Читать книгу 100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 2 - Erhard Heckmann - Страница 12
Abenteuer pur – im Sattel durch unberührtes Land
ОглавлениеAls sich unsere neuen Freunde für die Nacht in ihre Blockhütten zurückziehen, machen auch wir uns auf den kurzen Weg zum Wohnmobil und sind schon jetzt der Meinung, dass es stimmt, was uns immer wieder bestätigt wurde: Wer hier lebt, der kann sich mit europäischem Stadtleben nicht mehr anfreunden, und zurück will er sowieso nicht wieder. Geschenkt wird auch hier niemandem etwas, aber was macht dieses Land, das von Ost nach West etwa 5.500 Kilometer misst, dann so anziehend? Worin liegt seine Faszination? Es ist wohl die großartige Natur mit ihren Tieren, und ganz besonders die unendliche Weite. Europa kann auch mit großartigen Landschaften glänzen, aber von Norwegen einmal abgesehen, ist alles „ eng und klein“, und seine Straßen sind überfüllt. In Kanada kann man stundenlang fahren oder wandern, ohne einem Menschen zu begegnen, dem Ruf der Wildnis lauschen, Bären und Elche beobachten, an wunderschönen klaren Bergseen und weitab von der nächsten Ortschaft sein Zelt aufschlagen oder das Wohnmobil parken, statt Massentourismus an zubetonierten, lauten Stränden oder Fahrzeug an Fahrzeug auf Campingplätzen akzeptieren zu müssen. Hier, im Land der Goldschürfer, Pelzhändler, Indianer, Cowboys, Bären und Wale taucht man das Paddel in das Wasser kristallklarer Seen, erlebt tosendes Wildwasser im Kajak, ist mit den Buschfliegern zu entlegenen Gebieten unterwegs, fliegt über kilometerlange Gletscher und Eisfelder, kann tagelang durch unberührte Landschaft reiten und sitzt abends mit Gleichgesinnten am Lagerfeuer. Sicherlich schwingt auch ein Hauch „Wilder Westen und Freiheit“ mit, wie auch die Vielfalt, die dieses Land bietet, bis hin zu seinen großen und quirligen Metropolen wie Toronto, Quebec oder Montreal, die aber dennoch irgendwie anders sind. Riesige Prärien, unendliche Tundren, Küstenregenwälder, wüstenartige Trockenregionen, karge Fischerdörfer auf Neufundland, oder liebliche Städte wie das wunderschön am Pacific gelegene Vancouver, das mit seinem Flair an das neuseeländische Auckland erinnert, all das gibt es hier. Auch Konsumtempel wie die weltberühmte West Edmonton Mall in Edmonton gehören zum Gesamtmosaik. Das Einkaufsparadies, das mehr als achthundert Geschäfte, elf Kaufhäuser, über einhundert Restaurants, etwa zwanzig Kinos, Schwimm- und Wellenbäder und vieles andere mehr unter einem einzigen Dach vereint, hat bei seinem Bau eine halbe Milliarde Euro verschlungen. Und gleich um die nächste Ecke, egal wo, wird auf Rodeos der Sport gezeigt, der sich aus der Arbeit der Siedler, Cowboys und Rancher entwickelt hat und ihr tägliches Brot ist. Kanada heißt auch Mountainbiken, Galopprennen, Eishockey, Schlittenhunde, Wintersport, klirrende Kälte und holprige Forststraßen. Insgesamt ist es ein Gemisch aus viel mehr als nur traumhaften Landschaften. Vielleicht ist es die Summe aus allem, die uns so sehr in dieses Land zieht.
Hier am Anahim Lake sind jene Glitzerfassaden jedoch weit weg. Hier ist Bärenland, und man ist auf Schotterpisten in ursprünglicher Natur unterwegs, zu der ganz besonders auch British Columbias größter Provinzpark, der „Tweedsmuir“ zählt. Es ist ein Schutzgebiet, das Wälder, Täler, Wiesen, Sümpfe, Seen, Flüsse, Gletscher und Berge vereint, und dessen straßen- und weglose Wildnis Caribous, Bergziegen, Schwarz- und Grizzlybären, Elche, Hirsche, Adler und andere Tiere schützt. Ein besonderes Juwel ist das von Erzen geprägten vulkanischen Gestein der Rainbow Mountains, deren Rot, Violett oder Gelb um die Wette zu eifern scheint und diesen Bergen den Namen gab. Morgen werden wir mit Pferden in dieses Gebiet aufbrechen, und deswegen wird es nun auch Zeit, unsere beiden Packsäcke zu schnüren. Zeitaufwendig ist das nicht, denn Sabine hatte schon rationell ausgewählt und für jeden seine „Häufchen“ zurechtgelegt, getrennt für Tag, Nacht, Toilette und Reserve. Verpackt in Plastiksäcken und im jeweiligen wasserdichten „Duffel Bag“ verstaut, haben beide Taschen noch viel Platz, denn die Regenkleidung gehört zur Tour und kommt direkt hinter den Sattel. Unterwegs stellt sich die getroffene Auswahl schnell als perfekt dar, und das oftmalige Nein zu „Muss-Es-Mit-Oder-Nicht“ war genau richtig.
Das Frühstück am nächsten Morgen ist kräftig, danach bringt uns Petrus mit seinem Jeep zum Trailhead im Tweedsmuir Park, unserem Treffpunkt mit den Dorseys. „Saddlehorse Meadows“ nennt er sich offiziell, und als wir ankommen sind unsere Gastgeber längst bei der Arbeit. Der erste Blick signalisiert erhebliches Durcheinander, doch es hat Methode. An drei Stellen sind gesattelte Pferde angebunden, hier ihre, dort „unsere“, die restlichen sind mit Tragegeschirren bestückt. Manche von ihnen knabbern an einem Heuballen, andere dösen vor sich hin. Ein Brauner kann über die anstehende Tour lächeln, denn er war Reservepferd und wird eben wieder in den Transporter eingeladen. Dieser entspricht auch nicht europäischen Verhältnissen, sondern ist ziemlich lang und tief gelagert, hat kleine vergitterte Fenster, und die 12 bis 14 Pferde stehen quer zur Fahrtrichtung. Was noch auffällt? Haufen von Seilen, Kisten und ähnlich große, grüne Plastikbehälter, Kartons und anderer Kram liegen und stehen auf diesem Waldplatz herum, mitten drinnen die geschäftigen „Outfitter“ Joyce und David, Tochter Linsay und Ayleen, die Praktikantin. Diese beiden Achtzehnjährigen helfen beim Packen, fahren anschließend den Transporter wieder zurück und kümmern sich während der Abwesenheit vom Boss um die Ranch. Und dann ist da noch Paul, Davids Nachbar, der unseren Trupp als dritter Mann begleitet. Nach flüchtiger Begrüßung, bei der wir feststellten, dass wir rein gar nichts helfen können, macht sich die Mannschaft wieder ans Werk. Zelte, Schlafsäcke, Regenplanen, Hufeisen und -nägel, Hammer, Zange, Gewürze, Lebensmittel und Getränke, Feuergestell, Töpfe und Pfannen, Wasserfilter, Flüssigseife, Mückenspray, Bremsenöl für die Pferde …, alles wird in festen Packsäcken verstaut und vor dem Verschnüren gewogen. Hier muss etwas raus, dort mehr rein, denn die neun Packpferde müssen auf jeder Seite pfundgenau beladen werden. Die Säcke der Gäste werden markiert, denn abends schnappt sich künftig jeder den seinen und bringt ihn morgens wieder frisch geschnürt zum Aufladen zurück. Und während Paul und David, der ab und an einen wortlosen, verstohlenen „Musterungsblick“ in unsere Richtung schickt, Packsäcke und kistenartige Behälter auf die Packpferde verteilen, mit Gurten und Seilen sichern, anschließend mit Regenplanen abdecken und erneut mit Seilen festziehen, machen uns Joyce und Ayleen mit den uns zugedachten Pferde bekannt.
Sabines zehnjähriger Rappe, ein flotter Quarterhorse-Wallach, heißt Escort, ist kompakt, abgedreht und hat eine kräftige Hinterhand. Wie sich später zeigte, liebte er das Springen noch immer, denn in ganz jungen Jahren soll ihm kein Koppelzaun zu hoch gewesen sein. Den mir zugedachten hellen Falben war ich schnell wieder los, denn Heather konnte, oder wollte, sich mit dem großen Appalosamischling Richard nicht anfreunden, und unbedingt tauschen. Naja, reiten konnte sie genau so wenig wie die übrigen drei aus Calgary; das gaben sie zwar nicht zu, aber das war so. Sie hatten nur keine Angst und hier und dort in ihrem Leben, aus Freude an der Sache, mehrfach auf Pferden gesessen. Vielmehr wurde bei diesem Ritt aber auch nicht verlangt, zumal diese „Mountain-Horses“ erstklassig ausgebildet waren und der Reiter ihnen nur den Weg zeigen musste. Also landete eben ich bei diesem Schimmel, zu dem Joyce meinte „der ist zwar etwas faul und eigensinnig, aber den bekommst Du schon flott“. Ein schönes Pferd ist Richard nicht, eher etwas klobig, ziemlich groß und stabil. Es passt aber alles gut zusammen, und seine „Bammelohren“ verrieten, dass er eigentlich ein guter Charakter sein müsste. Das war auch so, und er war auch zuverlässig und äußerst clever. Er wusste sehr schnell wer „oben saß“, denn nach kurzen Meinungsverschiedenheiten ließ er es auf keine Diskussion mehr ankommen und marschierte wie ein junger Spund. Als ich mich nach diesem Ritt von ihm trennen musste, ist mir das so schwer gefallen wie kaum bei einem anderen Pferd zuvor.
Inzwischen ist alles verpackt, der Transporter mit der winkenden Linsay am Steuer rangiert Richtung Straße, und das letzte der in Dreiergruppen gehenden Packpferde, ein vierjähriger Neuling auf größerer Tour, wurde mit Äxten, Motorsäge und Benzinkanistern beladen. Die beiden Gewehre bleiben bei David und Paul, das Mittagssandwich steckt in der Satteltasche und das Regenzeug bleibt hoffentlich nicht nur heute hinter dem Sattel festgeschnallt. Die Karawane aus achtzehn Pferden, neun Reitern und den beiden Border Collies Willie und Rio kann starten, mit David Dorsey an der Spitze Richtung „Abenteuer pur“. Für uns ist es der erste Trailritt überhaupt und wir sind gespannt, was uns dabei erwartet, denn mein Sinn steht mehr auf „Gas geben“, auf Rennpferden. Und wenn schon „lange Bügel und Westernsattel“, dann hatte ich ursprünglich eher an eine Ranch in Saskatchewan oder Montana gedacht, denn die Prärie lässt auch ordentliches Galoppieren und Springen zu. Im Tweedsmuir Park kann man vielleicht einen Bach oder Graben springen, aber generell erwandert man hier unerschlossene Natur zu Pferd, bis hinauf ins Hochgebirge. Und um es vorweg zu nehmen, es war auch ohne „Vollgas“ ein großartiges Erlebnis.
Nach wenigen Minuten wird aus dem Weg ein schmaler Pfad, kurz darauf ist auch dieser verschwunden. David gibt, mit der ersten „Packtrain“ im Schlepp, die Richtung vor, die anderen Pferde folgen im Gänsemarsch, wobei sich Paul mit seinen drei Packpferden zwischen uns Gästen einsortiert hat und Joyce mit ihren Lastenträgern am Ende folgt. Nur Willie und Rio patrouillieren hin und her und legen wohl das Vier- oder Fünffache an Kilometern zurück. Im Tal hatte der Reiter sehr wenig zu tun, doch als David in Richtung Waldhang abbiegt, heißt es aufpassen. Der Wald ist dicht, die Bäume stehen eng. Jetzt muss sich jeder seinen eigenen Weg suchen, mehrere Stunden im Zickzack bergauf. Für unsere Pferde ist der Weg zur Baumgrenze und in alpines Gelände harte Arbeit, und die Packpferde müssen oft nach einem besseren Durchschlupf suchen und kleine Umwege in Kauf nehmen. Bei uns Reitern ecken die Knie auch gelegentlich an, und den einen oder anderen Ast drückt man besser weg, bevor er zurückschwingt. Mehr als die Richtung gebe ich meinem Pferd nicht vor, denn es weiß ganz genau, wohin es seine Beine setzen muss. Der Wald hier ist kein europäischer, sondern unberührte Wildnis. Und mit umgestürzten Baumriesen, auch kreuz und quer übereinander liegend, Geröllfeldern, Felsbrocken, Wurzeln, dichtem Unterholz und hohen Farnen kennen sich diese „Mountain-Horses“ bestens aus. Zwischendurch hält David zwar oft an, um den Pferden Verschnaufpausen zu geben, aber dennoch geht es flott vorwärts, bis wir am frühen Nachmittag ein Hochplateau erreichen und hinter einer Baumgruppe eine Rast einlegen, bei der die Packpferde aber nicht entlastet werden. Um uns herum Latschenkiefern, Sträucher, blühende Lupinen und andere Frühlingsblumen, verstreute Fichten, einzeln oder in Gruppen und vom Wind zerzaust, und kleine Schneeflecken auf nahen Hügeln und in Mulden. Hier und dort schimmerte ein kleiner, flacher See, ganz in der Nähe huscht ein Bach als Wasserfall über seine Gesteinskante, und weit am Horizont leuchten die weißen Spitzen der Küstengebirge. Und nachdem die Pferde am Bach ihren Durst stillen konnten, haben auch die drei bis vier Liter Kaffeewasser im „Billy“, der großen, schwarzen Eisenkanne, über dem Lagerfeuer gekocht, so dass es Zeit ist, Brote und Obst auszupacken, die Tasse zu füllen und sich einen Stein als Sitzplatz zu suchen.
Nach einer knappen Stunde mahnt David zum Aufbruch, und wir reiten nun im alpinen Gebiet durch die „Schwarzen Berge“. Für die Pferde ist es leichter, und der freie Blick erfasst auch den Tsitsuti Peak, die höchste Erhebung der Rainbow Mountains, doch bis dorthin ist es noch weit. Hier und dort umgehen wir sumpfige Stellen, reiten in den Tälern durch dichte, hohe Weidenbüsche, die die Reiter meist komplett verdecken. Durch sie wird aber ebenso direkt geritten, wie durch Bäche und Flüsse. Das gilt erst recht für die blühenden Bergwiesen, auch wenn mir die bunte Blumenpracht richtig Leid tut. Unsere Pferde denken da ganz anders, denn sie haben eine Vorliebe für Lupinen und schnappten auch während des Gehens immer wieder nach ihnen. Wir sind aber rundum zufrieden, lassen uns einfach dahintragen, genießen den Moment, die herrliche Natur und ihre Stille, die nur vom Schnauben der Pferde und dem Knirschen des Sattelleders unterbrochen wird. Und mit jedem Pferdeschritt rückt die Zivilisation etwas weiter weg, die Natur näher heran. Man wird aber gleichzeitig aufmerksamer und sieht viele kleine Dinge, an denen man im hektischen Alltag achtlos vorübereilt. Richtig angekommen ist man in Kanada aber erst dann, wenn sich die Weite auch in den eigenen Gedanken breit macht. Doch das scheint bei uns recht schnell zu gehen, denn wir fühlen uns schon jetzt so richtig wohl. Gegen Abend biegt David in ein kleines Wäldchen ein, dass am rechten Talhang unser nächtliches Quartier sein wird. Viele Fotos und Filmmeter bringen wir von diesem ersten Tag nicht mit, doch lag das nicht an den Motiven, sondern daran, dass der Weg das Ziel war, und man nicht überall anhalten kann.
Im Wäldchen empfängt uns eine Lichtung, und dort verraten vier dicke, quadratisch um die Feuerstelle angeordnete Baumstämme das „Wohnzimmer“, in das auch gleich Leben einziehen wird. Vorerst sind aber die Pferde an der Reihe. Trensen abnehmen, an einem Baum anbinden und absatteln. Kontrolle und Pflege folgen später, wenn David und Paul die Packpferde entladen haben. Kisten und Packsäcke werden unter einem Baum abgestellt, Seile und Gurte kommen daneben auf einen Haufen, und die Sättel bekommen sofort ihren Extraplatz für die Nacht. Vorrang beim Abladen haben die grünen Küchenkisten und das Feuergestell, das sich Joyce auch sofort schnappt und aufbaut. Links und rechts stellt sie einen der beiden nach oben gegabelten, schweren Eisenständer auf, hängt an beiden jeweils das Ende einer Doppelkette ein, die einen großen rechteckigen Feuerrost als Kochstelle für Pfannen und Töpfe unter sich trägt. Eine waagerecht in die Gabelungen eingeklickte Eisenstange stabilisiert die Konstruktion und erlaubt den „Billys“, den großen Wasserkannen für Tee und Kaffee, ihren Platz direkt über dem Feuer einzunehmen. Und während unsere Gastgeberin zum nahen Bach eilt, das mitgebrachte Nass durch die tragbare Filteranlage schickt, drei oder vier Hände voll Kaffee in eine der Eisenkannen gibt – der Tee kommt in einem Leinensäckchen in eine zweite- ist David schon beim Feuermachen. Wir holen inzwischen unsere beiden „Duffel Bags“ und das Zelt vom großen Haufen und bringen auch die Satteltaschen, das Regenzeug und unsere Foto- und Filmausrüstung zum ausgesuchten Übernachtungsplatz, während die dicken Satteldecken als Sitzkissen auf den Baumstämmen um die Feuerstelle abgelegt werden. Danach, und vor dem Zeltaufbau, machen sich die meisten von uns nützlich, fällen kleinere, dürre Bäume, hacken Holz, holen frisches Wasser vom Bach, unterhalten das Feuer oder helfen Joyce bei der Einrichtung ihrer „Küche“. Mittelpunkt ist dort die Tischplatte, deren zwei breite, gehobelte Bretter mit ihren Enden in die Schienen einer Hängevorrichtung geschoben werden, deren Ketten links und rechts an einem Baum ihre Haken finden. Die Konstruktion, unter der sich noch ein Hängeregal befindet, passt durch seine variablen Ketten zwar zwischen die meisten Bäume, doch wird dieses Camp in den Schwarzen Bergen auch bei vielen Touren angesteuert und könnte die Mindestmaße geliefert haben. Wir werden hier sogar zwei Nächte verbringen, denn morgen reiten wir ohne Packpferde in die Regenbogenberge und kommen am Abend wieder zurück. Man kann sich also richtig häuslich einrichten.
Rund vierzig Minuten nach unserer Ankunft sind die dringendsten Handgriffe erledigt, und am Feuer gibt’s jetzt erst eine kurze Verschnaufpause, mit Gebäck, Kaffee oder Tee, mit oder ohne Milch, Zucker, Kakaopulver oder Honig, oder, unsere Version, pur und schwarz. John versteht das gar nicht und meint: „Dann braucht ihr wenigstens hiervon“, grinst und gießt uns einen Schuss von seinem guten Kognak ins Gebräu. Seinen eigenen mixt er ähnlich, fügt aber noch Honig und Kakaopulver hinzu. Gelegentlich machen wir im Winter jetzt diese Mixtur zu Hause nach, und das Rezept behielt auch seinen Namen, „John-Kaffee“. Anschließend gibt es wieder Arbeit, denn neben dem Sortieren von Trensen, Sätteln, Traggeschirren, Seilen, Planen und dem Ordnen oder Auspacken der Kisten, müssen auch die Pferde versorgt werden, die noch angebunden und von allen Lasten befreit vor sich hindösen. Abbürsten, Fell, Beine, Hufe überprüfen, nach Druckstellen tasten, mit Bremsenöl einreiben, die „Ausreißer“ an den Vorderbeinen „koppeln“, damit sie nur kleinere Schritte machen und sich nicht zu weit entfernen können. Dann werden sie für die Nacht auf die Wiese entlassen, denn Futter und Wasser suchen sich die Tiere selbst. Mit all diesen Arbeiten haben wir Gäste offiziell nicht das Geringste zu tun, doch in unserer Truppe fasst jeder mit an und tut das, was er kann. Mit den Western- und Stocksätteln musste ich mich aber auch erst vertraut machen, denn ihre diversen Lederriemen, Schlaufen und Spezialknoten waren mir fremd wie die langen, wenig Bewegungsfreiheit bietenden Bügel, die bis auf das untere Drittel fest mit dem Sattel vernäht sind. Mit deren Gesamtlänge hatte ich anfangs ohnehin ein Gefühlsproblem, denn ich bin Rennpferde gewöhnt und fühle mich nur mit kürzeren Bügeln richtig sicher.
Nach der kurzen Pause und den helfenden Handgriffen muss noch das von David gemietete Zelt aufgebaut und das Nachtlager hergerichtet werden. Und das ist mein Job, während Sabine bereits mit der Videokamera unterwegs ist. Als sie das Camp verließ, war sofort Willie unaufgefordert an ihrer Seite. David hat sie so erzogen, denn im Bärenland bedarf es dieses Schutzes. Loben muss man auch die „Hausfrau Joyce“, gebürtige Engländerin, exzellent im Sattel und ein regelrechtes Organisationstalent. Was sie auf dieser Tour in kurzer Zeit in ihrer „Feldküche“ gekocht, gebraten und gebacken hat, war enorm. Nie hat es an etwas gefehlt, nichts gab es zweimal, die Auswahl war reichlich, und der heiße, schwarze Kaffee aus der rußigen Cowboykanne, die über der Feuerstelle hing, war morgens auch schon fertig, wenn der Erste danach Ausschau hielt. Mit Johns Kognak „gestreckt“ wurde er bei der abendlichen Ankunftspause dann fast zum Kult.
Nachdem die Zelte alle stehen, findet sich einer nach dem anderen am Lagerfeuer ein, wo die Steaks noch ein paar Minuten brauchen. Es sind Riesendinger, und jedem sind zwei davon zugedacht. In unserem Fall wird das sicher nicht gehen, zumal auf dem zweiten Rost auch noch Würste grillen und als Beilagen gemischter Salat und geröstetes Knoblauchbrot oder Baguette zur Verfügung stehen. Und wie alles in Kanada, so war auch der Wein nicht in kleinen Gebinden, sondern im Tetrapack, fünf Liter Rot, die gleiche Menge Weiß. Leer werden diese Kartons heute aber nicht mehr, denn die Müdigkeit greift schnell um sich, und auf dem Weg zum Zelt muss ich daran denken, dass es noch keine zehn Monate her ist, als wir ebenfalls unter ein paar Bäumen in ein kleines Zelt krochen. Das war auch nach dem Essen am Lagerfeuer und ohne jede Abzäunung zur Umgebung, allerdings in Afrika, im Moremi Nationalpark in Botswana! Dort hatten wir, weil unser Auto für das feuchte Gebiet im Okavango Delta nicht geeignet war, vor Ort einen Fünftagetrip mit Guide, Militärjeep und Zelt gebucht und unausgesprochen angenommen, dass der „Campingplatz“ nachts mit einem mitgebrachten Elektrozaun geschützt wird. Dem war aber nicht so. Wir waren auch keine Neulinge auf afrikanischem Boden, sondern dort schon sehr oft auf eigene Faust in mehreren Ländern unterwegs gewesen, aber ein Zelt ist eben kein schützendes Rondavell, und erst recht keine Lodge. Und auch die Erklärungen unseres Guides, dass Elefanten nicht auf Zelte treten, Hyänen nur neugierig, aber feige seien, Löwen um geschlossene Zelte einen Bogen machen überzeugte nicht so recht. Und der Guide schob auch sofort nach, das die beiden Engländer, die hier vor einigen Wochen von Löwen aus dem Zelt geholt worden sind, wegen der Temperaturen im offenen Zelt geschlafen hatten. Auf die Nilpferde, die nachts aus dem nahen See zum Grasen kommen, kam es dann auch nicht mehr an. Da blieb uns nur noch der Trost, dass wir auch drei Engländer dabei hatten …
In jener ersten Nacht haben wir uns nicht nur einmal gefragt, worauf wir uns eigentlich eingelassen hatten, und saßen sehr lange mit einem dicken Knüppel in der Hand im kleinen Zelt. Die ersten Besucher waren tatsächlich die Hyänen, in deren Augen sich unser Taschenlampenlicht spiegelte. Danach grunzten die Hippos durchs Camp, während die Löwen mehr in der Ferne zu vernehmen waren. Irgendwann hatte uns der Schlaf dann doch übermannt, und die weiteren Stimmen jener Nacht vor uns verborgen. Am nächsten Morgen waren wir damals aber heilfroh, dass die Sonne wieder schien und wir alle gemeinsam am Frühstückstisch saßen, auch die Engländer. Dennoch hatten uns die Elefanten die Botschaft hinterlassen, dass sie, wie von unserem Guide angekündigt, zwischen den Zelten sehr sorgsam durchgezogen waren, denn direkt vor unserer Haustür lag die „Post“ der Dickhäuter, ein ziemlich großer Haufen. Wahrscheinlich passierten sie uns am ganz zeitigen Morgen, denn gehört hatten wir sie nicht. In den folgenden Nächten haben wir die Stimmen Afrikas zwar voll genossen, doch ist es schon sehr beruhigend, dass es diese Raubtiere hier in Kanada nicht gibt. Und weil für die Bären Willie und Rio zuständig sind, können wir die warmen Schlafsäcke auch bis über die Ohren hochziehen und dem neuen Tag entgegenträumen.
Dieser beginnt am eiskalten Bach, und wer zum Zähne putzen heißes Wasser braucht, macht einen Umweg zum Lagerfeuer. Um diese Zeit ist es zwar noch ziemlich frisch, doch entschädigt dafür der Sonnenaufgang, und der verspricht auch genau den Tag, den wir heute für den Ritt in die Regenbogenberge brauchen. Dass die Pferde wieder schweres Gelände meistern müssen, konnte man sich denken, nicht aber die Wirklichkeit reell vorstellen. Diese Vierbeiner sind jedoch gezielt auf ihren Job vorbereitet worden, absolut zuverlässig und geländesicher, denn die Trail-Lehrzeit beginnt erst nach einer gründlichen Reitausbildung. Hat der Neuling im Gelände als Rote Laterne und Letzter im Pulk, der Sägen, Äxte und Benzin zu tragen hat, Erfahrung gesammelt und Trittsicherheit gewonnen, arbeitet er noch mehrere Jahre als Packpferd. Und erst, wenn er das beherrscht, steigt er zum Reitpferd auf. Wir steigen auch, aber über die dicken Sitzbalken am Lagerfeuer, denn Joyce hat ein englisches Frühstück parat mit Eiern, Speck und Wurst, als auch Brot, Butter, Marmelade und frische Pfannkuchen mit Honig.
Wer sich aufmerksam umsieht stellt fest, dass die Mannschaft schon fleißig war, denn die acht Reitpferde sind bereits geputzt, gesattelt und aufgetrenst. Nur die Sandwiches für die Mittagspause, die mit Obst und Getränken griffbereit in der Satteltasche verschwinden, belegt sich anschließend jeder selbst. Joyce, Sabine und John haben noch schnell den Abwasch erledigt, und Ferdl, der ein GPS-Gerät mit sich führt, lässt sich zur Sicherheit von David noch die Spezialkarte erklären, denn der Boss bleibt heute im Lager und übergibt den Taktstock an Paul. Und mit ihm an der Spitze reiten wir in den ersten zwei bis drei Stunden durch unebene Täler, über Bergrücken und Wiesen voller Frühlingsblumen und Bergazaleen, vorbei an kleinen Seen, niedrigen Wasserfällen und durch Bäche und dichte Weidenbüsche, die in den nassen Talbereichen sehr gut gedeihen. Was für ein Genuss. Ein ganz klein wenig mag es auch so sein wie damals, als die ersten Siedler durch den „Wilden Westen“ zogen. Sie mussten allerdings ums Überleben kämpfen, wir genießen nur dieses schöne Land, und sie waren es, die die Wege dafür ebneten. Inzwischen sind wir auch einem sehr steilen Hang näher gekommen, der sich als eine Art Steingletscher entpuppt. Steine, nichts als Steine, vom kleinen Kiesel bis hin zu tonnenschweren Gebilden. Und Paul steuert schnurstracks darauf zu. So recht kann ich es nicht glauben, dass wir mit Pferden über ein solches Geröllfeld wollen. Doch, als hätte Paul meine Gedanken erraten, hält er schon kurz an und meint ganz gelassen „die kennen das, das ist überhaupt kein Problem, ruhig und locker sitzen bleiben, und nur die Richtung vorgeben, mehr nicht“. Und die Pferde gingen, als wäre das alles ganz normal. Sie waren nur vorsichtiger und schauten in kritischen Situationen genauer hin. Zum Zick-Zack-Kurs muss ich auch Richard zwingen, denn sie alle wollen abkürzen, egal wie steil es aufwärts geht, und ihre Kondition hat nicht im Geringsten gewackelt. Und mein Schimmel beweist schon hier, welch erfahrenes Geländepferd er ist. Kein Zögern, keine Rumpler, ruhig und sicher sucht er sich seinen Weg durch diese Steinwüste nach oben.
Als wir eine der nächsten „Serpentinen“ einschlagen kann ich sehen, dass Sabine versucht auf eignen Füßen über den Hang zu kommen, um das Pferd zu schonen, doch Escort zieht sie schneller vorwärts als ihr lieb sein kann. Für sie war das ganz und gar typisch. Ihr hatte das Pferd leidgetan, und deswegen war sie abgestiegen. Das war gut gemeint, aber es funktioniert nicht. Das musste auch sie einsehen und stieg wieder auf.
Hinter dem Grad des Geröllfeldes geht es wieder hinunter in ein Tal, dort einige Zeit entlang und dann hinauf in die Rainbow Mountains, die ihren Namen den unterschiedlichen Erzen verdanken, die sie färbten. Oben angekommen, ist auf einem kleinen Plateau „Mittag“, und dieser Ort gehört ganz gewiss zu den schönsten Plätzen, an denen ich je mein Frühstück ausgepackt habe. Unter uns, tausend Meter oder mehr, liegt ein S-förmiges Tal, durch das sich ein Fluss schlängelt, an dessen Ufern es hellgrün leuchtet. Der Rest ist bewaldet und an drei Seiten wird die Talsohle von Zweibis Dreitausendern bedrängt, deren Gipfel weiße Kappen tragen, während ihre Flanken farbenfroh leuchten. Diese strahlenden Regenbogenfarben – rot und gelb dominieren – bei diesem Kaiserwetter „auf Augenhöhe“ zu sehen ist ganz sicherlich ein Privileg, und eins, das wir diesen Pferden zu verdanken haben. Der Wind pfeift hier oben zwar ganz ordentlich, und auch die Pferde haben sich längst zu einem Halbrund formiert und ihr Hinterteil gegen ihn gedreht, doch auf den nächstmöglichen Gipfel müssen wir noch rauf. Der dortige Rundblick ist grandios, und unter uns entdecke ich mit dem Fernglas auch noch eine Grizzlymutter mit doppeltem Nachwuchs, doch ein gutes Foto ist aus meiner Position nicht möglich. Mitgenommen hätte ich es sehr gern, aber irgendwann wird es schon noch einmal richtig klappen. Im Nachhinein musste ich volle acht Jahre warten, aber dann saß ich in Alaska mitten unter ihnen und bekam auch „meine“ Grizzlys für meine Bilderwand.
Gegen 14 Uhr wird es Zeit wieder aufs Pferd zu steigen, und mit dem Abstieg in ein Hochtal den Heimweg anzutreten. Dort warten dann einige Kilometer in nordöstlicher Richtung, denn die heutige Tour schlägt einen Kreis um unser Lager, und das Hier und Dort trennt auch noch ein verschneiter Pass. Aber Paul kennt die Gegend und weiß, was er den Pferden zumuten darf. Also wieder nach oben und dort, wo der Schnee beginnt, wird abgesessen. Im Gänsemarsch führen wir unsere Vierbeiner etwa zwei Kilometer schräg über das große Schneefeld hoch zum Pass. Neuschnee liegt nur obenauf, darunter war er fest, so dass die Pferde, die gelassen blieben wie bisher auch, nur geringfügig eintreten. Dennoch halten wir die Abstände zwischen ihnen größer als sonst, aus reiner Vorsicht. Am Ende erwies sich der Aufstieg zwar als problemlos und eisfrei, doch ist uns der feste Boden, den wir am Pass wieder unter Hufen und Füßen haben, schon wesentlich angenehmer. Der Rest des Rittes ist reiner Genuss. Über die Flanken einiger Hügel, bunte alpine Wiesen und durch lichten Fichtenbestand tragen uns die Pferde wieder hinunter in unser Tal am Fuße der Schwarzen Berge, wo im Camp Kaffee und Kuchen auf uns wartet.
Anschließend führt der Weg zum Zelt, und von dort zum Bach, denn jenseits der Bergkuppen war es heute ziemlich heiß, und der Schweiß muss runter. Die Füße im rauschenden Gewässer signalisieren zwar sofort „saukalt!“, doch die Antwort ist militärisch: „Macht nichts, Luft anhalten, hinsetzen und abduschen!“ In 30 oder 40 Sekunden ist die Prozedur erledigt, und wieder trocken im Trainingsanzug fühle ich mich wie neu geboren und freue mich auf den Abend am Lagerfeuer. Dort wird es dann auch wesentlich später als gestern, denn auch der sehr schweigsame David taut langsam auf, erzählte von diesem Land, seiner Arbeit, den Ureinwohnern, und seiner eigenen indianischen Herkunft. Dazu eine sanfte Landschaft, die vor dunklem Wald auf gelb-grünlich schimmernder Wiese friedlich grasenden Pferde und ein wenig Rotwein am knisternden Feuer, was will man eigentlich noch mehr? Viel geredet haben wir an diesem lauen Sommerabend nicht, aber lange und aufmerksam zugehört, bis in die Dunkelheit.
Mit gepackten Duffel-Bags gehen wir am nächsten Morgen zum Frühstück. Die Zelte haben noch Zeit, mit ihnen wird eines der letzten Pferde beladen, wenn das Lager komplett abgebaut und alles auf den Packpferden verstaut ist. Der heutige Weg wird durch den Young Creek zum Crystall Lake führen, und dort weiter in das Mackenzie Valley, in dem „Dave Dorseys Horse Camp“ das Tagesziel ist. Das Tal ist wieder wunderschön, das Camp nicht viel anders als vorher. Lediglich ein großes Holzschild mit eingebrannter Schrift weist darauf hin, und Joyce’s „Küchentisch“ gehört zur Festausrüstung. Genau genommen ist es nur der Rahmen, denn zwischen zwei gegenüberstehenden dicken Bäumen wurden zwei waagerechte Stangen festgebunden. Eine vor, die andere hinter den Stämmen, und auf diese legt David zwei Böden, die eine abwaschbare Tischdecke verschönert. An den überstehenden Stangenenden finden die Wassersäcke ihren Platz, aus denen der Ansaugschlauch die Filteranlage bedient, die ihrerseits den Eimer füllt. Der Rest ist schnell erledigt: Küchenkisten griffbereit zurechtrücken und öffnen, zwei Hackklötze heranrollen, getrennt voneinander aufstellen und die Lücke zwischen ihnen mit einem Brett schließen, damit Tiegel und Pfannen ihren Platz haben. Der Koch kann loslegen. David und Paul versorgen die Pferde, wir helfen hier und dort, bauen unser Zelt auf, und nach der Dusche im Bach heißt das gemeinsame Ziel wieder Lagerfeuer, wo der Stuhl ein Baumstamm mit Satteldecke, und der Tisch die eigenen Knie sind. Als ich dort ankomme, stehen aber fast alle Mann um Joyce herum an deren Küchenplatz und schauen „nach draußen“. Zu mir gewandt meint sie „schau, da draußen, das ist mein Blumengarden“. Und tatsächlich hat man den Eindruck durch ein Fenster zu sehen, denn die beiden hochstämmigen Kiefern, die den „Küchenarbeitsplatz“ fixieren, vermitteln diesen und lenken den Blick auf die bunte Wiese außerhalb des Camp-Wäldchens. Dort blühen Tausende der farbenprächtigen Indian Paintbrushs, die in ihrer aufrechten Haltung bunten Farbpinseln ähneln. Das dominante Rot und Gelb passt auch richtig gut zum Blau der Lupinen, die eine unsichtbare Hand als Kontrast zugefügt hat, während die weißen Lilien dem Gesamtarrangement auch einen Tupfer Eleganz verleihen. Es ist wirklich ein wunderschöner Blumengarden!
Unterwegs hat sich heute auch gezeigt, wie schnell das Wetter im Küstengebirge umschlagen kann. Teilweise hat es eiskalt gepfiffen und ordentlich geschneit, dann schien wieder die Sonne. Und je höher wir kamen, desto stärker wurde auch der Nebel, so dass wir den Mackenzie-Pass streichen mussten, denn sehen würden wir dort rein gar nichts. Stattdessen machen wir einen Ritt durchs Tal, bei dem die beiden Collies zwei Bären und einige Elche aufspüren. Als David sie zurückpfiff, dreht nur Rio um. Willie hat es entweder überhört, oder folgt seinem Jagdtrieb. Da half dann auch nicht, dass er mit eingezogenem Stummelschwanz später reuevoll zurückkehrte und sich vor David hinlegte. Abseits im Wald, wohin die beiden gegangen waren, folgte die Strafe auf den Fuß. Uns tat das unendlich leid, denn dieser quirlige, liebe Kerl hatte unsere Herzen längst erobert. Wir verstanden aber auch unseren Gastgeber, der später von sich aus erklärte: „Das kann man nicht straflos akzeptieren. Er gefährdet sich selbst, könnte von Bären getötet werden, und die Gruppe braucht beide Hunde.“ Das war aber auch der einzige Ausrutscher. Unterwegs verbellten diese beiden lustigen Gesellen Bären und kontrollierten abwechselnd den ganzen Tross, von vorn bis hinten, und wieder zurück. Und sie sind stets zur Stelle, wenn jemand das Lager verlässt, gleich, ob am Tag oder in der Nacht, und ob der Weg zum Bach, zum Filmen führt, oder „für kleine Jungs“ ansteuert. Willi liebt ganz besonders die Gänge zum Bach, springt dort sofort hinein, dann auf den nächstbesten Stein und wartete darauf, „ein Stöckchen“ aus dem Wasser holen zu können. Immer wieder, unermüdlich, und auch bei Regen. Was ihre kleinen Pfoten an Kilometern abspulen, ist unglaublich. Nie betteln sie, nie betreten sie das abgesteckte „Wohnzimmer“, sondern warten immer am Rande bis auch sie an der Reihe sind. Und vor ihnen kommen stets die Pferde, dann die Menschen, sie erst ganz am Ende, wenn alle anderen schon satt und zufrieden sind. Willi und Rio sind zwei ganz treue Seelen, die wir leider nie wiedersahen, denn acht Jahre später, als wir im Eagles Nest meinen Geburtstag feiern, springen zwei neue Begleiter aus Davids Pickup, und auch Richard und Escort werden wir nicht wieder begegnen, denn auch sie sind schon im Pferdehimmel.
Nach getaner Hausarbeit wie abwaschen, abtrocknen, zusammenräumen, Holz sägen oder hacken, damit auch dem nächsten Trupp entsprechender Vorrat zur Verfügung steht, finden wir uns alle wieder am Lagerfeuer ein, erzählen und reden über Gott und die Welt, und mit der Zeit taut auch David- schweigsam, nachdenklich, nichts dem Zufall überlassend – immer mehr auf. In seinen Adern pulsiert noch viel Indianerblut, denn sein mütterlicher Großvater war der angesehene Häuptling Chief Squinas, und auch sein väterlicher Großvater, Lester Dorsey spielte in jenen Tagen eine wichtige Rolle. Seine Großeltern gehörten der Gruppe der „Carrier“ an, für die er noch immer ehrenamtlich mitarbeitet und im Winter das Sägewerk am Laufen hält. Seine Großväter waren zu einer Zeit aktiv, als sich drei verwegene Cowboys von Anahim aus durch die mythischen Itcha Illgachuz Berge und das unbekannte Land kämpften, um weit dahinter Millionen Hektar Grasland im Cariboo-Chilcotin zu „öffnen“ und 1937 im Norden von British Columbia die „Frondier Cattle Company“ zu gründen. David, mittelgroß und kräftig, ist einer der zupacken kann und muss. Die wenigen dunklen Haare, die dem Endvierziger verblieben sind, bedeckt ein zusammengeknotetes buntes Tuch, das er unter dem breitkrempigen Westernhut trägt, und aus seinem gutmütigen Gesicht spricht unverkennbar der Indianer. Buntes Hemd unter brauner Windjacke, die Hosen in festen Gummistiefeln aus Deutschland („das sind die Besten“), so lernten wir den Rancher und Outfitter bei unserer ersten Ankunft kennen. Für unterwegs werden dann nur noch die ledernen Westernchaps übergeschnallt und eine wetterfester Umhang übergezogen. Dass dieser in sich gekehrte Mann sehr belesen und kompetent ist, wenn es um die verschiedensten Themen dieser Welt geht, überrascht mehr, als dass man es erwartet, und seine Ansichten hierzu würden wohl die meisten seiner Zuhörer sofort unterschreiben. Und diese Persönlichkeit dürfte es auch sein, die ihn so sympathisch macht. Und sie? Joyce ist groß, hager, zäh und mittelblond, ein verlässlicher Kumpel, der ebenfalls hart arbeiten muss, und ein absoluter Pferde- und Outdoor-Typ, der nichts vom Stadtleben, Fernsehen oder Menschenmassen hält. Käme die Zivilisation der abgelegenen Ranch zu nahe, ich glaube, sie würde sich dann weiter in die Einsamkeit der Natur zurückziehen wollen. Gemeinsam sind diese beiden großartigen Charaktere ein unschlagbares Gespann, und Tochter Leslie folgt bereits den Spuren ihrer Eltern.
Beim Aufbruch am nächsten Tag regnet es heftig, doch macht das komischerweise niemandem etwas aus, obwohl wir schon zum Frühstück im wetterfestem Anorak und Regenhose antreten. Die Stimmung ist einfach bestens, und die losziehende Regenkarawane muss auch unbedingt auf Sabines Film, denn unterwegs kann man nicht bei jeder guten Gelegenheit anhalten. Unter einem großen Regenschirm klappt das auch sehr gut und ohne jegliche Folgen für die sensible Technik. Die Videofilmerei ist normalerweise ganz allein Sabines Sache, doch bei diesem schweren Regen nimmt sie lieber meinen Schimmel ins Schlepptau und zieht mit der Meute an mir vorüber. Der Boden, den wir heute betreten, ist ein historischer. Es ist ein Teilstück des „Greace Trails“, jenes Indianerpfades, der schon vor Hunderten von Jahren das Landesinnere mit der Küste verband. Von Weg ist natürlich keine Rede, sondern der Trail gibt heute eher die Richtung vor, doch mögen hier und dort die Hufe unserer Pferde durchaus auch die alten Indianerspuren direkt berühren. Wir reiten auch nicht nur durch wunderschöne Täler, tiefe Wälder oder über Hügel, sondern das Gelände ist insgesamt recht anspruchsvoll. Längere Zeit reiten wir auch am schmalen Rand einer tiefen Schlucht bergab, und dabei haben die Pferde „alle Beine voll“ zu tun, um an diesem Hang, der auf der Talsohle des Canyons endet, die richtigen Tritte zu finden. Vorher gab es auch größere Bachläufe zu durchwaten, und den einen oder anderen tiefe Graben hinter sich zu lassen. Und wie die Pferde das erledigten, obwohl sie größtenteils ungeübte Reiter im Sattel hatten, erstaunte einmal mehr. Schmale Gräben sprangen die Nachfahren jener spanischen Mustangs, die Cortez einst mit nach Amerika nahm, und die die Indianer zu Reitern machten, fast aus dem Schritt, bei breiten trabten sie unaufgefordert kurz an, sprangen an das gegenüberliegende Ufer, und mit einem zweiten Satz wieder nach oben. Dort setzten sie ihre normale Gangart fort als wäre nichts gewesen.
Gegen Mittag hat der Regen aufgehört, doch Davids Feuer ist sehr willkommen, als wir im Hochwald pausieren, dessen Boden mit Moosen, Farnen und kleinen Sträuchern bewachsen ist. Neben unserer Lichtung rauscht ein stürmischer, breiter Bach mit viel Gefälle vorbei, den man wohl besser als River bezeichnet. Oberhalb seines Ufers hat David ganz schnell einen dürren Baum zusammengesägt, der schon wohlige Wärme verströmt, als wir uns alle mit Mittagsbroten, heißem Kaffee und klammen Fingern im großen Rund um die Flammen versammeln. Wirklich nass sind wir zwar nicht geworden, denn die Regenkleidung hat gehalten, was sie versprach, dennoch, die Wärme tut gut. Nur Willie scheint weder sie noch eine Pause zu brauchen, denn er springt immer wieder hinunter zum Bach und wartet im seichten Wasser darauf, dass jemand mit ihm spielt. Rio sieht das ganz anders. Er legte sich sofort in das Huckle-Berry-Kraut – die Frucht ist eine Art sehr wohlschmeckende große Heidelbeere – und belauscht, mit dem Kopf auf den Vorderpfoten, von unten heraus das Geschehen an der Feuerstelle. Vielleicht beobachtet er dort aber auch nur ganz verwundert John, der, auf einem Baumstamm sitzend die nackten Füße auf einen großen Stein stützt und seine Socken und Wildlederhalbschuhe an zwei langen Stöcken Richtung Feuer hält, um sie zu trocknen. Ein köstliches Bild, doch „eine solche Ausrüstung“ gehört überall hin, nur nicht auf einen Trailritt.
Wieder im Sattel führt der Weg weiter bergab. Links der Bach in seiner immer größer und tiefer werdenden Schlucht, rechterhand zieht dichter Wald nach oben und lässt uns wenig Raum. Hier geht es aber nicht anders, und als wir wieder vom Gewässer abdrehen und versuchen, den besten Weg im Gänsemarsch durch den Wald nach unten zu finden, kommt der Tross zum Stehen. David ruft nach der Motorsäge und Axt. Das hatten wir schon mehrfach, aber dieses Mal sieht es ziemlich wüst aus, was da vor uns über- und durcheinander den Weg versperrt. Außerdem ist der Hang ziemlich steil, durch den Regen rutschig geworden und mit vielen dicken Wurzeln durchsetzt. Wir Männer sitzen ab, stellen die Pferde quer und helfen David und Paul in den nächsten dreißig Minuten das Windbruch-Chaos soweit zu beseitigen, dass auch die Packpferde durchkommen. Die restlichen Stunden verlaufen unkompliziert. Wir reiten zunächst durch ein langes Tal, dann über eine letzte Anhöhe und erreichen das Smoke House am Tanya Lake bei schönstem Sonnenschein. Auf den letzten Kilometern nach hier wurden auch die Schritte unserer Pferde immer freier. Sie waren zwar in diesem Jahr noch nicht hier, aber sie kennen die herrlichen Wiesen, die sie hier erwarten. Wir sehen das mit einem lachenden und einem weinenden Auge, weil unser Ritt hier zu Ende geht. Wir würden gern noch weitermachen, ohne Wenn und Aber, und ohne Ausnahme. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir heute das Wetter aller vier Jahreszeiten kennengelernt haben und wissen, dass das jederzeit wieder so sein könnte. Wirklich gestört hat es uns aber nicht, und es war auch unter diesen Bedingungen eine runde Sache und ein toller Tag, so wie der gesamte Ritt.
Die Schwarzen Berge, das Mackenzie-Tal und der Grease Trail, auf dem einst die Küstenindianer mit Fischöl ins Innere des Landes zogen, um ihre Ware gegen Felle einzutauschen, waren Stationen, der Tanya Lake unser Ziel. Dazwischen lagen alpine Wiesen, Sümpfe, Bäche, Flüsse, Wasserfälle, Geröll- und Steinfelder, tiefste Wälder, Schluchten, steilste Hänge, Moränen, glatter Fels, dichtes Unterholz, Hochebenen mit Weidenbüschen, die Ross und Reiter verdeckten oder die Rainbow Mountains, eine Droge, die die Augen beruhigte. Unser Weg war voller Stille, Schönheit, Weite und menschenleer. Unsere Pferde, die keinen Stall kennen, waren großartig. Auf der Hinterhand rutschten sie mit absoluter Sicherheit in tiefe Gräben, oder übersprangen sie, wenn ihnen das ratsamer erschien. An Hängen mit Wurzeln, Steinen, Baumstämmen waren sie in der Lage, ihre Richtung mit dem nächsten Schritt um 180 Grad zu ändern, und dennoch sicher aufzufußen. Wurde es abwärts glitschig, kannten sie die Festigkeit des Gebüschs und wichen nach dort aus. Stets aber vorsichtig, und nur in der Not mit einem ordentlichen Satz. Und hatten sie am Wasser Flussbettzustand und Tiefe erkannt, ging es mit aller Ruhe zielstrebig weiter. Diese Pferde, Quaterhorses oder Kreuzungen mit ihnen, waren in keiner Situation hektisch oder unsicher, und eigentlich suchten sie sich ihren Weg ganz allein. Ihre Tritt- und Geländesicherheit, ihre Ruhe waren verblüffend. „Reiten können“ muss man nicht unbedingt, um sich mit ihnen die Natur zu erschließen. Es reicht, mit Pferden vertraut zu sein, oder ihnen das Vertrauen ganz einfach nur zu schenken. Normal gute Fitness, keine Angst und sich den rustikalen Gegebenheiten anpassen zu können, sind für ein solches Abenteuer jedoch unerlässlich. Morgen- und Abendtoilette am Bach und im Busch gehörten ebenso zum Erlebnis, wie die Nachbarschaft zu Bären und Elchen und die Abende am Lagerfeuer, wenn nach getaner Arbeit so manche Geschichte die Runde machte. Von David erfuhren wir sehr viel über seine Vorfahren und Ansichten zur Natur und ihren Geschöpfen. Und wir stellten fest, dass nicht nur ein Europäer von diesem großartigen Charakter noch sehr viel lernen kann.
An diesem Abend wird das „Smoke House“ – neun Jahre später fast zugewachsen – zum Mittelpunkt unseres Camps. „Haus“ ist übertrieben, denn das mit Rindenschindeln abgedichtete Baumstammdach ruht lediglich auf acht Pfählen, vielmehr gibt es nicht. Die Tanya Lakes jedoch, auch bekannt als Long Lakes, waren etwa viertausend Jahre lang für die Ulkatcho Indianer und ihre Nachbarn ein wichtiger Treffpunkt, wenn in jedem Juli die Steelheads und Spring-Salmons vom Dean River kommend den Takia hochschwammen, um ihre Laichplätze zu erreichen. Dann versammelten sich die Ureinwohner an den Fällen, um ihren jährlichen Fischbedarf, der an Ort und Stelle geräuchert und getrocknet wurde, zu decken und feierten auch ein großes Fest. Sie kamen sogar von so weit entfernten Orten wie Nazko und Kluskus im Osten, von Burns Lake und Choslatta im Norden, vom Chilcotin im Süden und Bella Coola im Westen. Der Fischfang galt gleichzeitig auch als wichtiger sozialer Treff, denn das ganze Jahr über lebten diese „Native People“ in kleinen, isolierten Familiengruppierungen. Hier konnten sie sich ihre Geschichten teilen, handeln, und ihre traditionellen Spiele und Riten gemeinsam zelebrieren. Damit wurden diese Seen für sie auch zu einem wichtigen kulturellen Ort. Als Chief Jimmy Stillas, der letzte Häuptling der Ulkatchos, 1987 diese ererbten, traditionellen Rechte seines Volkes auch öffentlich geltend machte, campten mehr als zweihundert Leute seines Stammes eine ganze Woche lang am See und feierten ihr Fest.
Das Smoke House hat sich seit damals auch kaum gewandelt. Unter seinem Dach hängen nur einige neue Utensilien, die David oder Wanderer nach hier brachten, wenn sie unter ihm rasteten, um danach ihren Weg auf dem nahen „Mackenzie Heritage Trail“ fortzusetzen. Dessen 420 Kilometer beginnen in der Nähe von Quesnel am Blackwater River und erreichen nach 300 Kilometer durch das Interior Plateau auch den Tweedsmuir Park, den er am Highway 20 wieder verlässt, um Bella Coola zu erreichen und den letzten der 1.800 Höhenmeter hinter sich zu bringen. Für die restlichen 65 Kilometer der historischen Route braucht man dann allerdings ein Boot, denn der Sir Mackenzie Provincial Park, der den „Mackenzie Felsen“ schützt, liegt am Nordufer des Dean Channels. 2010 hatten wir diesen Felsen auch auf dem Programm, aber als unsere Fähre in Ocean Falls ankerte, hatte der Himmel alle Schleusen geöffnet und machte diesen kurzen Ausflug unmöglich. Der landschaftlich schönste Abschnitt auf dem „Mackenzie-Pfad“ sind jedoch die 80 Kilometer durch den „Tweedsmuir“, wo der Wanderer im Juni und Juli aber noch mit Schneefeldern und vollen Flüssen rechnen muss. Diese Tour ist allerdings eine schwere, und eine genaue Beschreibung gehört so zwingend ins Gepäck, wie die zahlreichen Abschnittskarten und ein GPS-Gerät. Mackenzie folgte diesen Indianerpfaden 1793 und erreichte das Bella Coola Tal nach vierzehn Tagen. Für ihn war es der letzte Abschnitt, um Kanada komplett, von „See zu See“, auf dem Landweg durchquert zu haben. Heute folgen begeisterte Wanderer seinen Spuren, die sich Teile, abzweigende Touren oder auch den gesamten Weg, den auch erfahrene Buschmarschierer nicht unter drei Wochen schaffen, zum Ziel setzen. Dank der Wasserflugzeuge lassen sich Ein- oder Ausstieg zwar wesentlich erleichtern, und auch bärensichere Verpflegungsdepots anlegen, doch der Tweedsmuir-Provinzpark ist reine Wildnis und nichts für „Anfänger“ ohne Führer. Hitze, Schneesturm, Regen, schweres Gelände und Flussdurchquerungen sind aber auch dann zu überstehen, um diese Herausforderung als großartiges Erlebnis zu meistern.
Der Standplatz des Smoke Houses war strategisch gut gewählt, weil sich hier einige der wichtigsten Indianerpfade früherer Zeit treffen. So gehören der „Nuxalk Carrier Grease Trail“ und der „Rainbow Valley Trail“, die beide von den Pfaden „Ulkatcho Bella Coola “ und „Salmon House“ gekreuzt werden, heute zur „Mackenzie Heritage Route“. Und warum „Grease Trail“? Weil über diese Pfade das Fischöl der Küstenindianer in das Innere des Landes getragen wurde, das als Nahrung oder Medizin Verwendung fand. Gewonnen wurde es von dem zwanzig Zentimeter langen „Euchlachon“ (silberne Seiten, brauner bis schwarzer Rücken), den die Eingeborenen auch „Saviour-Fish“ (Retter, Erlöser) nannten, weil er der erste war, der nach einem langen Winter die Flüsse hochschwamm und das Hungern beendete. Die ersten Siedler bezeichneten diesen Dünnling, der, im getrockneten Zustand wie eine Kerze fungierte, auch Candle-Fish.
Für uns war das „Räucherhaus“, auf dessen Wiesen wir die Zelte ein letztes Mal aufschlugen, ebenfalls ein wunderschöner Platz. An drei Seiten von Wald begrenzt eilt der Blick nach vorn über die Wiesen und hinunter zu dem See mit seinen schilfbewachsenen Ufern und Wasserarmen Und ganz in der Nähe rauscht auch noch ein Wasserfall. Das stimmt friedlich und ist Balsam fürs Gemüt. Ein wenig Wehmut schleicht sich bei diesem sanften Anblick aber auch ein, denn morgen, am späten Nachmittag, wird die Beaver auf dem See landen und uns abholen. Die Pferde werden wir früh am Tag noch einmal satteln, aber danach geht er hier, am südlichsten der drei in einander übergehende Tanya Lakes, unwiderruflich zu Ende, der kurze Traum vom Tweedsmuir Park. Aus diesem See entspringt auch der Takia River, der nach zwanzig Meilen seine Wasser dem Dean-Fluss übergibt. Und unweit dieser Mündung liegen mit den „Salmon House Falls“ auch die einstigen Fischgründe der Indianer dieser Region. Ihren Namen verdankten die Fälle den vom Wasser ausgespülten Felshöhlen, in deren ruhigem Wasser sich die Lachse ausruhen, ehe sie den Fall überwinden. Der Weg nach dort ist allerdings beschwerlich und führt über sehr zerklüftetes Terrain, so dass unsere Zeit dafür nicht mehr ausreicht.
War es überhaupt wichtig, dass der „White Man“ eine Landroute zum Pacific zu finden suchte, wenn es schon andere Einwohner gab, die hier seit der Zeiten der Gletscher zu Hause waren? War es richtig, dass sie Mackenzie und seinen Leuten als Gastgeber dienten, sie verpflegten und ihnen den Weg zur Küste zeigten? Mit dem weißen Mann, der ihnen den Namen „Indians“ gab und sich damit geographisch um „eine halbe Welt“ irrte, kamen praktische Handelsgüter, aber auch die Pocken, Geschlechtskrankheiten und Alkohol in das Land, das ihnen größtenteils auch noch genommen wurde. Wenn die ersten Schritte der Europäer noch eine Art Blick ins Paradies waren, begannen sie mit ihrem Betreten dieses auch gleich zu zerstören, als sie in eine intakte Wildnis massiv eingriffen? Erst wurden die Büffel, dann die Bieber fast ausgerottet, und auch mit den Eingeborenen, von denen viele durch die fehlenden Büffel ihre Lebensgrundlage verloren, wurde nicht zimperlich verfahren, ehe Holzschlag und seine Abfahrtwege, Stromleitungen oder Allrad-Trucks ihre Spuren hinterließen. Gut, dass der Mensch gelernt hat umzudenken. und nun versucht, beides in Einklang zu bringen, die Erhaltung der Natur und seine eigenen Interessen. Für die Indianer ist der Mackenzie-Trail, auch Grease Trail oder West Road genannt, keine Errungenschaft des „Weißen Mannes“, sondern ein „Non-Event“, denn letztlich ist es ihr Pfad, der einer ihrer uralten Verbindungen im Trailnetz des kanadischen Westen war. Dass man sich darauf besann, solche Gebiete zu schützen und auch die Ureinwohner daran teilhaben zu lassen, muss als kluge und mutige Entscheidung gelten, doch wenn die Besucher der Nationalparks nicht begreifen sollten, dass die Natur nicht allein auf diese beschränkt ist, dann hätten wir verloren.
Nach einem ersten „Ankunfts-Kaffee“ hatten wir alle mitgeholfen, das Smoke House häuslich einzurichten und auch Joyse’s Küche wieder entstehen zu lassen. Paul kümmerte sich danach um die Pferde, David und ich um neues Feuerholz. Der Verbrauch muss stets ersetzt werden, und bei der Auswahl war David nur auf verdorrte und umgestürzte Bäume bedacht, deren gesägte Klötzer von Ferdl gehackt und John gestapelt wurden. Anschließend erledigte jeder seinen eigenen Kram. Für mich hieß das Packsäcke holen, einen geeigneten Zeltplatz auf der Wiese aussuchen und unsere gelb-blaue Bleibe aufzubauen. Und als die kleine Behausung gerade so steht, kommen auch schon die Pferde, fegen zwischen den Zelten entlang und galoppieren zielstrebig durch eine kleine Schlucht zu ihrer Wiese unten am See. Die, die sich „ohne“ nachts zu weit vom Lager entfernen, sind zwar an den Vorderbeinen „gekoppelt“ und können nur kleinere Schritte machen, aber sie haben längst eine Technik entwickelt, die sie nur wenig langsamer sein lässt. Sie erlaubt ihnen sogar den kürzeren Weg über zwei kleine Gräben zu nehmen, die sie ganz locker springen. Nur der vierjährige Fuchs, der erstmals dabei ist und Säge, Äxte und Benzin trug, der hat den Dreh mit den Vorderbeinen noch nicht raus und hoppelt wie ein Schaukelpferd hinterher. Er hat heute aber auch alle Zeit der Welt, nur Paul hatte es eilig, den sein Nachbar noch vor dem Abendessen mit dem Wasserflugzeug abholte, denn bis Montagfrüh hat er frei und will zu seiner Familie. Für alle anderen wird es ein langer, schöner Sommerabend am Feuer. Für uns Gäste ist es zwar der letzte hier draußen, doch ganz zu Ende ist weder diese Geschichte, noch unsere Reise.
Am nächsten Morgen ist Samstag, und wieder meint es die Sonne mit uns gut, als wir zu dem nahem Wasserfall gehen, wo uns David den Lachsfang mit dem Speer zeigen wollte. Es ist aber ganz gut, dass die großen Fische noch nicht da sind, denn ob an der Angel oder am Speer, ich muss das nicht unbedingt sehen. Auf dem kurzen und schönen Heimweg können wir an den vielen leckeren Huckle- und Salmon Berries nicht so einfach vorbeigehen, und nehmen uns für die letzteren, eine Art große Himbeere, leicht säuerlich und sehr wohlschmeckend, ein paar Minuten Zeit, um sie in den Lederhut zu pflücken, bis Willie und Rio ein Stückchen voraus ein furchtbares Spektakel beginnen. Der Grund war ein Schwarzbär, der vor ihnen auf einen Baum geflüchtet war. Er war einer der jüngeren und gehörte noch nicht zu den ausgepufften Revierbesitzern, die den Weg so schnell nicht räumen wenn sie angekläfft werden. Als wir seinen Baum alle weit genug hinter uns hatten pfiff David die Hunde zurück, und im Wald wurde es wieder still.
Am frühen Mittag steigen wir letztmals in die Sättel und reiten hinüber zur anderen Seite des Sees um die Hütte zu besuchen, die Davids Großvater Lester noch gebaut hat, und die in sehr gutem Zustand ist. Genutzt wird sie als Jagdhütte und Zuflucht für Wanderer, die auf dem langen Trail durch den Park unterwegs sind. Und zwei von diesen eisernen „Hikers“ schultern gerade ihre schweren Rucksäcke zum Weitermarsch, als wir den Holzbohlenbau erreichen. Das junge Pärchen, das vor mehr als einer Woche in Bella Coola aufgebrochen war um Mackenzies Spuren zu folgen, hatte hier übernachtet, weil es seine Kleidung trocknen musste. Der Grund war ein ganz einfacher gewesen, denn gestern Abend hatte ihnen, im wahrsten Sinne des Wortes, das Wasser bis zum Halse gestanden, als sie einen Fluss durchqueren mussten. Von David bekommen sie zu dieser Gegend noch einige Ratschläge und Informationen, dann wünschen sie uns einen schönen Tag und verschwinden im Wald.
Diese Hütte nützt David auch noch selbst, wenn er im Herbst mit Jägern hier unterwegs ist. Auch das gehört zu seinem Geschäft „Guiding and Packing in dritter Generation“. Hütte und benachbarter Schuppen schützen so manch „altes Ding“, das noch immer gute Dienste verrichtet. Dem riesigen eisernen Ofen mit „Wasserpfanne“, großer Backröhre und einem Ofenrohr, das direkt zum Dach strebt sieht man an, welch große Wärme er ausstrahlen kann, wenn er richtig befeuert wird. Mich erinnert er an ein ähnliches Stück, das in meinen Kindertagen bei meinen Großeltern in der Küche des Bauernhofes stand, eigentlich die gleiche Version, nur mit einem anderen Herstellernamen an der kippbaren Backofentür. Auch andernorts war das oft so, dass mir Wagen und Geräte begegneten, die auch mein Großvater noch verwendete, oder mit denen ich in ganz jungen Jahren noch selbst gearbeitet habe. Im Wagenschuppen hatten auch ein Korbwagen und ein „vornehmer“ Landauer ihren Platz, da hingen die gleichen Pferdegeschirre, und die Mähmaschine oder der Selbstbinder verkündeten lediglich ein anderes Fabrikat als die, die ich in Kanada an „Historischen Orten“ oder in Freilichtmuseen sah. Auch die Heurechen und Heuwender mit Doppeldeichsel, in der ein einzelnes Pferd agierte, sahen hier nicht anders aus als die, auf deren eisernem Sitz ich Platz nahm, wenn im Sommer nach der Schule jede Hand gebraucht wurde. Dazu gehörten auch die Leiterwagen für die Heu- und Getreideernte, die sich durch Austausch der Aufbauten zum Kastenwagen wandelten, wenn Kartoffel, Rüben oder Möhren vom Feld abgefahren werden mussten. Auch die „selbstgehenden“ Ackerpflüge waren mir längst bekannt. Diese hatten statt einer einzigen „festen“ Pflugschar, zweimal zwei drehbare, damit auch in der Gegenrichtung gepflügt werden konnte. Für mich als helfender Bub hatten sie neben dem Vorteil, dass man sie unterwegs nicht festhalten musste, auch einen Nachteil, sie waren sehr schwer. Und für mich, als 13- oder 14-jährigem Knirps kam das Problem dort, wo am Feldrand gewendet wurde, um die nächsten fünfzig Zentimeter in entgegengesetzter Richtung umzupflügen. Ich musste unter die Handgriffe des Pfluges kriechen, um das schwere Gerät mit den Schultern anheben und um 180 Grad drehen zu können. Derartiges gab es hier in der Blockhütte natürlich nicht, dafür aber Ambos, Hufeisen, Sense, Dengelzeug, Pech, Faden und Sattlernadeln, Äxte, Eimer, Siebe, Bandsäge, Gummistiefel, Decken, Seile, Rucksäcke, Lederriemen und Kleinkram, der an der Wand oder unter dem Dach hing.
Der Ritt zurück zum Camp führte über einen kleinen Umweg, und dort wird, nach einem schnellen, allerletzten Kaffee, der Duffel Bag reisefertig gemacht. Die Zelte bleiben stehen, denn in zwei Tagen bringt das Buschflugzeug neue Reiter nach hier. Unser Sack ist schnell gepackt und verschnürt, und so stiefeln wir durchs hohe Gras hinunter zum See, um uns von den Pferden zu verabschieden. Escort grast vorn an der Wiese, mein Schimmel schläft ziemlich weit hinten am Ufer. Dem Schwarzen streiche ich nur einige Male zum Dank wortlos über den Hals, dann gehe ich weiter. Ich weiß, dass Sabine jetzt mit ihm allein sein möchte, denn für mich gilt das auch. Als ich näher komme, steht Richard auf. Ich streichle seinen Hals, graule ihn zwischen den Ohren, dann nehme ich seinen Kopf in beide Hände. Und während ich leise mit ihm spreche, schauen seine großen, dunklen Augen aus, als würde er jedes Wort verstehen. Er war mir ein treuer, zuverlässiger Kamerad gewesen, nicht hübsch oder auffallend, aber ein ganz tolles Pferd, das mir ans Herz gewachsen war. Und ich bin froh, jetzt mit ihm ganz allein zu sein. Eigentlich bin ich eher ein „harter Hund“, doch der Abschied von diesem Pferd geht mir unglaublich nahe. Ich habe ihm aber alles gesagt, was ich ihm sagen wollte, und nach einer letzten Umarmung und „Lebewohl“ gehe ich schnurstracks zurück zum Zelt. Im Moment möchte ich mit niemandem sprechen, nur einige Augenblicke allein sein. Und als ich um die Ecke in die kleine Schlucht einbiege, lehnt David an einer verwitterten Fichte. Er hatte das Ganze wohl beobachtet. Er sagt aber kein Wort, nickte mir nur unmerklich zu …
Wenig später hören wir die Beaver kommen. Sie hat den typischen Sound dieser kleinen Maschinen, hart, tief und kernig. Das Buschflugzeug mit den Wasserkuven zieht einen Halbkreis über dem See und setzt weit draußen auf. Und während wir unsere geschulterten Packsäcke Richtung Anlegestelle – ein paar Bretter im Gras – tragen, kommt die Maschine auch schon durchs Schilf getuckert, dreht bei und schaukelt lautlos zum Rand des Wasserarmes. David packt das kurze Seil, das an der Tragfläche baumelt, und hält es fest, bis der Pilot sie vertäut hat. Die Stimmung ist jetzt auch bei den vier Kanadiern gedrückt, denn wir hatten Menschen kennen gelernt, die uns mehr gegeben hatten als ein wunderschönes Naturerlebnis. Und ich glaube auch heute noch – einige Jahre später – dass wir auf unseren Reisen nie zuvor oder danach Menschen trafen, von denen uns der Abschied ähnlich schwer fiel, wie von Joyce und David. Den Pferden wünschten wir, dann mit Engländern im Sattel, einen guten und sicheren Weg zurück. Dass der Chef persönlich am Steuerknüppel saß beruhigte die, die erstmals in eine kleine Maschine einstiegen. Aber diesen Buschfliegern kann man sich getrost ohne Wenn und Aber anvertrauen. Sie können fliegen, am technischen Zustand gibt es keinerlei Zweifel und die Maschinen sind ihr Broterwerb und ihre eigene Lebensversicherung. Vor Jahresfrist im afrikanischen Tansania waren die Gefühle schon etwas anders. Auch jener Pilot war gut, doch waren das auch die Finanzen der Firma? Damals ging jedenfalls alles glatt, und der Flug entlang eines wolkenlosen Kilimanjaros war ebenso beeindruckend, wie die große Safari. Seither sind mir diese kleinen Maschinen äußerst sympathisch. Ganz besonders aber, wenn es sich um nordamerikanische Wasserflugzeuge handelt, mit einheimischen oder englischen Piloten.
Vor dem Einsteigen werden noch einige Kartons für Davids Nachschub ausgeladen, und dann geht alles sehr schnell. Ein letzter Händedruck, das Versprechen „wir kommen wieder“, ein kurzes Winken des Piloten und der Siebensitzer dreht ab zum offenen See. Dort gewinnt er über dem hellgrün schimmernden Wasser schnell an Höhe und zeigt uns rechterhand, dass sich hinter dem Ufer weite Waldflächen ausbreiten, während gegenüber schneebedeckte Berge den Horizont säumen. Minuten später ist unter uns nichts als Wald, nur einige Flüsse heben sich glänzend ab. Hier und dort leuchtet auch ein hellgrünes Tal zu uns herauf, und die Holzeinschläge gleichen kompakten Feldern, runden und viereckigen. Die Wege, die von ihnen wegführen, ähneln ungeglätteten Wollfäden, die sich irgendwo unter uns verliert. Und als es durch die Rainbow Mountains geht, sitze ich auch auf der richtigen Seite, denn die von der Sonne angestrahlten Felsen leuchten jetzt in ihrer ganzen Pracht, und dass der Pilot wegen der Aufwinde nahe am Hang entlang fliegt, macht das Ganze noch attraktiver. So nahe über dieses bunte Gebirge zu fliegen ist grandios, und das der Pilot – Absicht, Zufall oder kundenfreundlicher Service – noch zusätzlich eine scharfe Kurve fliegt und anschließend eine „Acht“, ist besonders schön. Ersteres erfreut die rechts sitzenden Passagiere, die nun in den Genuss der ganzen Farbenpracht kommen, während die Acht einer Grizzlyfamilie galt, die der Pilot entdeckt hatte. Die insgesamt etwa vierzig Minuten vergingen im wahrsten Sinne wie im Flug, und als die Maschine auf unserem Heimatsee, dem Anahim Lake, aufsetzt, hat es weder geholpert noch gespritzt, man merkt rein gar nichts. Die restlichen Meter bis zum Bootssteg von Eagles Nest dauern keine zwei Minuten, und damit ist das Abenteuer Trailritt zu Ende.
Die nächste Stunde gehört jedem selbst, und nach gründlicher „Wäsche und Rasur“ wartet die Dame des Hauses mit kaltem Bier und einem zünftigem Abendessen auf uns, und in Salzburg oder Tirol hätte auch nichts Besseres auf dem Tisch stehen können. Nur der Wein, mit dem wir anschließend unsere schöne Tour feiern, war kein Grüner Veltiner, sondern kalifornischer Roter. Bei der einen Flasche ist es natürlich nicht geblieben, aber sehr spät wurde es auch nicht, denn unsere vier kanadischen Mitstreiter mussten am nächsten Morgen zeitig aufbrechen, denn der Weg bis Calgary ist weit, und am Folgetag rief wieder die Arbeit. Und somit war der neue Tag auch für uns noch sehr jung, als wir den beiden Paaren nachwinkten und uns dann selbst an den gedeckten Frühstückstisch setzten. Was dann aber kam, klingt nicht nur ziemlich verrückt, es war es auch, und die Idee dazu wurde urplötzlich aus dem Nichts beim Frühstück geboren. Lady Enubi fand Sabines Wunschgedanken großartig und goss sofort Öl ins Feuer: „Spontane Dinge sind immer die besten. Tun Sie’s doch einfach. Die Dorseys werden das nie wieder vergessen!“ So schön es wäre, aber auf Anhieb kann ich mich mit „jenem“ Gedanken nicht anfreunden, denn er kostet einen zusätzlichen Tag, und umsonst geht es auch nicht. Andererseits, so meine Gedanken, verdient hätten es Joyce und David, und erneut fliegen? Das wäre ein Superding, und ein paar Reservetage haben ich ja auch noch in unsere Reise „eingebaut“. Da würde einer doch nicht wehtun? Diese Denkweise ging aber schon viel zu weit und war gefährlich, denn die Schlussfolgerung daraus folgt auf den Fuß, ein schnelles „Kostentelefonat“. Und mit dessen Beantwortung ist die Verrücktheit auch schon besiegelt: Die Hausherrin von Eagles Nest packt uns einen handfesten Frühstückskorb, fügt zwei Flaschen Chardonnay im Eiskübel hinzu, und dann fliegen wir zwei mit einer dreisitzigen Cessna zurück zum Tanya Lake!
Der Flug wird wieder ein wunderschöner, denn der junge Bursche am Steuerknüppel kennt unsere Geschichte und wählt einen anderen Weg. Prima, denn so sehen wir noch ein bisschen mehr von dieser Gegend. Runter muss er aber an der gleichen Stelle, und das „scheucht“ die Dorseys, deren frisch gewaschene Wäsche im Winde flattert, regelrecht auf. Wir können sehen, wie sie flott und diskutierend zum Bootssteg marschieren, denn angesagt war für heute niemand. Unsere Maschine tuckert auf den letzten Metern wieder durch das Schilf und dreht dann bei. Und genau in diesem Moment erkennt mich Joyce, denn während Sabine mit dem Frühstückskorb hinten sitzt, war mein Platz neben dem Piloten. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, dann David auf die Schulter, zeigt auf die Maschine, sagt irgendetwas, und ist richtig aufgeregt. David sagt gar nichts, wischt sich nur mit dem Taschentuch übers Gesicht. Als sie aber den Frühstückskorb entdecken, wussten sie worum es ging, denn beim gestrigen Abschied hatte ich David versprochen: „Wenn ich wiederkomme, dann habe ich auch Wein dabei“. Nur, dass das so schnell gehen würde, hat mich selbst auch überrascht. Wie dem auch sei, Sabines Idee finden die beiden „unglaublich“, und freuen sich auch so, und unser kleines Dankeschön wird der Auftakt zu einem wunderschönen Sonntag. Am späten Abend kommt der Pilot zurück, holt uns ab und fliegt noch einmal durch die von der Abendsonne angestrahlten Regenbogenberge. Was für ein Glücksgefühl! Und als sich die kleine Propellermaschine in ihrer Anflugschleife über Eagles Nest ziemlich steil in die Kurve legt, schlägt das Herz noch einmal höher, aus purer Freude am Erlebnis, nicht aus Angst. Und als sich die Maschine wieder in die Lüfte schraubt und unsern Blicken entschwindet sind wir uns auch einig darüber, dass es eine Superidee war, und das „Budget“, das werden wir schon irgendwie wieder in Ordnung bekommen.
Der Tree Crasher (17 Meter lang, 6,4 Meter hoch, 170 Tonnen schwer) rodete 1964 den Wald für den Williston See und zerkleinerte gleichzeitig die Bäume
Der nächsten Morgen bringt dann den endgültigen Abschied von Eagles Nest, wo mir beim Frühstück ein eingerahmtes indianisches Gebet auffällt, das in einer Nische hängt. Nachdem ich es gelesen habe beschließe ich, es zu notieren, denn es passt zu all den Erlebnissen der letzten Tage und den Dingen, von denen uns David erzählt hat. Es unterstreicht auch den Gedanken, dass hier die Wildnis regiert, und der Mensch nur Gast ist:
Indian Prayer
Oh, Great Spirit
Whose voice I hear in the wind,
Whose breath gives life to the word, hear me.
I came to you as one of your children,
I am small and week.
I need your strength and beauty.
Make my eyes ever behold the red and purple sunset,
Make my hands respect the things you have made,
And my ears sharp to your voice.
Make me wise so that I may know the things
You have thought your children,
The lessons you have written in every leaf and rock.
Make me strong, not to be superior to my brothers,
But to fight my greatest enemy
Myself.
Make me ever ready to come to you
With straight eyes,
So that when life fades as the fading sunset
My spirit may come to you
Without shame. (von Unbekannt)
Als ich damals diese Zeilen gelesen und notiert hatte, schwang schon ein wenig Schwermut mit, denn es hieß Abschied nehmen von einer wunderschönen Woche. Dass wir jemals nach hier zurückkommen würden, war so gut wie ausgeschlossen, und eine Frage danach hätte ich vor neun Jahren auch klar verneint. Weil die Welt so groß ist, so viel Schönes zu bieten hat, und weil wir nach dieser zweiten großen Kanadareise schon weit mehr als die touristischen Ziele erlebt hatten. Dass wir 2010 meinen Geburtstag mit Joyce und David bei Lady Enubi feierten, das war dem Zufall zu danken. Wir waren in Alaska und Kanada unterwegs gewesen, hatten die Fähre von Bella Coola nach Port Hardy auf Vancouver Island gebucht, und der eine Tag, der zufällig mein Geburtstag war, „war frei“. Und jener Abend sorgte dann tatsächlich dafür, dass das voreilige „wir kommen nächstes Jahr wieder“, 2011 Wirklichkeit wurde. Eigentlich hatte ich Südamerika-Pläne, aber Sabine hatte schon vorher entschieden, dass sie zu Weihnachten ihr Sparbuch plündert, um Vater und Tochter, die auch ein paar ganz junge Jahre als Amateur im Rennsattel verbracht hat, als Pferdenarren die Rainbow Mountains gemeinsam im Sattel erleben zu lassen. Aber ich bin auch Realist. Ein solcher Ritt war mir bereits vergönnt, und Dörthe, so heißt der Nachwuchs, glaubte mit viel Begeisterung, dass sie bei ihren zwei oder drei mehrtägigen Touren im Sauerland auch auf „Trailritten“ gewesen sei. Auch wenn ich diese Feststellung abwinkte wie vorher bei einem Bekannten, der zu „Kanada“ meinte, dass er das auch schon gemacht habe, um den Balaton herum! Sicherlich, beides kann auch ganz nett sein, nur mit einem Trailritt in der Wildnis hat das so wenig zu tun, wie ein Traktor mit einem Porsche, oder ein Vollblüter mit einem schweren Belgier. Wer aber dieses Land, seine Wildnis, die unendlichen Weiten und die Abgeschiedenheit nicht kennt, der kann es sich ganz einfach auch nicht vorstellen, welch schwieriges Gelände man sich mit diesen Pferden erschließen, und auch wochenlang unterwegs sein kann, ohne Wege und Pfade, und ohne einen einzigen Menschen zu treffen. Doch diese Erfahrungen hatten wir 2002 gemacht und nicht geglaubt, dass man sie noch übertreffen könnte. 2011 war das aber der Fall, doch schön der Reihe nach.
Wir sind also einmal mehr in Kanada und parken unseren „Adventurer“ direkt bei Lady Enubi am See, denn Sabine und Enkelin Annika wollen während unserer Reitwoche „Eagles Nest“ mit eigenem Programm genießen, und hier haben sie einen richtig schönen Standplatz. Das Wasserflugzeug wird sie in die „Rainbows“ und zum Tanya Lake bringen, um das Smoke House zu besuchen. Sie werden auch die Hunlen Fälle überfliegen, die 396 Meter schnurgerade in die Tiefe rauschen, und diese Wasser aus den Turner Lakes über den Hunlen Creek zum Adnarko River schicken. Und auch Petrus, Mitbesitzer jener Oase im Busch, ist mit seinem Jeep für einige Touren als Guide engagiert, denn niemand kennt sich hier mit den versteckten Schönheiten und besonderen Möglichkeiten besser aus als er. Ihn und die „Lady“, als auch die Eagles Nest-Mannschaft mit Tim, Elizabeth und Sarah hatten wir schon vorher begrüßt, während wir die fünf Damen, die ebenfalls in den Sattel steigen wollen, erst beim Abendessen kennenlernen. Alle sind aus Vancouver, im mittleren bis fortgeschrittenen Alter. Vier davon sind Mediziner wie unsere Tochter, die Fünfte arbeitet als Krankenschwester. Wirkliche Reiter waren Lis, Sarah, Georgia, Holly und My Lin nicht, aber nette und fröhliche Zeitgenossen. Was sie allerdings am nächsten Morgen zum Trailhead anschleppten, war ebenfalls lustig anzusehen: Neben sehr komfortablen Zelten und deren Ausrüstung waren das pro Person weitere 40 Kilogramm, inklusive Walking-Stöcken, Klappstühlen, Gummistiefeln, Sportschuhen und jede Menge „Klamotten“. Unsere beiden mittleren Sporttaschen hatten dagegen noch Platz, denn die meiner Tochter war ähnlich gepackt, wie meine: Dreimal Skiunterwäsche, drei wärmere Hemden und drei Paar Socken zum Wechseln; je ein dünner und dickerer Pullover, Handschuhe, Ersatz-Jeans, Schlafanzug, zwei Handtücher und ein Badetuch für die „Bach-Dusche“; Duschgel, Zahnpasta und Bürste, Nivea Creme, Pflaster, Taschenlampe, kleiner Rucksack für Fotoausrüstung. Der Rasierer blieb im Wohnmobil wie der Kamm, denn jener ist beim Trailritt überflüssig, und bei „sechs Millimeter Haarschnitt“ braucht man auch keinen Kamm. Somit blieb nur noch das „Startoutfit“: Jeans, Chaps, Reitstiefeletten, kariertes Flanellhemd, Reitweste, Anorak und Lederhut.
Am Trailhead, im Süden des Parks im verbrannten Wald – 2010 gab es hier ein schweres Feuer – helfen wir zwei der Mannschaft, bis alle Packpferde, die auf jeder Seite 40 Kilogramm tragen, startklar sind. Die Kunst, die Ladung pro Pferd mit einem einzigen langen Seil zu verschnüren, beherrschen wir natürlich nicht, und es ist auch ein äußerst harter Job. Das eine oder andere Ende dabei festhalten, nachziehen oder bei den Regenplanen mehr zuzufassen, das hilft bei diesen letzten Arbeiten aber auch. Was aber Patrick hier innerhalb von etwa zweieinhalb Stunden erledigt – er fungiert als Packer und hat selbst dreißig bis vierzig „Mountain-Horses“ im Stall – ist Schwerstarbeit. Zwischendurch verteilt Joyce die Reitpferde an die Gäste. Meine Tochter Dörthe bekommt die gehfreudige dunkelbraune Mary, die normalerweise Davids „Reservepferd“ ist, und zu meiner reinblütigen Quarterhorse-Fuchsstute Georgia meint Davids Frau: „Du bist der erste Gast, der sie reiten darf.“ Mary ist einen Tick leichter und hat viel Vorwärtsdrang, Georgia ist sehr vorsichtig, äußerst trittsicher, faul und hat es, bei aller Gutmütigkeit, auch ein wenig hinter den Ohren. So dauerte es einen ganzen Tag bis sie akzeptierte, dass sie grundsätzlich flott zu marschieren hat und Bummelei nicht geduldet wird. Das hat ihr anfangs wohl gar nicht gepasst, denn aus heiterem Himmel sprang sie urplötzlich ab wie ein Rennpferd, schlug Haken und mit der Hinterhand aus wie ein Weltmeister. Solche Faxen kann man in diesem Gelände allerdings nicht dulden, und danach wussten wir beide, was wir voneinander zu halten hatten. Von da an hätte ich kein besseres Pferd haben können, als diesen dreifach gestiefelten, sechsjährigen Fuchs mit der großen Blesse. Ein phantastisches „Mountain-Pferd“, auf das man sich voll und ganz verlassen kann. Und Mary war ebenfalls ein großartiger Partner. Wir hatten also unseren Spaß mit diesen beiden Charakteren.
Dann war es soweit, die Karawane mit 26 Pferden, 13 Reitern und den Hunden Joe, Look und Peggy, die die „Horse-Train“ vor Bären sicherten, zog los. Davids „Truck“ blieb im Wald stehen, der Pferdetransporter war bereits weg wie Petrus auch, der die fünf Damen chauffiert hatte, und Sabine und Enkelin Annika fuhren bei strahlendem Sonnenschein mit Davids Tochter Lesly zurück zum Eagles Nest. David führte die Kolonne an, und zu seiner Ausstattung zählte, wie ebenfalls bei Patrick und Paul, auch ein Gewehr für den Notfall. Dahinter, in Dreiergruppen und wie alle anderen im Gänsemarsch, gingen die 13 Packpferde an der Hand von Patrick, Paul, Maria und deren Schwester Aida. Danach kamen die Gäste, während Joyce und ihr Packpferd, das heimwärts an die Hand von Dörthe wechselte und keinen weiteren Artgenossen am Schwanz hängen hatte, das Schlusslicht bildeten. Völlig anders war auch das diesjährige Konzept, denn während wir 2002 die Tanya Lakes als Ziel hatten und täglich ein neues Lager aufschlugen, blieben wir 2011 zwei Nächte im ersten, vier im zweiten Lager und erkundeten von diesen aus auf langen Tagesritten die Umgebung.
Der Anfang der Tour bot gleich den Packpferden einige Schwierigkeiten, denn es galt, das 2010 bei einem großen Buschfeuer verwüstete Waldstück zu durchqueren, wo die meisten der verkohlten Baumstämme nicht mehr standen, sondern gemeinsam mit großen Steinen und Felsbrocken kreuz und quer und übereinander liegend den Boden bedeckten. Als nächstes zogen wir durch ein weites sumpfiges Tal, uneben, von tiefen Gräben, Bächen und kleinen Seen durchzogen, und in dem bis zu vier Meter hohe, dichte Weidenbüsche ganze Abschnitte blockierten. Die Pferde wussten aber damit umzugehen, senkten den Kopf, erkannten die Lücken im Gewirr und erzwangen mit Hals und Schulter den nötigen Durchschlupf, ohne das Tempo merklich zu reduzieren. Für den Reiter waren sie in dieser Situation aber nicht zuständig, denn, ähnlich wie im dichten Wald, wo ihm Knie oder Ellenbogen signalisieren, dass er die Situation falsch eingeschätzt hat, melden sich hier die Oberschenkel oder höher gelagerten Körperteile, dass er zurückschwingende Triebe übersehen hat. Aber Reiterblut ist keine Buttermilch, und damit geht es weiter, und am Ende des Tales mehrere Stunden im Wald bergauf bis wir subalpines Gebiet und unseren ersten Lagerplatz erreichen. Das Plateau ist leicht hügelig, und ein kräftiger, eiskalter Bach trennt unser lichtes Wäldchen von der großen Bergwiese, an deren Rand sich in etwa zwei Kilometer Entfernung krüppeliger Fichtenwald wie ein stummer Wächter aufgestellt hat. Auf der anderen Seite, und uns im Rücken, überbrücken ebenfalls Waldstücke und Hügel den Weg zu den ersten kleinen Bergkämmen, auf denen zahlreiche Schneeflecken daran erinnern, dass auch hier der Sommer kalt und verregnet war. In Kanada heißt das aber auch, dass die Mücken erst jetzt ausschwärmen, statt ihre Saison schon beendet zu haben. Diese Biester sind auch lästig, aber das mitgebrachte Spray mögen sie gar nicht und drehen kurz vor dem Aufsetzen wieder ab. Am Bach muss man aber ziemlich schnell sein, um die Stinkschicht auf „Haut und Zwirn“ wieder anzubringen, denn sonst sind die an sich lahmen Quälgeister, die man locker mit der Hand im Flug wegfangen kann, sehr schnell bei ihrer ungeliebten Arbeit. Die Natur hatte mit uns aber schnell ein Einsehen, schickte nachts nochmals Neuschnee auf die Bergkämme, und der leichte Nachtfrost reichte aus, um diese Plagegeister ins Jenseits zu schicken, während am ersten Abend der Rauch des Feuers half, sie uns vom Halse zu halten.
Und es war auch an diesem späten Nachmittag, dass sich David mit seinem Kaffeepot und einem „halben Stumpen“ zu mir auf den Baumstamm setzte und meinte: „Wir kennen uns nun schon länger, ich weiß wie ihr reitet, und ihr habt auf diesem Trip beide zwei sehr gute Pferde. Ab morgen könnt ihr jeden Tag mit Patrick eure eigene Tagestour reiten und kehrt nur abends ins Lager zurück, während die übrigen Gäste mit mir und Paul in leichteres Gelände gehen“. Als er meine Freude bemerkt fügt er nickend an: “Patrick kennt in den Rainbows jeden Winkel, ist ein ganz ausgezeichneter Horse- und Mountain-Man, und geht, trotz aller Verwegenheit, niemals ein Risiko ein. Ihr könnt Euch auf ihn und die beiden Pferde voll verlassen, denn sonst würde ich das nicht erlauben. Nur am vorletzten Tag, da gehen wir drei zusammen. Ich möchte zwei uralte Jagd-Camps von meinem Großvater suchen und Euch mitnehmen.“ Und nach einer kurzen Pause meinte David noch, dass das alles richtig gute Ritte würden, wie früher, als jeder noch sein eigenes Tal und die Wege dorthin suchte.
Und genau so war das dann auch. Mit Patrick waren wir jeweils zehn bis zwölf Stunden unterwegs, und fast immer am Limit. Zum zweiten Lager ritten wir drei wieder „unsere“ Spezialroute über die Berge und setzen dort unsere täglichen Ritte durch schweres Gelände fort. Der sehr lange Tag mit David fügte sich nahtlos an jene Superritte an, denn auch auf der erfolgreichen Suche nach den alten Jagdcamps, die David in neue Touren einfügen möchte, hatte man das Gefühlt, als wäre man im „Wilden Westen“ auf der Suche nach einer neuen Heimat. Und selbst der letzte Tag war ein weiteres Highlight, denn gemeinsam mit den Packpferden nahmen wir eine Abkürzung, die an Schwierigkeiten kaum etwas ausklammerte, weder Schnee noch die Überquerung von drei Bergzügen, um den Trailhead auf kürzestem Wege zu erreichen, während der restliche Tross mit mehr Kilometer in leichterem Terrain nach Hause ritt.
Und die Tage mit Patrick in den Rainbow Mountains? Zunächst, es ist ein riesiges Gebiet im Norden des Tweedsmuir Provincial Parks, den der Dean River im Nordwesten, die Coast Mountains mit Eisfeldern und Gletschern im Süden, und im Westen das Bella Coola Valley mit Regenwald und gigantischen Roten Zedern begrenzen, während im Osten das Interior Plateau, Cattle und Cowboys das Bild bestimmen. Und Patrick – schlank, mager, zäh, unrasiert, Sechzig-Kilo-Typ, Mitte Vierzig, kompetent, furchtlos, einer der zupacken kann, ein Naturmensch und echter Pferdemann – hat uns alles gezeigt, was man in dieser grandiosen, einsamen Natur überhaupt zu Gesicht bekommen kann. Bis hoch an die Gipfelspitzen sind wir geritten, bis dorthin, wo die letzten Meter wirklich nicht mehr machbar waren, auch nicht zu Fuß, und nur selten noch auf allen Vieren. Dort oben, wo Wälder, Täler, Seen und Flüsse etwa zweitausend Meter unter uns lagen und der Blick auf Augenhöhe über die bunten Berge bis hinüber zu den Küstengebirgen schweifte, wo sich der Mount Weddingten mit seinen 4.019 Metern in die Höhe reckt begriffen wir, was wir diesen Pferden zu verdanken hatten. Es war eine traumhafte Welt, fast aus der Vogelperspektive und mit 360 Grad Rundblick. Und das alles mit einer ganzen Woche Sonnenschein, der nur ein einziges Mal für zwei Stunden hinter fetten Regenwolken verschwand. Und von hier oben sahen die unendlichen Täler wunderbar eben aus, doch in Wirklichkeit waren ihre Talböden alles andere als leichtes Gelände. Sumpf, Gräben, breite und tiefe Bäche, Flüsse, Felsbrocken, Weidenbüsche, Baumgruppen, Tümpel, dichte Waldstreifen und Hügel entpuppten sich erst als solche, wenn man sie durchqueren musste. Und was immer auch kam, Patricks brauner Wallach marschierte flotten Schrittes überall durch, und unsere beiden Stuten folgten ebenso furchtlos und sicher. Selbst Georgia, die sich anfangs doch ziemlich bitten ließ, stand jetzt unter „Volldampf“. Nur ihre äußerste Vorsicht, die gab sie nie auf. Was diese drei Pferde an den Berghängen geleistet haben, hätte ich vorher nie für möglich gehalten. Hoch und runter, im Zickzack, traversal oder direkt, sie meisterten ganze Hänge mit Steinschotter, großen und kleinen Felsbrocken, gingen über Steinmoränen und durch Schneefelder, steil hinab oder hinauf durch losen, schieferartigen rutschigen Bruch, oder auf schmalen Rändern entlang tiefer Schluchten, sprangen über Gräben oder tiefe Bäche, meisterten glitschiges Gelände und alles, was sich in den Weg stellte. Kein Stolpern, kein Fehltritt, kein Zögern und niemals hektisch oder scheu. Unglaublich! Und selbst dort, wo ein mulmiges Gefühl entstand oder sich der Blick fragend auf Patrick richtete, wie es denn jetzt weitergeht, wie und wo hinunter oder hinauf, oder über den nächsten Pass, der aus meiner Sicht doch völlig verschneit war, Patrick hatte die Möglichkeiten längst erkannt und hielt auch nicht an. Vielleicht hier und dort ein kurzes Zurück oder ein kleiner Umweg, mehr aber nicht. Nur bergwärts, wenn es richtig steil wurde, ließen wir unsere Partner mehrfach verschnaufen und gewährten ihnen in Bächen die Zeit, wenn sie trinken wollten. Wirklich angehalten haben wir, jenseits der Mittagspause, nur ein einziges Mal. Der Grund war ein großer Grizzly, der uns in einem Tal auf Sichtweite begleitete. Patrick wollte ihn beobachten, damit er nicht unverhofft einen großen Bogen schlägt und plötzlich hinter uns ist, denn die Grizzly Bären in diesen Bergregionen haben nicht den Überfluss, den die großen Lachsflüsse bescheren, müssen mit wesentlich weniger auskommen und sind daher auch aggressive. Erstaunlich auch, wie schnell dieser Petz über mehrere Kilometer war. Obwohl wir flotten Schrittes unterwegs waren, kam er linkerhand am Talrand von hinten, zog ganz locker und flott an uns vorbei und bog dann weit vor uns nach rechts in ein Seitental ab. Und deswegen hielten wir an und stiegen ab, denn in dieser Gegend im Spätsommer einen Grizzly im Rücken zu haben, wo die fischreichen Gewässer fehlen und er jagen muss, ist gefährlich. Er blieb jedoch seiner Richtung treu und galoppierte weiter durch das Seitental und von uns weg. Diese „verwegenen“ Touren mit Patrick waren einmalig schön, aber nach zehn bis zwölf Stunden im Sattel freuten wir uns auch auf den heißen Kaffee nach der Rückkehr am Lagerfeuer, und auch unsere Pferde hatten den Gang zur Wiese mehr als verdient.
Der Ritt mit David am vorletzten Tag war ein ganz anderer. Wir waren zwar wieder sehr lange unterwegs, aber größtenteils in Tälern und urwüchsigem Wald. Wir mussten auch mehrfach umkehren und einen neuen Durchschlupf suchen, weil eine steile Bergwand, ein tiefer Fluss-Canyon den Weg versperrte, oder wir ganz einfach auf der falschen Fährte waren. Am Ende haben wir beide Jagd-Camps gefunden, mit allerlei alten, verrosteten Utensilien und morschen Hölzern unter gewaltigen Bäumen. David, der seine Gefühle kaum zeigt, ließ hier aber erkennen, dass es ihm schon sehr nahe ging, wenn er den einen oder anderen alten Gegenstand aufhob und betrachtete. Als kleiner Junge war er mit seinem Großvater mehrfach hier gewesen, vor etwa fünfzig Jahren, und danach nie wieder. Wir saßen ab, stöberten ein wenig in den alten Dingen und lauschten den Geschichten, die David von damals erzählte. Auf dem Rückweg markiert er jeweils dort einen Baum, wo der Weg in eine andere Richtung wechselte, oder sein Abzweig schwer zu finden war. Heimwärts reiten wir einen Umweg, denn David möchte uns noch ein anderes Tal zeigen, statt auf gleichen Pfaden wieder zurückzukehren. Auch diese „Extrawurst“ war uns recht, wie all die vorherigen auch, inklusive derer, die vom Grill kamen. Und das, was Joyce am letzten Abend anbot, war auch schon fast fertig, als wir nach knappen zehn Stunden wieder eintrafen: Würste, Stakes, verschiedene Salate, gebackene Kartoffel und dicke Pfannkuchen. Süße mit Creme, Honig oder Kirschen (oder allem), und herzhafte mit Speck und Zwiebel.
Der letzte Abend ist auch immer einer, an dem ein paar Worte des Dankes fällig werden und die Mannschaft einen Obolus erhält. Für Joyse hatten wir als persönliches Geschenk eine Allgäuer Kuhglocke im Gepäck, wodurch künftig das Rufen nach David entfällt, wenn das Essen auf dem Tisch steht. Was dann noch bleibt, sind Lagerfeuer-Romantik, der eine oder andere Drink, ein Dank an die Pferde und reiterliche Zukunftsträume, wer denn wann und wo wieder in den Sattel steigt. Und unser persönliches Resümee? Es war eine grandiose Woche bei allerbestem Wetter, und mit unseren Pferden und Patrick hatten wir dafür die besten Partner an unserer Seite. Was dieses Trio uns ermöglichte, übertraf alle Vorstellungen. Paul, der sein eigenes Pferd ritt, war wieder der lustige „Pferdemensch“ wie vor neun Jahren auch, und die erst 17-jährige Aida besaß schon sehr viel Pferdeverstand, während ihre Schwester Maria als „Koch“ Joyce eine Menge Arbeit abnahm. David, zurückhaltend, aber offen und ehrlich seine Meinung sagend, wenn er danach gefragt wird, ist ohnehin nicht zu übertreffen. Es waren sieben wundervolle, professionell organisierte Tage, die uns abends müde und zufrieden in den Schlafsack sinken ließen. Nach einer Woche „Busch, Bach und unrasiert“ freute man sich aber auch wieder auf eine heiße Dusche und ein richtiges Bett.
Die letzten eineinhalb Stunden durch den 2010 verbrannten Wald waren für die Pferde erneut schwierig, denn dieser Parkabschnitt ist bergig, felsig, mit großen Steinen übersät und gewaltig verwüstet. Als wir mit den Packpferden eintreffen, sind David und Joyce, die mit den restlichen Gästen drei Stunden früher aufgebrochen waren, bereits da und die Ladies mit Petrus schon auf dem Weg zum Eagles Nest. Für uns ist nochmaliges „Anpacken“ jetzt selbstverständlich, denn David und Joyce haben nur „zwei Nächte“, um die nächste Tour vorzubereiten. Deswegen bleiben auch die Pferde hier, die David inspiziert und dann in die Obhut von Patrick entlässt, der sie auch auf der nahen Wiese betreuen wird. Alle müssen in zwei Tagen auch nicht wieder antreten, denn vor dem nächsten Ritt werden einige von ihnen ausgetauscht. Für den Abschied blieb somit auch nur wenig Zeit, ein letzter Händedruck, eine Umarmung, ein letztes Dankeschön. Was für ein Leben! Aber in der Stadt könnten David und Joyce nicht atmen. Sie brauchen ihre Freiheit, die Natur und die Tiere.
Als alle Pferde entladen und die leeren Kisten auf Davids Truck verstaut sind, bringt uns Leslys Allradler zurück zu Lady Enubis Eagles Nest, und dort empfängt uns Sabine am Wohnmobil auch mit den Worten: „Macht euch schnell unter die Dusche, denn ihr duftet ganz erheblich!“ Naja, als sie anschließend bei der Lady eine Flasche Sekt spendiert, ist jene „Beleidigung“ wieder behoben, und bei einem guten Essen genießen wir, gemeinsam mit den Reitern aus Vancouver, wieder die Vorzüge der Zivilisation und das Klavierspiel von Petrus. Als die Musik verstummte und sich die fünf Damen zurückgezogen, lud uns die Hausherrin noch in ihre Bibliothek ein, wo ein Rüdesheimer Kaffee den Schlusspunkt unter ein sehr schönes Abenteuer setzte. Traurigkeit kam dennoch nicht auf, denn nur dieses Erlebnis war zu Ende, nicht aber unsere Reise. Vor dem Wohnmobil lagen noch einige tausend Kilometer, denn wir wollten Dörthe und Annika noch mehr von diesem Land zeigen, und dann südlich der Grenze durch Montana, Idaho und Washington zurückfahren. Und somit lagen auch Nationalparks, heiße Quellen, historische Forts, Fährüberfahrten, der gewaltige Columbia River oder das amerikanische Seattle noch vor uns. Aber all das betrifft erst das Jahr 2011. 24 Monate später werden wir erfahren, dass Lady Enubi verstorben ist und eigentlich zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten vereinte. Sie war fraglos die charismatische, charmante, großzügige, liebenswerte, warmherzige und hoch intelligente Hausherrin, die ihre Gäste sehr schätzten. Dass sie als „General“ zu Eagle’s Nest agierte war auch erkennbar, nicht aber, dass sie ein „Cult Leader“ war, der mit eiserner Hand auftrat und seine Angestellten restlos beherrschte, manipulierte und ausnützte. Bekannt wurde das erst, als das 2009 verlegte Buch von Alexandra Amor „Cult, A Love Story“ (Fat Head Publishing, Vancouver) zum Dorfgespräch wurde. Zehn Jahre war sie selbst unter den Fittichen der Lady, und als sie ausgestoßen wurde, weil sie immer mehr kritische Fragen stellte und unter der Thematik schrecklich litt, schrieb sie ihre unglaubliche Geschichte nieder. Heute sagt sie, dass sie ein ganz normales Leben führt, „Schreiben“ sie von aller Last befreit hat, und dass es die Umstände waren, die sie in die Arme der Lady trieben.
Doch nun zurück zur Reise von 2002, von der wieder das nächste Kapitel erzählt.