wieder schön geworden ist — habt ihr beide Lust zu einer Spazierfahrt durch den Tiergarten? Ich lade euch ein — wenn ihr euch warm anzieht, können wir eine offene Droschke nehmen. Den Kaffee trinken wir in Charlottenhof — oder im Türkischen Zelt!“

„Ach nein, den Kaffee trinken wir hier, denn das ist kein Kaffee, was man in den Gasthäusern zu trinken bekommt, sondern Lorke in dicken Steinguttassen mit schwarzen Sprüngen. Das Mädchen hat schon die Anweisung, gleich nach Tisch die Maschine hereinzubringen — ich werde ihn selber bereiten. Und wenn wir dann Lust haben, können wir ja immer noch durch den Tiergarten fahren — hab’ ich nicht recht, Jenny? Gott, du erwachst ja wie aus einem Traum — an was denkst du?“

Fräulein Erdösy sah verlegen von einem zum andern. „An meine Ehrenmitgliedschaft!“

„Das ist doch kein Grund, rot zu werden!“

„Ach ja — was mir da einfällt!“ sagte Hilken. „Sie haben eine Doppelgängerin in Berlin, Jenny!“

„Wieso?“ Sie war plötzlich blass geworden und setzte das Glas, das sie eben zum Munde führen wollte, wieder auf den Tisch.

„Wenigstens kam es mir so vor“, sagte der Justizrat. „Ich sah heute um die frühe Mittagsstunde eine Dame Unter den Linden, die Ihnen geradezu frappant ähnlich war!“

„Das werde ich wohl selbst gewesen sein!“

„Nein, nein — die Dame sprach mit einem jungen Dragoneroffizier.“

Eine Sekunde des Schweigens. Dann sagte Fräulein Erdösy wiederum: „Das werde ich wohl selbst gewesen sein!“

„Oh — da habe ich wohl eine Ungeschicklichkeit begangen“, sagte der Justizrat.

„Nein, Herr von Hilken, es ist mir lieb so! Sie wissen ja auch ganz genau, dass es der Graf Storkow war, mit dem ich da gesprochen habe!“ Und sich an Fräulein Mertini wendend: „Als ich neulich mit Schweighofer im Café Bauer sass, kam er an unseren Tisch — die Herren kannten sich, und Felix stellte ihn mir vor!“

„Na ja —“, sagte Fräulein Mertini, „da glaubt man immer, so etwas gibt’s bloss auf der Bühne. Aber — wie ist mir doch — wolltest du ihn nicht totschiessen, wenn er dich noch einmal belästigte!?“

„Ich hab’ doch das Büchserl nicht bei mir, ’s hätte mir auch nachher leid getan, denn ich fand ihn reizend. Ich möchte auch gern wieder einmal reiten — und der Herr Graf hat mir eines seiner Rosse zur Verfügung gestellt! Will drum gleich mal schauen, ob denn mein Reitkleid überhaupt noch passt — —“

Immer erregter und trotziger hatte sie unter den Blicken der beiden gesprochen. Jetzt stand sie auf. „Ich mag keinen Kaffee, danke schön, und mitfahren tue ich auch nicht. Bin doch kein Schulmädel mehr, das Beaufsichtigung durch den Herrn Lehrer braucht. Der Herr Justizrat kann sich ja sein Teil dabei denken — weiter sag’ ich nichts!“

Hastig ging sie hinaus.

„Da haben wir’s“, sagte Fräulein Mertini. „Na — nun werden wir ja sehen, wie die Geschichte ausgeht!“

Eugenie Erdözy

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