Читать книгу Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 - Eric Gutzler - Страница 5
Kapitel 20: Der Mann im Käfig
ОглавлениеSeit Jahrzehnten ist China Durchgangsstation und Bestimmungsland für ungesetzlichen Menschenhandel mit Frauen, Männern und Kindern zum Zweck sexueller Ausbeutung und Sklavenarbeit. Im vergangenen Jahr wurden mindestens 50.000 Menschen Opfer des innerchinesischen Menschenhandels. Zusätzlich wurden Chinesinnen mit falschen Versprechungen legaler Beschäftigung nach Thailand, Malaysia und Japan gelockt und dort zu sexuellen Dienstleistungen gezwungen. Gleichzeitig wurden Frauen und Kinder aus der Mongolei und vor allem Myanmar nach China verschleppt. Die chinesischen Behörden bekommen das Problem nicht in den Griff und bieten vor allem ausländischen Opfern, die nach China zum Zweck von Zwangsverheiratungen gebracht werden, keinen ausreichenden Schutz. Aus dem Jahresbericht des Rats für Menschenrechte. Genf 2101.
Li Yuchan hatte gute Gründe für ihr Misstrauen Fremden gegenüber. Wenn sie an ihre Kindheit dachte, erinnerte sie sich entweder daran, wie die Fremden ins Dorf gekommen waren, oder sie sah den Mann im Käfig vor sich. Der Käfig stand am Rande des Dorfplatzes in einem offenen Schuppen, der früher als Dorfabtritt gedient hatte, er war aus Eisen und von allen Seiten einsehbar. Er war etwa drei Meter hoch und jeweils vier Meter lang. Das Dach und die Seiten bestanden aus Eisenstäben, der Boden aus Beton. Auf einer Seite befand sich eine Gittertür, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war und nie geöffnet wurde. Da das Dach des Schuppens undicht war, hatte man auf die Dachstäbe des Käfigs eine Plastikbahn zum Schutz gegen Regen gelegt und sie mit Brettern sowie Steinen beschwert. Im Käfig war eine Strohmatratze der einzige Gegenstand.
Solange Li denken konnte, lebte der Mann in dem Käfig. Tags saß er auf dem Boden oder ging hin und her. Nachts schlief er auf der Strohmatratze. Musste er seine Notdurft verrichten, hockte er sich in eine Ecke. Die Leute, die in diesen Augenblicken am Käfig standen, gingen dann weg – nicht aus Schamgefühl, sondern weil der Mann manchmal durch das Gitter pinkelte oder die Leute mit seinem Kot bewarf. Einmal in der Woche kam ein Mann mit einem Schlauch und spritzte mit dem Wasserstrahl den Kot aus dem Käfig. Danach richtete er den Schlauch auch auf den Mann, um ihn ein wenig zu säubern. War es im Sommer sehr heiß, kam der Mann mit dem Schlauch auch manchmal mehrmals die Woche, um den Gestank zu beseitigen. War es Winter und so kalt, dass das Wasser gefror, blieb der Kot wochenlang auf dem Käfigboden liegen.
„Warum ist der Mann im Käfig?“ hatte Li ihre Eltern gefragt, als sie diese Frage denken und aussprechen konnte.
Der Mann hieß Chen Zhisheng. An einem Sommermorgen war er aus seiner Wohnung auf die Straße getreten und hatte sich auf den Weg in die nächste Stadt gemacht. Unterwegs riss er eine Holzlatte aus einem Gartenzaun und erschlug aus Gründen, die niemand im Dorf kannte und die er nie erklärt hat, einen siebzig Jahre alten Mann. Der alte Mann versuchte noch zu fliehen, aber er brach nach einigen Schritten zusammen. Eine Frau aus einem Nachbarhaus wollte dem Alten helfen, aber Zhisheng schlug auch auf sie heftig mit der Holzlatte ein. Das Schreien der Frau lockte andere Menschen herbei, und schließlich konnte die Polizei den Mann verhaften und ins Gefängnis der nächsten Stadt schaffen. Im Verhör der Polizei beantwortete er die Fragen nicht oder gab wirre Antworten. Schließlich wurde ein Gerichtsmediziner gerufen, der eine ausgeprägte geistige Behinderung feststellte. Im Verlauf der weiteren Untersuchung und Befragung der Nachbarn im Dorf stellte sich heraus, dass Chen Zhisheng schon vor vielen Jahren erste Proben von Verwirrtheit gezeigt hatte, die im Verlauf seiner Ehe immer stärker wurden. Etwa zehn Jahre früher hatte seine Frau die vielen Schläge nicht mehr ausgehalten, war zu ihren Eltern zurückgekehrt und hatte sich von ihm scheiden lassen. Seitdem hatte er die Gewohnheit angenommen, allein umherzuwandern und mit sich selbst zu sprechen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er als Tagelöhner.
Nach Abschluss der Ermittlungen wurde er in der Bezirkshauptstadt vor Gericht gestellt, aber der Richter, der Staatsanwalt und der bestellte Pflichtverteidiger kamen schon am zweiten Verhandlungstag zu der Überzeugung, es sei das Beste, Chen Zhisheng in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, was auch alsbald geschah. Doch nach einem Monat schickte das Krankenhaus eine Rechnung für die Kosten der Behandlung und verlangte zusätzlich eine Vorauszahlung für die nächsten sechs Monate. Zhisheng hatte keine Blutverwandte, und so musste sich das Dorfkomitee, das aus dem Ältestenrat, dem Dorfvorsteher und dem Parteikader bestand, mit der Angelegenheit beschäftigen. In der Sitzung wurde der Dorfvorsteher beauftragt, der Klinik einen Brief zu schreiben, dass das Dorf das Geld für eine fortlaufende und vermutlich mehrjährige Behandlung nicht aufbringen könne.
Statt einer Antwort fuhr zwei Wochen später ein Krankenwagen im Dorf vor. Der Fahrer öffnete die Hecktür des Wagens, zog eine Bahre heraus, auf der Chen Zhisheng angeschnallt lag, und sagte zu der Menge, die sich inzwischen eingefunden hatte: „Da habt ihr euren Verrückten. Das Krankenhaus gibt ihn euch zurück.“
Danach löste er die Anschnallgurte, kippte die Bahre um, so dass der gefesselte Kranke in den Staub fiel, und fuhr davon. Die Dorfbewohner gerieten nun in große Sorge, Zhisheng könne ein weiteres Mal jemanden totschlagen, und beschlossen, einen Käfig aus Eisen anfertigen zu lassen, in dem der Verrückte festgehalten werden könnte. Für die Ernährung solle ein entfernter Verwandter sorgen, dafür würde er ein Entgelt von der Dorfgemeinschaft erhalten. So kam der Mann in den Käfig.
Lis Familie lebte von der Landwirtschaft. In guten Jahren wurden für die Ernährung der Familie, die aus Lis Eltern, ihr Vater hieß Yong, ihre Mutter Hu, einem Großvater, einer taubstummen Großtante und drei Kindern bestand, drei Viertel der Ernte benötigt; dann konnten ein Viertel der Ernte auf dem Markt verkauft und für das Geld nach Abzug der Steuern die nötigsten Anschaffungen getätigt werden. In schlechten Jahren blieb für den Verkauf nichts übrig, und Yong wusste nicht, wovon er die Steuern zahlen sollte. Trotzdem war er meistens fröhlich und voller Pläne.
„Wisst ihr“, pflegte er oft zu seinen zwei Söhnen und seiner Tochter Li zu sagen, „unser Urururururgroßvater war ein bedeutender Mann, er war ein Mandarin beim letzten Kaiser von China und trug Seidengewänder mit Goldfäden. Aber dann kam die Revolution und er verlor alles. Aber das hatte auch sein Gutes, denn jetzt konnte er heiraten – als Mandarin war ihm das verboten –, und wenn er nicht geheiratet hätte, gäbe es mich nicht und euch auch nicht, und das wäre doch sehr schade!“
„Hat er als Mandarin in der Verbotenen Stadt gelebt?“ fragte einer der Söhne.
„Nein, in der Provinz, für die er verantwortlich war. Aber später, nach der Revolution hat er in Peking gelebt.“
„Wie lange ist das her?“
„Fast zweihundert Jahre.“
„Und wie ist die Familie hierhergekommen?“
„Unser Urururururgroßvater musste mit seiner Frau und seinen Kindern während des Bürgerkriegs fliehen, er kam mit den Kommunisten nicht zurecht. Wir sind also keine Südchinesen, sondern stammen aus dem Norden. Auf seiner Flucht wäre unser Ahn beinahe erschossen worden, aber er konnte entkommen. Als ich klein war, hat mir mein Großvater die Geschichte noch in Einzelheiten erzählt, aber ich habe sie leider vergessen.“
„Wisst ihr“, sagte Lis Vater auch oft, „wenn ich etwas Geld hätte, würde ich uns ein schönes Haus bauen, das mitten in einem Garten liegt und mit einer großen Steinmauer umgeben ist. Das Tor ist schmiedeeisern, und zwei vergoldete Drachen halten die Torlaterne. Das Haus erhält einen Innenhof und eine Ahnenhalle. Ich habe alles genau geplant …“
Und nach diesen Worten nahm er einen Stock und begann, den Grundriss des Hauses in den Sand zu zeichnen.
„Wisst ihr“, sagte er zu anderen Zeiten, „wenn ich etwas Geld hätte, würde ich eine Seidenraupenzucht beginnen, vom Reisanbau wird man nicht reich…“
„Wisst ihr“, sagte er auch gerne, „wenn ich etwas Geld hätte, würde ich neue große Solaranlage auf das Dach unseres Hauses bauen …“
Aber er konnte keinen seiner Pläne verwirklichen, und die Familie blieb arm. Die Solaranlage fiel oft aus, und tagelang gab es keinen Strom. Wasser mussten die Kinder aus einem Ziehbrunnen auf dem Dorfplatz holen, und aller Unrat wurde in eine Grube gekehrt. Als Li vier Jahre alt war, brachte die Mutter ein weiteres Kind zur Welt, und Li erinnerte sich später an das Wiegenlied, das Hu der kleinen Schwester vorgesungen hatte: „Bitte schlaf schnell ein, dann kann deine Mutter arbeiten, Feuer machen, kochen und die Schweine füttern!“
Die Geschichte mit dem Käfig sprach sich herum, und bald kamen Leute aus der näheren Umgebung ins Dorf, um den Irren zu sehen. Dann brachte jemand das Gerücht auf, Chen Zhisheng sei verrückt geworden, weil er die Zukunft vorhersagen könne. Ein älterer Mann soll den Anfang gemacht haben. Er ging ganz nahe an das Gitter, gab dem Eingesperrten einen Geldschein und redete ihm gut zu. Aber der Mann im Käfig reagierte nicht. Schließlich zerriss er die Banknote in zwei Teile und warf sie durch die Gitterstäbe hinaus. Der Besucher zog den Schluss, die Zahl, die den halben Wert der Banknote darstelle, werde im Lotto gewinnen. Als tatsächlich die Zahl in der Nacht gezogen wurde, verbreitete sich die Nachricht in Windeseile. Immer mehr Leute kamen, um Chen Zhisheng zu befragen, und bald war er, um den sich vorher niemand gekümmert hatte, eine Berühmtheit in der Provinz. Die Leute brachten ihm Obst oder Gemüse und zeigten ihm dann Spielkarten oder reichten ihm Würfel, Mahjongsteine und Schachfiguren durch die Gitterstäbe. Aber da die Auswahl, die er traf, und die Hinweise, die er gab, nicht eindeutig waren, stellten sich die meisten Weissagungen, die die Leute aus seinem Verhalten ableiteten oder zu erkennen glaubten, als falsch heraus. Trotzdem schadeten sie seinem Ansehen nicht. Als immer mehr Ortsfremde kamen, die zu dem Verrückten im Käfig wollten, nahm die Polizei sie fest und wies sie aus dem Ort. Deshalb suchten sich die Fremden Verbündete unter den Dorfbewohnern. Sie gaben ihnen Geld, damit sie ihnen über Telefon oder Mikrokameras die Bewegungen und Verhaltensweisen Chen Zhishengs übermittelten, um daraus ihre Schlüsse über die richtigen Glückszahlen ziehen zu können.
Schließlich kamen sogar Journalisten ins Dorf, um über den Verrückten zu schreiben. Nach der Veröffentlichung eines Artikels im Blatt der Provinzhauptstadt und dem Nachdruck in einer überregionalen Tageszeitung nahmen sich Rechtsexperten und Juristen des Falles an. Einige zeigten Verständnis für die Notlage der Dorfgemeinschaft. Andere erklärten, es sei eine Schande und untragbar, dass der Kranke in einem Käfig wie ein Zootier gehalten werde. Ein Richter im Ruhestand behauptete, die Verwahrung verletze die Persönlichkeitsrechte des Geisteskranken und sei illegal. Ein Rechtsanwalt vertrat die Ansicht, das Dorfkomitee hätte die Verantwortung für den Kranken nicht aus der Hand geben dürfen und müsse für die medizinische Behandlung auch aufkommen. Schließlich berichtete ein unabhängiger Fernsehsender über den Fall, wobei der Kommentator die Aussage wagte, die Gesellschaft als Ganzes trage die Verantwortung. Danach bekam der Sender einen strengen Verweis von der staatlichen Aufsichtsbehörde, aber sonst geschah nichts.
Als Li fünf Jahre alt war, kamen eines Tages Leute von der Bezirksregierung ins Dorf, riefen alle Männer zusammen und verkündeten, sie hätten gute Nachrichten.
„Die Regierung“, sagte der Sprecher, „sorgt sich um euch und denkt an euer Wohlergehen, auch das entlegenste Dorf wird beobachtet, äh, ich meine beachtet und nicht vergessen. Deshalb hat die Regierung in ihrer Weisheit beschlossen, eine neue Straße und eine Eisenbahnlinie durch das Tal zu bauen. Straße und Eisenbahn werden euch eine gute und schnelle Anbindung zur nächsten Großstadt geben. Endlich kommt die moderne Zeit auch zu euch, denn entlang der Eisenbahnlinie werden neue Fabriken gebaut, und Fabriken schaffen für euch Arbeitsplätze. Der Wohlstand wird in euer Dorf einziehen.“
Er machte eine Pause, sah über die Menge hinweg und begann, in die Hände zu klatschen. Sogleich stimmten seine Kollegen ein. Die Dorfbewohner aber blickten stumm und ungläubig auf die Regierungsvertreter. Nur wenige klatschten. Schließlich fasste sich ein Mann des Dorfkomitees ein Herz und fragte: „Welche Gegenleistung erwartet die Regierung?“
„Nicht viel“, versetzte der Sprecher mit freundlichem Gesicht, „nur das Land für die Trasse. Wir könnten euch enteignen. Aber die Regierung ist großzügig, ihr werdet angemessen entschädigt.“
Nachdem die Leute von der Bezirksregierung weggefahren waren, setzte sich das Dorfkomitee zur Beratung zusammen. Als man sich nicht einigen konnte, schlugen einige Männer vor, den Mann im Käfig zu befragen, schließlich sei erwiesen, dass er in die Zukunft sehen könne. Während die Mehrheit diesen Vorschlag als unsinnig abtat, beharrte eine kleine Gruppe lautstark auf diesem Ansinnen.
„Wie wollt ihr ihn befragen?“ lenkte nach langem Streit der stellvertretende Vorsitzende des Komitees, der ein vernünftiger Mann war, ein.
„Wir bereiten Zettel vor“, war die Antwort, „und werden abwarten, welchen er uns zurückgibt.“
„Wenn ihr meint, was soll es schon schaden!“
Vier Zettel wurden beschrieben. Auf dem ersten stand: „Angebot annehmen“, auf dem zweiten: „Angebot ablehnen“, auf dem dritten: „Schöne Zukunft“ und auf dem vierten: „Große Veränderungen“. Als die Männer zum Käfig gingen, war Zhisheng dabei zu masturbieren. Da er dies täglich tat, nahmen die Erwachsenen keinen Anstoß daran und warteten, bis er die Sache erledigt hatte. (Nur die halbwüchsigen Jungen verspotteten den Gefangenen, wenn sie ihn dabei beobachteten, und machten entweder anfeuernde Gesten oder herablassende Bemerkungen, als hätten sie einen Affen im Zoo vor sich.) Dann reichten sie ihm die Zettel durch die Gitterstäbe. Der Irre brüllte, und zerriss drei der Zettel. Dann schmierte er sich Spermatropfen auf die Stirn, klebte den letzten Zettel daran fest und lief hin und her. Auf dem Zettel stand: „Große Veränderungen.“
Als Lis Vater am Abend die Neuigkeiten erzählte, sagte seine Frau: „Ist das nicht gut für uns? Vielleicht brauchen die Straßenbauer auch ein Stückchen von unserem Reisfeld. Das Endstück ist nicht sehr fruchtbar, wir könnten es entbehren. Das Geld wäre mir sehr willkommen.“
„Werden wir dann reich?“ hatte Li ihre Mutter gefragt, „können wir dann das neue Haus bauen?“
„Aber nein, mein Schätzchen“, hatte Hu geantwortet, „dafür wird es nicht reichen.“
Zwei Wochen später erschienen die Landvermesser, um die Trasse festzulegen. Drei Monate später wurde der Plan im Gebäude des Dorfkomitees ausgelegt. Als Yong an diesem Abend sehr spät nach Hause kam, war er bleich und aufgeregt.
„Dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen“, sagte er zu seiner Frau, „aber anders, als du dir es erhofft hast, die geplante Trasse durchschneidet unsere Reisanbaufläche in der Mitte und nimmt uns den besten Boden weg.“
„Dann müssen wir protestieren.“
Auch andere Bauern protestierten gegen die Planung, aber die Planungskommission war nicht bereit, Änderungen vorzunehmen. Man könne zwar die Straße verlegen, nicht aber die Trasse für die Bahnlinie, weil die Züge zur Erreichung hoher Geschwindigkeiten Gleise ohne enge Kurven benötigten. Bald zeigte sich, dass sich das Dorf in zwei Lager gespalten hatte: in Befürworter und Gegner der neuen Straße. Für die Straße waren alle, die bei der Landnahme gut wegkommen, gegen die Straße die Bauern, die wie Lis Vater wertvolle Teile ihres Landes verlieren würden. Nach mehreren heftigen Diskussionen im Dorfkomitee wurde schließlich mit knapper Mehrheit ein Beschluss gefasst, mit einer Menschenkette den Arbeitsbeginn der Straßenbauer zu verhindern. Auch Yong befürwortete die Blockade, doch der Großvater zeigte große Skepsis und sagte, gegen den Staat könne man nichts ausrichten. Dann erzählte er die Geschichte seines Großonkels Sun Xiaodi, der in einem vom Militär geleiteten Uranbergwerk gearbeitet hatte und später versuchte, die Behörden auf die Missstände aufmerksam zu machen. Er prangerte die nukleare Verschmutzung durch den Uranabbau im ursprünglich tibetischen Kreis Gannan an. Vieh starb, Menschen wurden krank, Missbildungen bei neugeborenen Tieren und Menschen traten auf, Fälle von Leukämie und Krebs häuften sich. Wenn den armen tibetischen Bauern eine Kuh starb, war dies ein großer Verlust für sie. Aber die Gesellschaft, der das Uranbergwerk gehörte, zahlte keine Entschädigungen und leitete auch keine Maßnahmen ein, um die Sicherheit zu verbessern.
„Aber diese Geschichte, die du mir schon so oft erzählt hast“, wandte Lis Vater ein, „ereignete sich vor achtzig Jahren. Seitdem hat sich viel verändert.“
„Papperlapapp“, entgegnete der Alte, „China ist ein Steinblock aus Granit, in China verändert sich nichts – vielleicht im Osten, in den großen Städten an der Küste. Aber bevor eine Klage aus den fernen Provinzen die Hauptstadt erreicht, vergehen Jahrhunderte. Du willst nur nicht hören, wie es Sun Xiaodi erging.“
Für Sun Xiaodi war offenkundig, dass beim Uranabbau gegen Sicherheitsregeln verstoßen und dass Vorsichtsmaßnahmen missachtet wurden. Kontaminiertes Wasser wurde ohne Aufbereitung aus der Mine in den nächsten Fluss geleitet. Uranerz wurde auf offenen Lastwagen transportiert, wodurch der Wind den radioaktiven Staub in der Umwelt verteilen konnte. Gebrauchte Werkzeuge und Rohre, die in der Mine kontaminiert worden waren, wurden an ahnungslose Handwerker und Bauern in der Umgebung verkauft. Vor allem aber wurden die Arbeiter ohne Schutzkleidung in die Mine geschickt und zogen sich durch das beim Abbau auftretende Radon-Gas Vergiftungen zu. Zunächst sprach Sun Xiaodi bei der Geschäftsführung der Mine vor. Doch die wollte von seinen Vorwürfen nichts hören und behielt mit der Begründung unbotmäßiger Aufsässigkeit seinen Lohn ein. Außerdem wurde er mehrmals von Unbekannten verprügelt und dabei schwer verletzt. Daraufhin wandte er sich an das Umweltbüro des Kreises, doch die Mitarbeiter wagten es nicht, sich mit dem Militär anzulegen, und warnten ihn, die Sache weiterzuverfolgen. Aber Sun Xiaodi wollte nicht aufgeben und trug seine Klagen der Provinzregierung vor. Daraufhin wurde er entlassen. Nun reiste er nach Peking, um das nationale Umweltamt auf den Skandal aufmerksam zu machen, und reichte eine Petition ein, die unbeantwortet blieb. Als die Behörden in seiner Heimatstadt merkten, dass er trotz aller Einschüchterungsversuche nicht mundtot zu machen war, begannen sie, Druck auf die Familie auszuüben. Die Tochter wurde in der Schule schikaniert, und die Banken wurden angewiesen, der Familie kein Geld mehr zu leihen. Um das Schulgeld für seine Tochter bezahlen zu können, verkaufte Sun Xiaodi sein Blut an Blutsammler, die durch die Provinzen zogen, obwohl er damit seinem schon angegriffenen Gesundheitszustand Schaden zufügte. Nach einer weiteren Petition an das nationale Umweltamt wurde er in Peking festgenommen und wegen Gefährdung der Staatssicherheit angeklagt. Im Gefängnis wurde er gequält und geschlagen. Als er sich auf das in der Verfassung verbriefte Recht auf Petitionen und das Bürgerrecht, Korruption und Versagen von Behörden anzuklagen, berief, sagte ihm ein Offizier der Staatssicherheit, während er ihm die Finger brach: „Wir sind das Recht! Beuge dich oder du wirst zerbrochen.“
Als der alte Mann so weit in seiner Geschichte gekommen war, verlor er vor Aufregung den Faden und schrie nur noch: „Halunken Spitzbuben, Betrüger, Verbrecher!“
Sun Xiaodi wurde verurteilt und nur entlassen, weil Ärzte inzwischen einen Magentumor diagnostiziert hatten. Er blieb aber unter Hausarrest; Wasser, Strom und Telefon wurden ihm unregelmäßig abgestellt. Im Hausarrest ist er im Alter von siebenundfünfzig Jahren gestorben, und solange er lebte, wagte niemand, seiner inzwischen erwachsenen Tochter Arbeit zu geben. An den Arbeitsbedingungen in der Mine änderte sich nichts. Die einzige Neuerung bestand darin, dass die Verwaltung nur noch Wanderarbeiter einstellte, die nicht wussten, wie gefährlich ihre Arbeit war, und sie alle drei Jahre auswechselte. Das kontaminierte Wasser wurde noch jahrelang in den nächsten Fluss geleitet.
Obwohl Yong die traurige Geschichte von Sun Xiaodi kannte, wurde er zu einem Anführer der Protestbewegung und verhinderte den Baubeginn der Straße nach Kräften. Doch dann kamen Soldaten, gaben Warnschüsse in die Luft ab und drohten, auf die Protestierer zu schießen. Als sich die Bauern nicht zurückzogen, prügelten die Soldaten mit elektrischen Schlagstöcken auf sie ein und trieben sie auseinander. Am nächsten Tag rollten Bagger über die Reisfelder, und die Trasse wurde ohne Rücksicht auf die Bewässerungswege aufgeschüttet. Nach einem Jahr waren Straße und Bahnlinie mit Ausnahme der Gleisarbeiten fertiggestellt. Zur Einweihung kam ein Minister der Provinz und hielt eine Rede, in der er den Fortschritt pries und darauf hinwies, dass jetzt endlich die Provinzhauptstadt mit der Bahn erreichbar sei, aber auch ausführte, dass das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung mit großer Besorgnis auf die Bauverzögerungen reagiert habe und kein Verständnis für die Rückständigkeit einiger Dörfler aufbringen könne.
Danach vergingen einige Monate, während der die Dorfgemeinschaft auf die Fertigstellung der Gleise und die Entschädigungszahlungen für die Landnahme wartete. Als nach einem halben Jahr immer noch kein Geld eingetroffen war, beschloss das Dorfkomitee, die Auszahlung des Geldes anzufordern. Ein weiteres halbes Jahr wurde der Antrag zwischen Behörden und Ministerien hin und her geschoben, dann traf ein Brief der Provinzregierung ein, der eine Berechnung der zu erwartenden Auszahlung, aber auch eine Kostenaufstellung enthielt. Zur Bestürzung des Dorfkomitees wurde der Einsatz der Soldaten in Rechnung gestellt und von dem für die Fläche der Trassen vereinbarten Preis abgezogen. Als weitere Kostenpositionen wurden die durch die Dorfbewohner verursachten Zeitverzögerungen beim Straßenbau geldlich bewertet und die Bereitstellungskosten der Baumaschinen berechnet, schließlich wurde eine Rechnung der Krankenanstalt für drei Jahre Behandlung des Kranken Chen Zhisheng aufgeführt. Nach Abzug der Kosten und weiterer Bearbeitungsgebühren lag der Auszahlungsbetrag bei einem Viertel der ursprünglich zugesagten Summe. In einem kleinen Nachsatz war die Mitteilung vermerkt, dass die Provinzregierung leider vergessen habe, den Betrag in den ordentlichen Haushalt aufzunehmen, und ihn wegen finanzieller Engpässe in den nächsten zwei Jahren nicht werde auszahlen können.
Voller Empörung erhob die Dorfgemeinschaft Einspruch, der von der Bezirksregierung nach fünf Monaten abgelehnt wurde. Dem Ablehnungsscheiben war eine Rechnung für den Zeitaufwand der Bearbeitung der Ablehnung beigefügt.
In ihrer Not nahmen die betrogenen Dorfbewohner einen Anwalt, der das zuständige Gericht anrief und sich vor allem über die Rechnung des Krankenhauses für den im Käfig eingesperrten Chen Zhisheng beschwerte. In der Anhörung vor der Verhandlung argumentierte der Anwalt des Krankenhauses, es sei nicht erheblich, dass der Kranke nicht behandelt worden sei. Er hätte aber nach dem ersten Gerichtsurteil behandelt werden müssen und die Dorfgemeinschaft sei verpflichtet gewesen, ihn behandeln zu lassen. Die Rechnung erfasse also den Einnahmenausfall des Krankenhauses. Nach der Anhörung entschied der Richter, den Fall zuzulassen, wodurch die Bauern Hoffnung schöpften. Doch in der Verhandlung wurde die Klage des Dorfes abgewiesen. Da die Gerichts- und Anwaltskosten weitere fünfzehn Prozent der ursprünglichen Summe verschlangen, musste die Dorfgemeinschaft ein Bankdarlehen aufnehmen, um die Forderungen zu bezahlen.
„Habe ich es nicht gesagt“, jammerte der Großvater, als Lis Vater davon berichtete, dass die Bank einen Zinssatz von acht Prozent verlangte und als Sicherheit Ackerland pfänden wollte, „gegen den verbrecherischen Staat sind wir machtlos! Er hält uns zum Narren und baut eine Bahntrasse, auf der die Gleise fehlen und keine Züge verkehren.“
So kam es, dass das Dorf zwanzig Prozent seiner Ackerfläche verlor, ohne jemals Geld für das Land zu erhalten, aber auf Jahre hinaus Zinsen und Gebühren zahlen musste.
Oft zieht ein Unglück das andere nach sich: In dem Jahr, in dem das Dorf den Prozess verloren hatte, waren die Ernten sehr schlecht, und die Bauern wussten nicht, wovon sie die Bankzinsen aufbringen sollten. Daher wurde ein Brief, den das Dorfkomitee ein paar Monate nach dem Gerichtsurteil von einer der neuen Fabrik erhielt, als Rettungsanker begrüßt. Die Fabrik machte den Bauern das Angebot, in Heimarbeit Metall- und Kunststoffteile zusammenzufügen oder auch kleine Maschinenteile zu fertigen. Die Bezahlung sollte auf der Grundlage der abgelieferten Teile nach einer Qualitätsprüfung in der Fabrik erfolgen. Da die Auftragsmenge von der Nachfrage abhänge, werde die Auftragsmenge wöchentlich festgelegt und könne Schwankungen unterliegen. Voraussetzung für die Tätigkeit der Bauern sei allerdings die Anschaffung der notwendigen Stanz- und Pressmaschinen auf eigene Kosten. Die Fabrik sei leider nicht in der Lage, die Maschinen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Begierig griffen die meisten Bauern nach diesem Strohhalm und schlugen die Warnungen der wenigen Weitsichtigen, sich nicht weiter zu verschulden, in den Wind.
Inzwischen war Li sieben Jahre alt geworden, und ihre Eltern gehörten zu den großen Verlierern der Veränderungen im Tal. Es ging ihnen schlechter als je zuvor. Eines Tages kam ein luxuriöses Auto ins Dorf, dem vier Männer entstiegen. Es waren Chinesen, aber sie waren westlich gekleidet und verströmten den Eindruck großen Reichtums, sie trugen Schuhe aus Leder mit Silberabsätzen, teure Armbanduhren und schwarze mit Mikrokameras und GPS-Sendern ausgerüstete Sonnenbrillen. Sie stellten sich mit ausgesuchter Höflichkeit beim Dorfkomitee vor und sagten, sie seien Personalberater der großen amerikanisch-chinesischen Hotelgesellschaft Luxor. Die Gesellschaft habe beschlossen, in Südchina mehrere Hotelanlagen mit angeschlossenen Freizeitparks zu errichten, und suche junge Mädchen, die für den anspruchsvollen Hotelservice reicher Gäste ausgebildet werden sollten. Die Mädchen hätten, wenn sie sich gut anstellten, Chancen, nicht nur Zimmermädchen, Kellnerinnen und Köchinnen zu werden, sondern könnten auch die gehobene Hotellaufbahn durchlaufen, die Welt kennenlernen – die Gesellschaft betreibe schon jetzt weltweit über dreißig Anlagen – und später reich heiraten. Außerdem sei die Gesellschaft bereit, den Eltern ein Handgeld zu zahlen. Zum Beweis zeigten sie Fotos und Filme sowie Empfehlungsschreiben von Regierungsstellen Chinas, Indiens und Thailands.
In der Nacht sprachen Lis Eltern über die Fremden, und Hu sagte zu ihrem Mann: „Wir haben kaum etwas zu essen, und ich weiß nicht, wie ich all die Mäuler ernähren soll. Der Großvater und die Tante sterben einfach nicht, und das vierte Kind verdanken wir nur deiner Unbeherrschtheit. Was soll nur aus uns werden?“
„Gegen den Staat kann man nichts ausrichten.“
„Davon können wir uns nichts kaufen.“
„Was hältst du von den Männern, die heute ins Dorf gekommen sind?“
„Vielleicht sollten wir ihnen Li geben.“
„Unsere Tochter lasse ich nicht in die Fremde ziehen“, sagte Yong.
„Wir wollen sie morgen fragen. Hier hat sie keine Zukunft und bekommt keine Ausbildung.“
Li hatte vor Hunger nicht einschlafen können und das Gespräch der Eltern gehört. Da sie ihre Eltern liebte, beschloss sie, ihnen zu helfen. Am nächsten Morgen erklärte sie ihrer Mutter, sie wolle mit den Fremden fortgehen. So verkauften die Eltern ihre Tochter an den Hotelkonzern.
Doch es war kein prachtvolles neues Hotel, wohin die Männer sie brachten, sondern eine schäbige Absteige in einem entlegenen Grenzgebiet. Es war ein Treffpunkt für Drogenhändler auf dem Weg nach Thailand. Außerdem war es ein Bordell.