Читать книгу Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 - Eric Gutzler - Страница 3
Kapitel 18: Der Zufall möglicherweise
ОглавлениеThe Sun and Times, London, 3. Januar 2101: In seiner Neujahrsansprache erklärte der Premierminister, er beabsichtige nicht, die Monarchie abzuschaffen. Er trat allen entsprechenden Gerüchten mit Entschiedenheit entgegen und wünschte dem erkrankten Monarchen eine rasche Genesung. In einem anderen Teil seiner Rede sagte er, er werde an dem Gesetzesvorhaben zum besseren Schutz der Bürger durch die Implantierung von GPS-Chips trotz der Abstimmungsniederlage im Parlament festhalten, und verwies auf das Beispiel von Norwegen und Schweden, wo allen einreisenden Ausländern seit langem Markierungssender implantiert werden, um die Länder vor einer illegalen Einwanderungsflut zu schützen. Das Verfahren habe sich zweifellos bewährt …
So wie ein Jahrzehnt mit einer Null endet und nicht mit einer Neun, endet ein Jahrhundert mit zwei Nullen und nicht mit dem Jahr Neunundneunzig. Da das Ende des alten verbrauchten und der Beginn des nächsten hoffnungsvollen Jahrhunderts von den Menschen aber stets als dramatisch empfunden werden, können sie den großen Wechsel nicht abwarten und haben seit langem die Gewohnheit, das ausgehende Jahrhundert mit dem Jahr Neunundneunzig zu beenden. So war es auch beim Wechsel in das zweiundzwanzigste Jahrhundert gewesen, die großen Feiern, Feste, hoffnungsvollen Ansprachen und Feuerwerke, aber auch die Weltuntergangsängste, großen Krawalle, Ausschreitungen und Terroranschläge waren schon in der Sylvesternacht des Jahres 2099 erfolgt. Trotzdem ging das alte Jahrhundert nach den Gesetzen der Mathematik erst am einunddreißigsten Dezember 2100 zu Ende und begann das neue zweiundzwanzigste Jahrhundert am ersten Januar 2101. Dieser Jahreswechsel verlief vergleichsweise ruhig: Weltweit waren nicht mehr als fünftausend Tote zu beklagen – vor einem Jahr waren über dreißigtausend Menschen zu Tode gekommen.
Während Solveig Solness deutsche Weihnachtsbräuche und den Schnee kennenlernte, war Bodishia Prasutag in London auf Wohnungssuche. Sie suchte eine unauffällige kleine Wohnung, von der sie einerseits bequem und schnell ein islamisches Viertel erreichen konnte und die andererseits in der Nähe eines großes Parks liegen sollte, damit sie in diesem Park laufen konnte. Nachdem sie mit geheimen Daten, die die Londoner Stadtverwaltung der ATA zur Verfügung gestellt hatte, die islamischen Stadtteile nach dem Anteil bekannter oder vermuteter radikalisierter Gruppen überprüft hatte, schälten sich zwei Stadtteile, Islington nordöstlich von King´s Cross und Fulham im Südwesten, als vermutlich lohnenswerte Einsatzgebiete heraus. Bodishia beschloss, ihre Wahl nach einer ausführlichen Begehung der Viertel zu treffen, und wanderte einen Tag durch die Straßen zwischen der Caledonian Road und Upper Street. Den nächsten Tag verbrachte sie links und rechts der King´s Road. Was sie in Islington sah, gefiel ihr gar nicht, und so entschied sie sich für Fulham.
Während Solveig den Sylvesterabend im Moseltal auf altmodische Weise feierte und den Jahreswechsel mit Feuerwerk begrüßte, während sie abwechselnd Lisa und den Knaben half, Raketen zu zünden, und in den Morgenstunden leicht angetrunken Michael so provozierte, dass er nach einem mehrstündigen erotischen Zweikampf völlig entkräftet den Neujahrstag verschlief, was seine Mutter mit Kopfschütteln quittierte und Gerda zu einigen spitzen Bemerkungen veranlasste, saß Bodishia allein in einem kleinen Londoner Hotelzimmer und sah Mietangebote und Wohnungsgrundrisse durch. Nur der Lärm, der von der Straße in ihr Zimmer drang, erinnerte sie daran, dass Sylvester war und dass sie sich vorgenommen hatte, um Mitternacht einige seit langem aufgeschobene Anrufe zu tätigen. Eine passende Wohnung fand sie schließlich in Putney zwischen der Dover House Street und der Roehampton Lane. Unter dem Namen Monet Mazure mietete sie sich am zweiten Januar dort ein.
Nach den Recherchen, die die ATA in den vergangenen zwei Monaten durchgeführt hatte, war Bodishia Prasutag unter dem Namen Bregeen Iceni in Wales aufgewachsen. Sie hatte zwei Geschwister, einen älteren und einen jüngeren Bruder. Die Schule hatte sie in Swansea besucht. Neben Geschichte war Sport ihr Lieblingsfach gewesen, und sie hatte schon in frühen Jahren eine Leidenschaft zum Segeln entwickelt. Ihr Vater besaß ein kleines Boot, das in Tenby lag. Wegen seiner Länge von nur zehn Metern und eines zu leichten Kiels war es zwar nur eingeschränkt hochseetüchtig, aber für Küstenfahrten gut geeignet, und über eine Reihe von Jahren hatte die Familie im Sommer ausgedehnte Segeltouren unternommen. Die Notwendigkeit, auf dem kleinen Schiff Disziplin zu halten, in blindem Verstehen zusammenzuarbeiten und Manöver ohne Fragen auszuführen, war allen gut bekommen und hatte den Zusammenhalt der Familie sehr gestärkt. Die Icenis hatten England und Schottland umrundet, Norwegens Fjorde besucht, den Kanal überquert und waren die französische und spanische Küste entlangsegelnd bis Porto gekommen. Nur ein geplanter Mittelmeertörn konnte aus unterschiedlichen Gründen nie verwirklicht werden.
Nach dem Schulabschluss ging Bregeen Iceni zum Militär und studierte an einer Hochschule der Armee Betriebswirtschaft. Wegen guter Leistungen erhielt sie am Ende ihrer Dienstverpflichtung das Angebot, ihre berufliche Laufbahn beim Militär fortzusetzen; man stellte ihr sogar eine Tätigkeit beim Generalstab in Aussicht. Aber sie lehnte ab und nahm stattdessen das Stipendium eines Colleges in Oxford an, das sich nur mit der Anwendung der Militärstrategie für Unternehmen und dem Entscheidungsverhalten von Managern beschäftigte. Dort blieb sie zwei Jahre. Danach arbeitete sie mehrere Jahre für einen der großen Energiekonzerne. Unvermittelt kündigte sie ihren Job und verschwand vor vier Jahren von der Bildfläche, bis sie als Mitglied von Medeas Mannschaft das Interesse der ATA erweckte.
Noch während sie im Verlauf des Januars die Wohnung einrichtete, begann sie, regelmäßig zweimal am Tag im Richmond Park zu laufen. Frühmorgens war der Park fast immer menschenleer, daher fiel ihr der ältere Mann, der spazieren ging, dabei nicht schlenderte, sondern zügig marschierte, beim zweiten oder dritten Mal auf. Seinem Gesichtsausdruck, seiner Körperhaltung, seinen Gesten und seiner Kleidung nach war er in Bodishias Einschätzung kein Proll, sondern gehörte der oberen Mittelklasse an. Als er sie zum fünften oder sechsten Mal sah, grüßte er kurz, wobei die Klangfarbe seiner Stimme und seine Aussprache sie in ihrem Urteil bestätigten. Daher grüßte sie freundlich zurück.
Tagsüber schlenderte sie durch Fulham, beobachtete die Frauen, ihre Kleidung und ihr Verhalten untereinander sowie den Männern gegenüber. Auf der Straße, in Geschäften, in Pubs und Restaurants hörte sie ihnen zu und nahm neue Redewendungen auf, die durch die Mischung der Bevölkerung, die aus Indern, Pakistanis, Arabern, Schwarzafrikanern und Weißen bestand, viele ungewöhnliche Wortkombinationen enthielten.
Nach drei Tagen färbte sie sich die Haare dunkler und überdeckte die roten Strähnen. Anschließend veränderte sie ihren Gesichtsausdruck, machte sich durchschnittlicher, unauffälliger, unscheinbarer – sie hatte die Technik in den abgelaufenen zwei Jahren von Medea und Ronit gelernt – und kleidete sich neu ein. Dann ging sie auf die Jagd und suchte Straßenzüge und Plätze auf, wo sich überwiegend Pakistanis und Araber aufhielten.
Wenn Männer die ohne Chic gekleidete Frau beachteten – falls sie sie überhaupt wahrnahmen –, kamen sie nach den Sekunden des ersten Augenkontakts und der damit verbundenen Einschätzung der sexuellen Attraktivität zu dem Schluss, eine unsichere, ohne Ziel durchs Leben gehende, anlehnungsbedürftige und lenkbare Person vor sich zu haben, die, wenn man ihr Geborgenheit und ab und zu etwas Sex gäbe, für allerlei Zwecke einsetzbar sein könnte. Wäre ihr jemand auf der New King’s Road und den anliegenden Straßen Fulhams begegnet, der ihre Lebensgeschichte kannte, hätte er ihren Gesichtsausdruck allerdings durchaus für verständlich gehalten. Er hätte gewusst, dass das Selbstbewusstsein und die Sicherheit, die sie auf Medeas Schiff ausgestrahlt hatte, weitgehend aufgesetzt waren und eine zwar nachlassende, aber immer noch vorhandene Verzweiflung verdeckten.
Was die ATA über Bregeen Iceni nicht wusste, war, dass sie schwanger war, als sie ihren Job kündige. Die ersten Untersuchungen hatten gezeigt, dass das Ungeborene einen genetischen Defekt besaß und mit Missbildungen auf die Welt kommen würde. Trotz der Warnungen ihrer Ärzte hatte Bregeen sich dafür entschieden, das Kind auszutragen. „Es ist mein Kind und kein Wurmfortsatz, den man einfach wegschneidet“, hatte sie zu ihrem Lebensgefährten gesagt, der sie zu einer Abtreibung gedrängt hatte.
Sie zog sich nach Talsarnau zurück, einem Flecken an der Nordwestküste von Wales, wo ein Onkel ein kleines Hotel mit Namen „The Old Rectory Country House“ betrieb, und trug das Kind aus, aber es lebte nicht lange. Ein Jahr nach der Geburt wurde es auf dem kleinen Gemeindefriedhof zu Grabe getragen, und der Pfarrer konnte zur Tröstung der Mutter nur sagen: „Gott gibt und Gott nimmt. Seine Ratschlüsse sind unerforschbar, und wir müssen sie mit Demut hinnehmen.“
Zur gleichen Zeit starb auch die Beziehung zu dem Vater des Kindes. Nach der Beerdigung verfiel Bregeen in Schwermut, brach die familiären Brücken ab, verdingte sich auf einem Frachtschiff und blieb auf den Azoren hängen, wo sie Medea begegnete.
Als Bodishia wieder einmal an einem frühen Morgen durch den Richmond Park lief, sah sie, wie der ältere Mann, dem sie sie schon mehrmals begegnet war, auf den Hügel stieg, der nach König Heinrich VIII. benannt worden war. Kurz entschlossen änderte sie ihre Richtung und folgte ihm.
Als sie die Hügelkuppe erreichte, saß der Mann auf einer Bank und blickte über den Park auf die fernen Hochhäuser von London. Sie setzte sich neben ihn und sagte: „Guten Morgen, Sir.“
„Das wünsche ich Ihnen auch, einen schönen guten Morgen.“
Die Weite des Blickfeldes überraschte sie, sie hätte nicht gedacht, dass man vor hier aus die City sehen könnte. Sie wartete eine Weile, bevor sie wieder das Wort ergriff: „Genießen Sie die schöne Aussicht?“
„Ja, obwohl jedes Jahr neue Hochhäuser dazukommen, sieht man immer noch die Kuppel von Saint Paul.“
„Solange die Türme der in Fulham geplanten großen Moschee die Kuppel nicht verdecken, können wir ja zufrieden sein.“
„Sie kennen die Pläne?“
„Der Standort der Moschee, die Anzahl und Höhe der Minarette sind eines der Hauptthemen, die die Straßengespräche in Fulham beherrschen.“
„Ach tatsächlich? Über diesen Stadtteil habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, wenn ich von hier auf London schaue.“
Er schwieg und Bodishia stand auf. Leichter Regen hatte eingesetzt, die Luft war nasskalt. Als der Mann bemerkte, dass die Frau gehen wollte, räusperte er sich und sagte: „Bitte halten Sie mich nicht für einfältig oder für einen Mann am Rande der Altersdemenz, aber wenn ich auf diesem Hügel stehe, denke ich daran, wie alt dieser Park ist und dass vielleicht schon Heinrich VIII. und seine Tochter Elisabeth I. von dieser Stelle auf London geblickt und noch den Helm des hohen Vierungsturms der gotischen Kathedrale gesehen haben.“
„Heinrich VIII. war ein Tyrann, aber noch schlimmer ist …“, sie sprach den Satz nicht zu Ende.
„… unser Premierminister? Wollten Sie das sagen? Übrigens“, fügte er schnell und fast verlegen hinzu, „mein Name ist Philip McShane. Ich wohne in Richmond.“
„Ich heiße Monet Mazure.“
„Ein französischer Name, aber … ich glaube nicht, dass Sie Französin sind. Sie sehen aus, als kämen sie aus Irland, aber Sie sind dort nicht aufgewachsen – Sie stammen aus Wales.“
„Das haben Sie erkannt?“
„Das hört man an der Sprache. Wir Briten erkennen uns nicht am Geruch, wir brauchen uns nicht wie Hunde zu beschnüffeln, wir erkennen uns immer noch an der Sprache, die regionale Herkunft und den Stand können wir nicht verbergen.“
„Ich kann auch anders“, versetzte sie und begann, im neuesten Fulhamer Slang zu reden.
„Klingt ganz gut“, sagte McShane anerkennend, „ist aber nicht echt. Araber und Inder können Sie damit täuschen. Mich aber nicht … Sie stammen aus Südwales und aus einer Familie der oberen Mittelklasse.“
Bodishia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, außerdem wollte sie sich jetzt nicht mit ihren Eltern beschäftigen. Daher sagte sie nur: „Auf Wiedersehen … bis demnächst … wir begegnen uns ja bestimmt wieder.“
„Auf Wiedersehen. Ach … hätten Sie Lust, mit mir eine Tasse Tee zu trinken? Es ist so nasskalt. Da täte eine Tasse Tee bestimmt gut. Bis zu meinem Haus ist es nicht weit.“
„Was wird Ihre Frau dazu sagen, wenn Sie unangemeldet morgens eine Fremde nach Hause bringen? Vielleicht ist sie noch im Morgenmantel und möchte mir so nicht begegnen.“
„Das einzige weibliche Wesen in meinem Haushalt ist meine Katze Marmalade. Meine Frau ist schon vor Jahren gestorben, seitdem trinke ich meinen Morgentee fast immer allein.“
So blieb Bodishia nichts anderes übrig, als die Einladung anzunehmen, und McShane führte sie in den Wintergarten seines Hauses. Marmalade war anwesend, schlief zusammengerollt auf dem Kissen eines Korbstuhls und beachtete die Ankömmlinge nicht. Zwischendurch zuckte ihr Schwanz mehrmals, vermutlich träumte sie.
Während er den Tee zubereitete, sah sich Bodishia ein wenig um. An der leichten Unordnung war durchaus zu erkennen, dass McShane allein lebte und selten Gäste hatte. Auf der Bank, auf der sie Platz genommen hatte, lagen ein Stapel Zeitungen, eine Schere und eine Mappe. Der Deckel der Mappe bestand aus grauer Pappe und machte einen abgenutzten Eindruck. Bodishia legte die Mappe auf den Tisch und entfernte das Gummiband, das den Deckel hielt. Die Mappe enthielt Zeitungsausschnitte, die chronologisch eingeheftet waren. Neugierig blätterte sie zurück. Der älteste Ausschnitt war fast einhundert Jahre alt und trug das Datum vom einundzwanzigsten Februar 2006. Es war ein Ausschnitt aus der längst verblichenen Tageszeitung The Guardian und trug den Titel: Wenn man keine Tyrannei mehr braucht, um uns die Freiheit zu nehmen. Der Untertitel lautete: Die schleichende Ausdehnung der Implantationstechnik kann dazu führen, dass alle Schranken zwischen dem Bürger und dem Staat niedergerissen werden. Von George Monbiot.
Bodishia begann zu lesen: „Die Nachricht, die ich letzte Woche las, war vielen Zeitungen nur wenige Zeilen wert, aber für mich öffnete sie einen düsteren Blick in unsere Zukunft. Eine amerikanische Firma in Ohio hat zwei Mitarbeitern Radiosender in die Arme implantiert. Diese Implantate stellen sicher, dass nur die Mitarbeiter, die sie tragen, eine Sicherheitszone des Unternehmens betreten können. Vermutlich handelt es sich um den ersten Fall, in dem Arbeiter elektronisch markiert wurden, um sie zu identifizieren. Die Sender sind winzig (sie haben etwa die Größe eines Reiskorns), billig (zur Zeit kosten sie fünfundachtzig Pfund, aber der Preis sinkt schnell), sicher und zuverlässig. Ohne Wartung halten sie mehrere Jahre. Sie benötigen keine Energie und keine Batterien, da sie nur durch den Abtastvorgang aktiviert werden. Es gibt keine technischen Hindernisse für einen vielfältigen Einsatz.
Das Unternehmen, das diese Markierungssender herstellt, behauptet, dass sie wirksame Zugangskontrollen mit dem Aufspüren und dem Schutz von Personen kombinieren. Die Chips könnten nämlich auch Krankenhauspatienten, vor allem Kindern und geistig gestörten Menschen implantiert werden. Wenn ihre Ärzte wissen wollen, wo sich diese Patienten befinden oder welche Krankengeschichte vorliegt, brauchen sie nur den Scan-Vorgang einzuleiten. Dieser Auffindungseffekt sei zweifellos faszinierend und eine kalifornische Schule habe sogar eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, alle Schüler mit Sendern zu markieren.
Die bisher implantierten Markierungssender verfügen nur über eine Reichweite von wenigen Metern. Aber andere Modelle können Signale aussenden, die es gestatten, dass der Träger von einem Satelliten aufgespürt werden kann. Die Patentanmeldungsunterlagen behaupten, mit diesem Sender könnte man gekidnappte Personen aufspüren oder auch Wanderer, die sich in einem Gebirge oder einer Wildnis verirrt hätten. Mit anderen Worten: Für den Markierungssender sind zahlreiche Einsatzmöglichkeiten vorstellbar. Und genau das ist es, was mich stört …“
Als Bodishia zu dieser Stelle gekommen war, regte sich die Katze, erhob sich und streckte sich. Anschließend machte sie unvermittelt einen Sprung von ihrem Sessel auf die Bank. Es folgten einige Schritte, dann lag der Kopf der Katze auf Bodishias Oberschenkel, und die Aufforderung, gekrault zu werden, war eindeutig. Bodishia erfüllte ihre Pflicht, kraulte und schmuste mit der Katze, bis Marmalade genug hatte und in der Küche verschwand.
Bodishia kehrte zu dem Artikel zurück: „ … und genau das ist es, was mich stört. Eine Technologie, deren umfassender Einsatz heute auf breite Ablehnung stieße, wird sich unmerklich ausbreiten. Zunächst werden diese Sender natürlich nur Personen mit besonderen Sicherheitsaufgaben implantiert. Niemand wird gezwungen, sich markieren zu lassen, aber ohne die Implantierung wird man diese Jobs nicht mehr bekommen. Also wird man zustimmen. Dann werden die Krankenhäuser beginnen, besondere Patientengruppen mit den Sendern auszustatten. Eines Tages werden Versicherungen bei bestimmten Risikogruppen die Implantierung verlangen oder die Versicherungsprämien drastisch erhöhen oder den Versicherungsschutz vollständig verweigern. Die Streitkräfte werden entdecken, dass die Markierungssender viel nützlicher als die alten Hundemarken sind, um verwundete, verlorengegangene oder vom Feind gefangene Soldaten aufzuspüren. Gefängnisse werden rasch auf den Zug aufspringen. Ausbeuterische Betriebe in Ländern der dritten Welt werden auch rasch den Vorteil dieser Sender erkennen und sie einsetzen. Natürlich wird kein Arbeiter offiziell gezwungen, den Chip zu tragen … aber ohne Chip kein Job wird die Regel werden.
Die Ausbreitung der Chips wird sich leider als schleichender und fast unsichtbarer Prozess abspielen. Wir werden nicht eines Morgens aus unseren Häusern treten und plötzlich entdecken, dass die Regierung, die Polizei, unsere Bosse und die Versicherungen alles über uns wissen. Aber unter dem Vorwand der Verbesserung des allgemeinen Schutzes werden wir allmählich dem Verlangen der Maschinen nachgeben und uns unterwerfen. Keine Tyrannei und kein Diktator werden gebraucht, um uns die Freiheit zu rauben. Schritt für Schritt werden wir sie eines Tages freiwillig aufgegeben haben …“
Als McShane den Tee brachte, legte Bodishia das Blatt zur Seite und wandte sich ihrem Gastgeber mit den Worten zu: „Eine bemerkenswerte Sammlung haben Sie da angelegt.“
„Ist er nicht erschreckend, dieser Artikel aus dem Guardian?“
„Angesichts der Wirklichkeit? Immerhin sind fast einhundert Jahre vergangen, und der Großteil der britischen Bevölkerung trägt immer noch keine implantierten Chips.“
„Vergessen Sie nicht, dass nach dem zweiten Jom-Kippur-Krieg ein ähnliches Gesetz in der Mache war. Nur wegen anstehender Neuwahlen wurde es gekippt.“
„Damals war ich noch zu jung, um mich heute daran erinnern zu können. Aber ist es nicht positiv zu beurteilen, dass das Gesetz nicht durchkam? Sehen Sie sich in Europa die skandinavischen Länder an, dort geht es viel schlimmer zu. Die alte Großzügigkeit und die Offenheit Fremden gegenüber sind einem fast manischen Argwohn gewichen.“
„Was die verrückten Wikinger auf ihren Steinhaufen machen, interessiert mich nicht. Wir sind hier in England und haben eine lange Tradition demokratischer Freiheiten.“
„Noch hat der Premierminister sich nicht durchgesetzt.“
„Er wird es, er wird alle Tricks probieren. Aber …“, inzwischen hatte McShane kleine Teekuchen, Toast, Butter, Brombeermarmelade sowie Milch auf den Tisch gestellt und den Tee in zwei Tassen gegossen, „… wir sollten uns den Morgentee nicht durch Teimur Huxley verderben lassen.“
Bodishia nickte und griff zum Milchkännchen. Während sie die Milch eingoss, fragte er: „Leben Sie in Fulham?“
„Nicht direkt. Auf dieser Seite der Themse, in Putney.“
„Wie kommt es, dass wir uns nicht früher begegnet sind?“
„Oh, das ist einfach zu erklären: Weil ich hier erst kürzlich eine Wohnung gefunden habe.“
Er nahm sich eine Toastscheibe und begann, sie mit Butter zu bestreichen.
„Darf ich Sie fragen, was Sie in diesen Stadtteil verschlagen hat? Die Liebe oder der Beruf?“
„Der Beruf. Ich habe einen Auftrag auszuführen und glaube nicht, dass ich hier länger als ein Jahr bleiben werde.“
Damit endete die Unterhaltung. Schweigend nahmen sie den Tee zu sich, und Bodishia verabschiedete sich kurz danach. Als sie gegangen war, stellte McShane seiner Katze die Frage, ob sie glaube, dass die Engländerin mit dem verdächtigen Namen ein Polizeispitzel sei, den Huxley auf ihn angesetzt habe.
Marmalade zuckte mit dem Schwanz und maunzte. Da McShane die Katzensprache nie gelernt hatte, blieb ihm ihre Antwort unverständlich und er ermahnte sich, keine Wahnvorstellungen zu entwickeln. Hätte sich ein Polizeispitzel nicht einen unauffälligen Allerweltsnamen zugelegt, oder war die Namenswahl Teil einer raffinierten Ablenkungsstrategie?