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Kapitel 21: Carringtons Gästehaus

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Mosul Free Press, 28. Januar 2101: In seiner gestrigen Pressekonferenz kündigte der Regierungssprecher eine Reise des Premierministers nach Teheran an, um mit der persischen Regierung einen Freundschafts- und Beistandspakt zu unterzeichnen und die seit langem zwischen Persien und Kurdistan schwelenden Grenzstreitigkeiten beizulegen. Bedauerlicherweise, fügte der Sprecher hinzu, sei der Abschluss eines entsprechenden Vertrages mit der Türkei nicht abzusehen, und verwies auf die jüngsten Unruhen in den östlichen Provinzen am Van-See.

Antonio Hector O’Brien hatte sich drei Tage freigenommen, um seinen neunundfünfzigsten Geburtstag zu feiern. Unter falschem Namen hatte er einen teuren Flug gebucht und ihn mit seinem eigenen Geld bezahlt. Am Ankunftsort hatte er öffentliche Verkehrsmittel benutzt und schließlich nach mehrstündiger Fahrt mit einer Bahn und einer Fähre die kleine Hafenstadt erreicht, wo ihn keiner kannte.

Jetzt saß er auf alten Holzplanken einer Hafenmole, blickte auf das Wasser und hörte dem Klatschen der Wellen zu. Glücklicherweise war der Himmel bedeckt, die Hitze eines wolkenlosen Sommertages wäre im Freien nicht lange zu ertragen gewesen. Noch ein Jahr, dachte er, dann könne er sich zurückziehen. Aber wohin sollte er gehen und was würde er dann tun? Der Frage, womit er sich gerne beschäftigen würde, war er immer ausgewichen. Im Hafen herrschte wenig Verkehr, alle Motorschiffe lagen vermutlich aus Treibstoffmangel vor Anker, aber auf dem Meer zogen einige Segelschiffe vorbei. O’Brien sah ihnen nach; er liebte den Anblick der hohen weißen Segel und stellte sich gerne vor, er wäre Kapitän auf einem der Boote. Doch da er den Wellengang des offenen Meeres nicht vertrug, unternahm er keine Schiffsreisen. Er war sich nicht sicher, ob man ihn am Leben lassen würde; er wusste zu viel. Aber angenommen, sie ließen ihn in Ruhe … was würde er gerne tun? Sein Rücken schmerzte; der Poller, gegen den er sich gelehnt hatte, war keine bequeme Stütze. Er streckte sich und verspürte leichten Hunger. Nach einem streifenden Blick über die wenigen im Hafen vertäuten Boote stand er auf und ging zu einem Holzhaus am Ende der Mole. Es war das einzige Restaurant am Hafen, das durchgehend geöffnet hatte. Auf einem großen, sich drehenden Bildschirm leuchteten der Name „Zur Seejungfrau“ und die Tageskarte, die nur aus vier Gerichten bestand: Fischsuppe mit Schlangenfleisch, gebratene Garnelen mit Reis, gedünsteter Knurrhahn mit Birnen und gegrillter Schwertfisch mit Fenchelsalat.

O’Brien setzte sich an einen der Tische, die unter einem Vordach standen. Er war der einzige Gast. Ein dunkelhäutiges Mädchen mit breiter Nase, vermutlich eine Maori, nahm seine Bestellung entgegen. Zunächst fragte er nach dem Knurrhahn: „Wo habt ihr den Fisch her? Ich dachte, er sei so gut wie ausgestorben.“

„Der Chef setzt ihn regelmäßig auf die Speisekarte. Soviel ich weiß, wird er hier irgendwo gezüchtet.“

„Tatsächlich? Habe ihn noch nie gegessen.“ Aber dann entschied er sich für die Garnelen und bestellte Wasser dazu.

„Haben Sie die blinde Robbe gesehen?“ fragte die Bedienung, als sie die Garnelen brachte. Sie waren längs aufgeschnitten und mit Schinkenspeck umwickelt.

„Welche Robbe?“ versetzte O’Brien, der den Duft des gebratenen Specks einsog und bedauerte, keinen Wein bestellt zu haben.

„Sie kommt fast jeden Tag zur Mole und bettelt um Fischabfälle. Das eine Auge ist milchig weiß. Ich glaube, sie ist blind.“

„Ist mir nicht aufgefallen“, antwortete er, bevor er zu Messer und Gabel griff.

O’Brien war auf einem anderen Kontinent aufgewachsen. Als er zwölf Jahre alt war, hatte sein Vater eines Abends seiner Frau erklärt, er werde ausziehen, er habe einen Freund, mit dem er zusammenleben wolle. Den Schock, einen schwulen Vater zu haben, hatte O’Brien nie vollständig überwunden. Jahrelang hatte er nach Zeichen gesucht, die darauf hinweisen könnten, dass auch er eine Neigung zum eigenen Geschlecht besitze, und aus diesem Grund alle Freundschaften mit Jungen aus seiner Klasse und der Nachbarschaft abgebrochen. Als einmal sein Sportlehrer nach dem Unterricht eine Hand freundschaftlich auf seine Schulter gelegt hatte, hatte er ihn angeschrien: „Fassen Sie mich nicht an!“

Nach Beendigung der Schule hatte er seinen Heimatort verlassen und sich freiwillig zum Militär gemeldet. Während seiner Militärzeit war er bei einem UN-Einsatz nach Neuguinea geschickt worden und hatte sich dort eine malariaähnliche Erkrankung zugezogen, die in Schüben immer wieder ausbrach. Aus diesem Grund hatte er später ein Medizinstudium begonnen.

Als er die Mahlzeit beendet hatte, kam die Bedienung, um das Geschirr abzuräumen, und fragte: „Haben Sie noch einen Wunsch?“

„Vielen Dank. Vielleicht noch ein Glas Wasser, es ist sehr heiß.“

Das Mädchen brachte das Wasser, blieb am Tisch stehen und sagte beiläufig: „Wollen Sie Sex?“

O’Brien, der aufs Meer geblickt hatte, sah auf und musterte die Bedienung. Sie trug einen sehr kurzen Rock, unter dem die Beine bis zum Schritt zu sehen waren. Durch einen transparenten Slip leuchteten rote Schamlippen, die zweifellos aufgespritzt waren. Obwohl die Oberschenkel für seinen Geschmack etwas zu dick waren, überkam ihn für einen Augenblick die Begierde, sie anzufassen und die Feuchtigkeit ihres Geschlechts zu prüfen. Um sich abzulenken, fragte er: „Wie heißt du?“

„Meine Eltern nannten mich Roimata, aber für die Weißen heiße ich Julita.“

Er kannte die Wortbedeutung von Roimata und sagte: „Du stammst von Neuseeland?“

Sie nickte.

„Wie alt bist du?“

„Einundzwanzig.“

Das nahm er ihr nicht ab. Sie war höchstens siebzehn.

„Sehe ich so aus, als ob ich Sex bräuchte, Julita?“

„Ja, diesen Eindruck machen Sie.“

„Du scheinst die Männer ja gut zu kennen.“

„Ich arbeite hier schon seit drei Jahren. Man spürt sofort, ob Männer hungrig sind.“

Unvermittelt tauchte bei O’Brien die Erinnerung an seinen Sportlehrer auf. Nach der Begegnung im Umkleideraum hatte Antonio über ihn Gerüchte ausgestreut, die seiner Laufbahn sehr geschadet hatten.

„Ich werde es mir überlegen.“

Sie kam etwas näher und lehnte sich gegen die Tischplatte: „Ich mache es Ihnen, wie Sie es haben wollen. Klassisch oder anal. Wenn Sie wollen, pisse ich Ihnen auch in den Mund, die Geschmacksrichtung können Sie sich vorher aussuchen.“

Er dachte an seine Frau, sie war bei einem Tsunami umgekommen und sagte: „Bring mir die Rechnung.“

„Ist schon fertig“, antwortete Julita und zog ein Eingabegerät aus ihrer Schürze.

„Kein Transfer, ich zahle bar.“

Erstaunt verzog sie ihr Gesicht und sagte: „Wenn Sie bar zahlen, bekommen Sie von mir einen Rabatt. Wo sind Sie abgestiegen?“

„In Carringtons Gästehaus.“

„Hätte ich mir denken können. Die Fremden kommen entweder mit dem Schiff hierher und übernachten auf ihrem Schiff, oder sie mieten sich bei Carrington ein. Und da Sie nicht wie ein Schiffer aussehen …“

„Bietest du dich allen Gästen an?“

„Nur Männern, die einen einsamen Eindruck machen. Davon gibt es aber reichlich …“, sie brach in Lachen aus und fuhr dann fort, „glücklicherweise. Von dem Bedienungsgeld könnte ich nicht leben.“

O’Brien stand auf und ging zu seiner Unterkunft zurück. Carringtons Gästehaus bestand aus zwei Teilen. Im Erdgeschoss befand sich ein Laden, wie man ihn in kleinen Hafenstädten weitab von Ballungsgebieten oft finden konnte, eine Gemischtwarenhandlung, die teilweise mehr einem Kramladen glich als einem Warenhaus, was das Schild über der Eingangstür versprach. Angeboten wurden Freizeitkleidung, Wander- und Tauchausrüstungen, Jagdwaffen, Sprengstoffe, Schiffsbedarf, Taue und Seile, Netze, Energiespeicher, Computerteile, Kommunikatoren, Arzneimittel, Getränke und abgepackte Lebensmittel. Zusätzlich zum Laden befand sich im Erdgeschoss ein Frühstückszimmer für die Hotelgäste. Das Hotel bestand aus einem Dutzend Zimmer, die sich auf die obere Etage und das Dachgeschoss verteilten. Neben dem Haus lag eine aufgegebene Tankstelle. Ein kleiner Flur mit anschließender Treppe trennte das Geschäft von dem Frühstückszimmer und bildete den Hoteleingang. In dieser Lobby war der Empfang nichts anderes als ein kleines Fenster mit Klingel in der Wand zum Laden. Der Inhaber von Hotel und Geschäft war ein Mann unbestimmten Alters mit ergrauten Haaren und einer altmodischen Brille. Trotz der Hitze trug er eine gelbe Jacke zu weißen Hosen. Wenn man mit ihm redete, vermied er den direkten Blickkontakt und sah in irgendeine unbestimmte Entfernung. Auf O’Brien machte er mehr den Eindruck eines Sammlers als eines Händlers.

Neben der Klingel hing ein Monitor, der einen GPS-Zugang hatte. Nach seiner Rückkehr von der Mole schaltete O’Brien diesen Monitor ein und sah sich Satellitenaufnahmen der Stadt und der näheren Umgebung an. Dann druckte er sich eine Hybridkarte aus. Am Abend aß er in seinem Zimmer eine Kleinigkeit aus dem Laden und ging früh zu Bett.

Am nächsten Tag unternahm er eine lange Wanderung, die ihn vom Meer landeinwärts führte. Gegen Mittag erreichte er den Fuß eines Bergrückens, dessen Hänge teilweise aus rötlichen Felsen bestanden. In halber Höhe war schon von weitem ein stattliches Haus zu sehen, dessen Mauern fast vollständig von Efeu überwuchert waren. Beim Näherkommen musste jedoch jeder Wanderer die Entdeckung machen, dass das Haus nur eine ausgebrannte Ruine mit leeren Fensterhöhlen war und kein Dach mehr besaß. O’Brien schritt um das Haus herum und betrachtete es von allen Seiten. Dann setzte er sich auf die Stufen einer Treppe, die vom Haus in den Garten führte, blickte auf das entfernte Meer und dachte an seine Frau Saska. Ein massives Erdbeben im Südpazifik hatte einen Tsunami mit fünfzehn Meter hohen Wellen ausgelöst. Das Epizentrum lag nur vierzig Kilometer westlich der Insel, auf die er mit seiner Frau und dem zweijährigen Sohn zum Tauchen gekommen war. Es war der erste gemeinsame Urlaub nach der Geburt des Kindes und einer Organtransplantation bei seiner Frau. Das Geld für diese Reise hatten sie sich nach den Kosten der Operation buchstäblich vom Munde abgespart. Die Welle hatte Saska und das Kind am Strand überrascht, er selbst hatte nur überlebt, weil er in einem höher gelegenen Ort einkaufen gegangen war. Die Welle hatte Saska und das Kind mitgerissen, die Leichen hatte man nie gefunden. Nach Saskas Tod hatte er sein Medizinstudium abgebrochen und eine Tätigkeit in einem anderen Land gesucht. So war er mit der Organisation in Kontakt gekommen und hatte seine moralischen Prinzipien nach und nach aufgegeben.

Nach seiner Rückkehr begann er ein Gespräch mit Carrington und fragte ihn nach dem Haus.

Das Ereignis, bekam er zur Antwort, liege zwanzig Jahre zurück. Eines Nachts sei ein Feuer ausgebrochen. Da das Anwesen, wie er sich sicher habe überzeugen können, sehr weit entfernt von der Stadt liege, sei jede Hilfe zu spät gekommen.

Ob die Bewohner überlebt hätten, wollte O’Brien wissen.

Die seien alle umgekommen.

Wo sie begraben seien, fragte O’Brien nach.

Man hätte keine Leichen gefunden.

Ob er die Leute gekannt habe.

Nein, er habe sie nicht gekannt, er sei erst ein Jahr nach dem Brand in die Hafenstadt gekommen. Er habe nur gehört, es habe sich um ein Ehepaar gehandelt und der Mann sei ein Wissenschaftler gewesen. Den Namen kenne er nicht, der habe ihn nie interessiert, aber den könne man in der Stadtverwaltung erfragen.

Ob sich irgendjemand in der letzten Zeit nach dem Haus und dem Grundstück erkundigt habe, ein Besucher wie er oder vielleicht eine großgewachsene junge Frau.

Bei ihm habe keiner seiner Gäste nach dem Haus gefragt, das Grundstück sei, soviel er wisse, herrenlos. Er könne es erwerben.

„Sie können es kaufen, wenn Sie wollen. Die Aussicht ist sehr schön“, sagte Carrington und sah dabei zum erste Mal während des Gesprächs O’Brien in die Augen.

„Vielleicht keine schlechte Idee“, antwortete O’Brien, „in einem Jahr höre ich auf zu arbeiten und suche noch einen Alterssitz. Ich könnte mir vorstellen, Orchideen und andere Blumen zu züchten; mir fiel auf, dass das Gewächshaus neben der Ruine fast unbeschädigt ist. Gibt es eine Preisvorstellung?“

„Keine Ahnung. Erkundigen Sie sich bei der Stadtverwaltung.“

Am Abend suchte er das Restaurant im Hafen auf, weil er beschlossen hatte, sich aus Anlass seines Geburtstages eine Flasche Wein zu genehmigen. Obwohl diesmal die meisten Tische besetzt waren, kam Julita sogleich zu ihm, um seine Bestellung aufzunehmen. Sie trug einen noch kürzeren Rock als am Vortag, er war dunkelblau und glänzte metallisch im Licht der vom Abendwind leicht bewegten Lampen, die unter dem Vordach hingen.

„Hallo Fremder“, begrüßte sie ihn, „haben Sie doch Sehnsucht nach mir?“

„Vielleicht“, antwortete er ausweichend, bevor er nach einer Getränkekarte fragte.

„Haben wir nicht“, antwortete das Mädchen, „es gibt Bier, Gin, Sake, Whisky, einen billigen Weißwein aus Australien und einen teuren aus Neuseeland. Außerdem einen Rotwein aus Südafrika, aber der taugt nichts; der macht Kopfschmerzen, den kann ich nicht empfehlen!“

Sie hatte ihre Handflächen auf die Tischplatte gelegt und sich leicht nach vorn gebeugt. Ein tief ausgeschnittenes weißes Hemd zeigte viel von ihren Brüsten, und der Rock endete oberhalb der Tischkante.

„Gut, dann bring mir den Weißwein aus Neuseeland … und zwei Gläser.“

„Zwei Gläser? Erwarten Sie noch jemanden?“

„Nein, ich möchte mit dir anstoßen!“

„Mit mir? Das erlaubt der Chef nicht!“

„Aber er erlaubt dir, ohne Unterwäsche herumzulaufen! Du zeigst wirklich alles, was du hast.“

„Das gehört zum Geschäft, zu seinem und zu meinem.“

Als sie den Wein brachte und neben seinem Stuhl stehend einschenkte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, seine Hand zwischen ihre Oberschenkel zu schieben. Sie stellte die Weinflasche ab, sah ihn schräg von oben an und sagte, während sie sich ihm entzog: „Sie sind ja ein unanständiger Junge. Das kostet extra.“

Zu seiner eigenen Überraschung hörte er sich antworten: „Bist du heute abend noch frei?“

„Statt die Zeit mit der Bedienung zu vertrödeln, sollten Sie die Speisekarte studieren und eine Wahl treffen. Heute hat die Küche viel zu tun.“

„Bist du heute abend noch frei?“

„Wer weiß … vielleicht.“

Sie zog mit seiner Bestellung ab und verschwand in der Küche. Danach kümmerte sie sich um andere Tische. Nach einiger Zeit streifte sie jedoch wieder an O’Brien vorbei und sagte: „Das Essen braucht eine Weile. Damit sich der Herr in der Zwischenzeit nicht langweilt, habe ich etwas für ihn.“

Nach diesen Worten stellte sie einen kleinen Hologrammprojektor auf den Tisch und schaltete ihn an. O’Brien erblickte eine Gruppe von drei Personen, eine Frau und zwei Männer. Sie waren nackt und lagen auf einem Bett. Die Frau bediente einen der Männer mit dem Mund, während der zweite Mann sie von hinten nahm. Zwischendurch blickte die Frau wiederholt in die Kamera, sie war zweifellos Julita. Die Szene dauerte etwa eine Minute. Danach schaltete sich das Gerät aus.

Als sie das Essen gebracht hatte, nahm Julita das kleine Gerät wortlos an sich und wendete sich sogleich zum Gehen. In der folgenden halben Stunde beachtete sie O’Brien nicht, bis sie durch seine lauten Rufe nach der Bedienung gezwungen wurde, an seinen Tisch zu treten. Er verlangte nach einer zweiten Flasche Wein und sagte dann: „Nun … bist du heute abend frei?“

„Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen, mein Herr“, gab sie zur Antwort.

„Meinen Namen? Ich heiße …“, er zögerte, er hatte seit Jahren keinen Alkohol mehr zu sich genommen und war schon leicht betrunken, „Churchill, aber du kannst mich … Winston nennen.“

Als Julita später in seinem Zimmer auf seinem Bett den Kopf nach unten beugte und ihre Haare nach vorne fielen, erblickte er auf der Haut ihres Nackens eine Tätowierung, die aus vier Buchstaben und acht Ziffern bestand. Er kannte die Bedeutung dieser Tätowierung. Die Buchstaben waren ein Kürzel einer Organfarm, die Zahlen ein Schlüssel mit Geburtstagsdatum und fortlaufender Nummerierung.

Als sie im Morgengrauen gehen wollte, fragte er beiläufig, warum sie in diese abgelegene Stadt gekommen und nicht bei ihrem Stamm geblieben sei.

„Ist dir nicht aufgefallen, dass es hier keine Überwachungskameras gibt?“ war ihre Antwort.

Er war so an die Präsenz von Überwachungskameras gewöhnt, dass ihm ihr Fehlen nicht aufgefallen war. Erstaunt und fragend entfuhr ihm: „Ja? Tatsächlich. Wie ist das möglich?“

„Der Wirt der Seejungfrau ist auch der Bürgermeister. Er sagt immer, für solchen Quatsch hätte die Stadt kein Geld.“

„War das der Grund für dich …?“

„Nur zum Teil. Trotz deiner Gier ist dir doch bestimmt die Narbe auf meinem Bauch aufgefallen?“

Er nickte.

„Ich brauchte Geld und habe eine Niere verkauft. Hier ist das Leben billig, ich komme mit wenig Geld zurecht, Ab und zu ein Kunde wie du …“

Er nickte hinhaltend, schien nachzudenken und fragte dann: „Wie war deine Jugend? Hast du schöne Erinnerungen?“

„Oh ja!“ Begeisterung kam in ihre Stimme. „Meine Großmutter war eine Maori-Königin. Sie hieß Te Atairangikaahu und wurde sehr alt. Sie war sehr nett zu mir, und als sie starb, paddelten Männer den Sarg in einem Kanu zum Bestattungsberg. Der Nebel stieg aus dem Flussbett des Waikato und verhängte die heiligen Berge, als sie zu Grabe getragen wurde.“

O’Brien sagte nichts dazu. Er wusste, dass diese Erinnerung falsch war, dass Julita, die glaubte, dass sie Roimata hieße, in einer Organspenderfarm gezüchtet worden war und dass es ihr aus irgendeinem Grund, der ihm gleichgültig war, gelungen war, aus der Farm zu entkommen.

Im Verlauf des Tages trat er die Rückreise an, ohne den Bürgermeister oder die Stadtverwaltung aufgesucht zu haben. Nach der Ankunft auf dem Zielflughafen setzte er seine Fahrt mit einer Untergrundbahn fort. Als er sie in der Endstation verließ, war er nicht mehr Antonio Hector O’Brien, sondern der Direktor.

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101

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