Читать книгу Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 - Eric Gutzler - Страница 7
Kapitel 22: Die Sure vom Rauch
ОглавлениеDer Plan der ATA war einfach. Mangels einer besseren Idee sollten die angeworbenen Personen als perfekt ausgebildete, mit der Kultur und der Sprache des Gegners vertraute Undercover-Agenten an verschiedenen Stellen in das Netzwerk der Dschihadisten eingeschleust werden, um die Zielplanung herauszufinden und den Terror mit Gegenterror zu beantworten. Aus: Cagdaz Manzoni und Rebekka Mevissen: Geschichte der westlichen Geheimdienste, zweiter Ergänzungsband: Rückblick auf die Ereignisse des Jahres 2101. Manama 2109.
Während die Argo vor Alacant ankerte, Solveig den Schnee kennenlernte und Bodishia eine Wohnung in London suchte, wurde Ronit von Raisa in die Koranschule der Großen Moschee am Palästinensischen Nationalmuseum in Ûrshalîm-al-Quds eingeführt.
An dem Tag, an dem Raisa Takri sie im Frauenleseraum der Bibliothek angesprochen hatte, ließ Ronit sich von der Aufseherin ein Stück auf dem Heimweg begleiten und erzählte ihr von der Trauer über den Tod ihres Mannes. Raisa Takri hörte ihr aufmerksam zu und sagte zum Abschied, sie solle zur Freitagspredigt des Imams al-Asraqi kommen, daraus werde sie Trost und neue Hoffnung schöpfen.
Als Ronit in die Gasse einbog, in der das Gemüsegeschäft Aljawis lag, stand er vor dem Laden und unterhielt sich mit einem Mann, der sich verabschiedete, bevor Ronit das Geschäft erreicht hatte. Aljawi sah ihr entgegen und sagte, nachdem sie zusammen den Laden betreten und die Tür geschlossen hatten, dass sie ihren Gang und ihre Kopfhaltung noch nicht genügend angepasst habe: „Eine Muslimin bewegt sich anders als du in der Öffentlichkeit. Sie schlendert nicht durch die Straßen, weil die Straße den Männern gehört, auf der sie sich aufhalten, sich unterhalten und Geschäfte machen. Eine Muslimin bewegt sich unauffällig, sie drückt sich an Hauswänden entlang, sie huscht wie eine flinke Maus von einem Ort zum anderen. Sie weiß, dass sie nicht auf die Straße gehört, sondern ins Haus. Und deshalb lässt sie auch ihren Blick nicht offen schweifen. Ihr Kopf ist stets demütig gesenkt. Vergiss das nie!“
Etwas verärgert erwiderte Ronit, er solle nicht vergessen, dass sie als seine Schwester in Beirut gelebt und sich dort habe freier bewegen können als hier in Ûrshalîm-al-Quds. Die Leute, deren Vertrauen sie gewinnen wolle, seien nicht nur nicht dumm, sondern auch gut ausgebildet. Würde sie die Demut einer palästinensischen Muslimin zeigen, würde sie vermutlich eher Verdacht erwecken als mit einem westlich beeinflussten Auftreten.
Ronits standhafter Widerspruch überraschte Aljawi. Plötzlich merkte er, dass er seit langem keinen Kontakt mehr mit einer selbstbewussten Frau gehabt hatte, und gab klein bei: „Meine Lage ist sehr gefährdet. Du verstehst doch, dass wir größte Sorgfalt in unserem Auftreten walten lassen müssen. Den religiösen Milizen reicht ein Verdacht, um jemanden zu foltern und umzubringen.“
Etwa zur gleichen Zeit suchte Raisa Takri den Imam der Großen Moschee auf, um ihn, wie es ihrer Gewohnheit entsprach, über auffälliges Leseverhalten der Besucherinnen der Bibliothek zu unterrichten. Nach der formellen Begrüßung sagte sie, sie habe gute Neuigkeiten: „Allah hat mich geleitet und uns eine Frau zugeführt, die die Stärke zu haben verspricht, sich als Selbstmordattentäterin für unsere gerechte Sache zu opfern.“
Dr. Jamil al-Asraqi, der Imam der Großen Moschee, hörte diese Nachricht gern und bat Raisa, ihm mehr von Rasha Orit zu berichten.
„Sie ist Witwe, sie lebte mit ihrem Mann im Libanon und gibt den Europäern die Schuld an seinem Tod. Die Einzelheiten mochte sie mir nicht schildern, aber sie ist voller Trauer, Hass und Wut.“
„Hat sie schon Andeutungen gemacht, sich für die Sache der Freiheit einsetzen zu wollen?“
„Nein, das hat sie nicht. Aber sie hat kein Ziel, sie schwankt und sucht. Ich werde sie führen.“
An den beiden folgenden Tagen verzichtete Ronit auf einen Besuch in der Bibliothek und half stattdessen Aljawi bei seinem Gewerbe, begleitete ihn in aller Herrgottsfrühe auf den Großmarkt, um frisches Gemüse auszusuchen und einzukaufen, lernte einige Stammkunden und ihre Vorlieben näher kennen, prüfte abends die Reste auf Verkaufsfähigkeit am nächsten Tag und begann eine Zusammenstellung der Verkäufe anzulegen, indem sie die Unterschiede zwischen den eingekauften und verkauften Waren erfasste – entsprechende Übersichten hatte Aljawi nie erstellt und morgens immer nur nach Gefühl eingekauft. Außerdem kochte sie abends, womit sie Aljawi sehr für sich einnahm, weil er selbst keine Geduld besaß, Mahlzeiten mit Sorgfalt und Ideenreichtum zuzubereiten.
Am Freitag endlich ging sie zur Großen Moschee, um die Predigt des Imams zu hören. Den Frauen wurde eine Empore zugewiesen, von der man trotz des Gitters die Kanzel, zu der neun Stufen führten, gut sehen konnte. Der Imam, der auf den Minbar stieg, war schlank und noch verhältnismäßig jung, Ronit schätzte ihn aus der Entfernung auf Ende Dreißig. Er wandte sein schmales Gesicht der Menge zu, hob seine Hände und sprach: „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen! Was machen wir aus unserem Leben? Welche Ziele verfolgen wir? Jagen wir dem Wohlergehen und eitlen Genüssen nach? Suchen wir nur nach unserem Vorteil? Oder dienen wir Gott? Welche Antwort geben wir Allah darauf am Jüngsten Tag? Denkt an die Sure vom Goldprunk! Was antwortet ihr, wenn er euch fragt: Was habt ihr mit den heiligen Worten gemacht, die ich euch durch meinen Propheten offenbart habe? Habt ihr mein Reich auf der Erde aufgerichtet? Oder habt ihr die Erde den Gottlosen überlassen, den Schweinefleischfressern und Unbeschnittenen, den Heiden, die ihre Weiber nicht nur unverhüllt herumlaufen lassen, sondern halbnackt als Huren feilbieten? Und wenn ihr am Jüngsten Tag Gott in seiner Prächtigkeit seht, dann werdet ihr mit größtem Schrecken erkennen, dass ihr euch von dem Gehorsam, den ihr ihm schuldet, habt hinweglocken lassen. Aber was habt ihr euch dafür eingehandelt? Ein scheinbares Glück, eine scheinbare Freiheit, Bequemlichkeit. Das Glück und die Bequemlichkeit aber haben einen Beigeschmack von Verwesung. Wie kann man gut essen und in der Sonne liegen, während das Volk unter dem Joch des Zionismus verkommt? Dem Aufrechten bereitet daher das scheinbare Glück, die scheinbare Freiheit, gut zu leben, ein schlechtes Gewissen. Die einzige Möglichkeit, sich von dem schlechten Gewissen zu befreien, besteht darin, sich zu wehren, sich dem Widerstand anzuschließen.“
Der Imam machte eine Pause und blickte über die Menge, bevor er fortfuhr: „Was habt ihr euch eingehandelt? wird euch Gott fragen. Tand, Täuschungen, Bequemlichkeiten, Blendung und Verderben. Das ewige Höllenfeuer habt ihr euch eingehandelt! Trennt euch von euren Besitztümern, beendet eure Bequemlichkeit! Wacht auf und erkennt, was Gott von euch erwartet! Was wollt ihr auf der staubigen Erde zurücklassen? Haben wir ein Vaterland? Wo ist es? Seit dem Bau der Mauer sind wir stärker verletzt als je zuvor. Wir tragen diese Verletzung in uns und schämen uns, sie zu zeigen. Die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden, besteht darin, sich zusammen mit der Verletzung zu zerstören. Wir dienen Gott, wenn wir den Tod zum Ziel unseres Lebens erwählen. Werdet Widerstandskämpfer! Zögert nicht, euer Leben für unser heiliges Palästina zu geben. Tag für Tag sehen wir diese Schandmauer, die die Juden errichtet haben. Reißt sie nieder!“
Wieder machte der Imam eine Pause, weil aus einzelnen Rufen inzwischen ein heftiges Geschrei entstanden war. Während der Lärm verebbte, warf Ronit Blicke auf die sie umgebenden Frauen; einige weinten, andere starrten ekstatisch zum Minbar, als habe sich dort Gott offenbart.
„Wenn ihr euch opfert“, nahm der Imam seine Rede wieder auf, nachdem Stille eingekehrt war, „fügt ihr natürlich eurer Familie, euren Eltern, euren Gatten einen Schmerz zu. Aber was bedeutete schon dieser Schmerz angesichts des göttlichen Lohnes, und mit der Zeit werden eure Angehörigen lernen, euer Opfer zu würdigen. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen, um frei zu sein. Nur wenn wir uns für die Sache Gottes entscheiden, haben wir einer Zukunft den Rücken gekehrt, die wir nicht erleben wollen und nicht ertragen können, weil wir sie fürchten und weil sie uns enttäuschen wird.“
Nach dem Ende der Gebete suchte Ronit beim Verlassen der Moschee nach dem Gesicht von Raisa Takri, konnte sie jedoch in der Menge der Frauen nicht entdecken. Sie hätte die Aufseherin auch bei gründlichster Suche nicht finden können, Raisa Takri war nicht zur Freitagspredigt gekommen. Sie hatte zwei Söhne, von denen einer gelähmt war und sein Leben im Rollstuhl verbringen musste. In der Nacht war es ihm sehr schlecht ergangen, und seine Mutter war zuhause geblieben, um ihn zu pflegen.
Nach ihrer Rückkehr zu Aljawi gab Ronit ihrer Überzeugung Ausdruck, auf der richtigen Spur zu sein: „Dieser Imam ist ein Fanatiker und hat sicherlich beste Kontakte zu Terroristengruppen und Ausbildungslagern, wenn er nicht sogar der Kopf einer Terrorgruppe ist. Auf jeden Fall hat er keine Angst – oder er fühlt sich sehr sicher. Er hat nämlich während seiner Predigt auf die Anwesenheit bewaffneter Leibwächter verzichtet.“
Am nächsten Tag suchte sie die Koranschule auf und traf dort Raisa Takri. Zur Überraschung Ronits stellte sich heraus, dass Raisa Vorbeterin war und den versammelten Frauen den Koran auslegte.
„Hat man dir den Rang eines Imams zugeteilt?“ fragte Ronit die Aufseherin nach Abschluss der Gebetsstunde.
„Nein, Frauen können keine Imame sein, diese Häresie gibt es nur im dekadenten Westen“, antwortete Raisa, „aber ich habe viele Jahre den Koran studiert und habe von Dr. Jamil al-Asraqi die Erlaubnis bekommen, in seiner Stellvertretung den Unterricht zu leiten. Er hat gar zu viel zu tun und ist sehr beschäftigt. Nun sage mir, wie dir die Predigt gefallen hat.“
„Sie war sehr eindrucksvoll und mitreißend“, gestand Ronit.
„Hat sie dir geholfen, einen Weg zu finden?“
„Einen Weg zu finden? Nein, dazu ist es wohl zu früh. Noch drückt mich meine Trauer zu Boden und lässt mir keinen Raum für andere Dinge.“
Raisa wusste, dass man niemanden auf einen bestimmten Weg drängen sollte; ein Kandidat musste aus freiem Willen die Pforte zur Freiheit finden und durch sie hindurchschreiten. Daher verfolgte sie das Thema nicht weiter, sondern stellte Rasha Orit anderen Frauen vor. Zum gemeinsamen Beten waren über hundert Frauen gekommen, viele junge Mädchen waren darunter und vielleicht ein Viertel älterer Frauen.
Von nun an besuchte Ronit jeden zweiten Tag die Koranschule und erfuhr Lebensgeschichten unterschiedlichster, meist trauriger Art, wodurch sie sich veranlasst sah, Raisa nach und nach die Geschichte ihres Lebens im Libanon, ihrer Ehe und schließlich des Todes ihres Mannes preiszugeben.
„Mein Mann machte oft Geschäftsreisen in den Westen, er hatte in Athen und Rom zu tun, aber auch in Madrid und später in London. Als wir erkannten, dass unser Kinderwunsch nicht in Erfüllung ging, wollte er mir Trost spenden und erlaubte mir manchmal, ihn auf seinen Reisen zu begleiten.“
„Er scheint ein fürsorglicher und liebevoller Mann gewesen zu sein“, bemerkte die Aufseherin.
„Ja, das war er.“
An einem anderen Tag sagte Ronit: „In den vergangenen zwei Jahren war nur noch London sein Reiseziel. Viermal hat er mich mitgenommen, und so habe ich diese Stadt kennengelernt. Während mein Mann seine Geschäfte abwickelte, bin ich mit der U-Bahn von Stadtteil zu Stadtteil gefahren und habe unsere Moscheen besucht, aber mir auch, ich muss es gestehen, manche Sehenswürdigkeit angesehen, Schlösser und große Gebäude. Ist dir bekannt, dass inmitten der Stadt an überraschenden Stellen Parks angelegt sind?“
Raisa nickte kurz und fragte: „Verstehst du die Sprache?“
„Ich hatte schon in Beirut in der Schule Englisch gelernt und konnte es auffrischen.“
Wieder an einem anderen Tag brachte Ronit das Gespräch auf den Tod ihres Mannes: „Auf der Geschäftsreise, von der wir nicht wissen konnten, dass es seine letzte sein sollte, wurde er ohne Grund in einer Londoner U-Bahnstation erschossen. Er wurde von sieben Kugeln in den Kopf getroffen. Er hatte keine Chance gehabt, seine Unschuld zu beweisen. Die Polizisten hatten meinen Mann mit einem gesuchten Terroristen Hussein Irgendwer verwechselt. Der wurde später festgenommen und wegen versuchter Bombenanschläge in der Londoner U-Bahn zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Polizei hat sich zwar für den Tod meines Mannes entschuldigt, doch was nützt mir das?“
Raisa nahm Ronit in den Arm und sagte: „Komm Rasha, ich will dir etwas zeigen.“
Sie verließ die Moschee und führte Ronit zu einem Parkplatz, auf dem ihr Wagen, ein Elektroauto, stand, bat sie einzusteigen und startete das Auto. Sie fuhren stadtauswärts und erreichten bald entlegene Stadtteile. Die Straße bekam Schlaglöcher, und die Gebäude wurden zusehends armseliger. Häuser verwandeln sich in Hütten, die von Zelten abgelöst wurden. Die Hütten waren aus Holzbalken, rohen Brettern, Wellblech, Autoteilen, Tüchern und Plastikbahnen zusammengebaut, die Zelte mit Wänden aus Lumpen waren noch schäbiger. Dazwischen befanden sich Autowracks und Müllhalden, Baumgerippe und vereinzelt staubige Büsche. Ziegen und magere Katzen streunten umher.
„Weißt du, wer hier wohnt, nicht wohnt, sondern haust und vegetiert?“
Ronit schüttelte den Kopf.
„Flüchtlinge des letzten Krieges. Von den Juden vertriebene Palästinenser, Menschen, denen ihre Häuser grundlos weggenommen oder aus Rache von der Armee niedergerissen und eingeebnet wurden, Häuser, in denen Familien seit Generationen gelebt hatten. In dieser Hütte da lebt ein alter Mann, der einmal ein Stammesführer war, ein Verwandter von mir. Auch sein Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht, nachdem einer seiner Enkel ein Selbstmordattentat verübt hatte. Eines Morgens rückten Soldaten mit einem Bulldozer an und zerstörten sein Haus. Eine Stunde gab man ihm, um Hab und Gut fortzuschaffen. Seit zwanzig Jahren wohnt er jetzt hier.“
Sie machte eine Pause und fuhr noch ein Stückchen den Weg entlang, bis der Wagen eine Kuppe erreicht hatte. Dort stieg Raisa aus und zeigte mit weit ausholender Geste über das spröde, steinerne Land: „All diese Menschen haben keine Hoffnung, sie empfinden nur Scham. Sie tragen eine Verletzung in sich und schämen sich, sie zu zeigen. Jamil al-Asraqi sagt in seiner Predigt immer, die einzige Möglichkeit, die Scham und die Verletzung loszuwerden, bestehe darin, sich zusammen mit der Verletzung zu zerstören.“
„Selbstmord zu begehen?“ fragte Ronit mit aufgesetzter Naivität.
„Nein, den Feind mit einem Selbstmordanschlag zu treffen. Fast alle Selbstmordattentäter“, Raisa zögerte einen kurzen Augenblick, „stammen aus solchen Siedlungen, darunter waren viele Frauen.“
Einige Tage später fragte Ronit Raisa: „Welchen Weg soll ich nehmen? Was rätst du mir?“
Die Vorbeterin blickte ihr in die Augen und sagte: „Du bist noch jung genug, um Kinder zu bekommen. Nimm dir einen Mann und schenke ihm Kinder, das ist ein Weg. Ein anderer Weg wäre … wenn du bereit wärest, für die Freiheit unseres Volkes zu kämpfen.“
„Was ist meine Bestimmung?“
„Die kennt nur Gott. Denke an die Sure vom Rauch, worin Gott spricht: Sehe, wir sandten das Buch nieder in der gesegneten Nacht. In dieser Nacht werden alle Dinge entschieden in Weisheit, gemäß unserem Befehl.“
„Die Stelle erscheint mir dunkel. Kannst du sie erklären?“
„Gemeint ist die heilige Nacht der Bestimmung im Ramadan, in der das Schicksal des Menschen für das ganze Jahr festgelegt wird. Allah hat dein Schicksal schon bestimmt. Folge deiner Bestimmung. Du findest sie und brauchst meinen Rat nicht.“
Nach diesem Gespräch hielt sich Ronit von der Koranschule fern, half Aljawi in seinem Laden und verwöhnte ihn mit ihren Kochkünsten. Über eine Woche war vergangen, als zwei verschleierte Frauen das Gemüsegeschäft betraten, aber nichts kauften, sondern Ronit fragten, ob sie Rasha sei. Als Ronit nickte, sagte eine der beiden: „Raisa verlangt nach dir.“
„Bitte antworte ihr“, entgegnete Ronit, „ich habe meine Bestimmung noch nicht gefunden.“
Ronit ließ die Aufseherin eine weitere Woche zappeln, dann suchte sie die Koranschule auf und begann ein Gespräch mit Raisa mit folgenden Worten: „Ich will mich eurer Bewegung anschließen.“
„Dann sollten wir den Imam aufsuchen.“
Der Imam begrüßte sie zuvorkommend. Er hatte ein schönes Gesicht und auffallend gepflegte Hände. Aus der Nähe wirkte er noch jünger, als sie ihn von der Freitagspredigt im Gedächtnis behalten hatte, er war höchstens Mitte Dreißig.
„Raisa hat mir schon von dir erzählt, Schwester. Du trägst Trauer, weil du deinen Mann verloren hast.“
„Der plötzliche Tod meines Mannes hat mich sehr erschüttert.“
„Und du bist zornig?“
„Ich bin … ich gestehe es, auch etwas zornig.“
„Der Zorn ist ein schlechter Ratgeber. Höre auf dein Herz, dann vernimmst du Gottes Wünsche.“
„Ich habe das Elend gesehen, es ist eine Schande für unser Volk. Ich möchte die Schande auslöschen, aber ich zögere noch, ich habe Angst.“
„Ob die Märtyrerrolle zu dir passt, musst du ganz alleine entscheiden. Wenn es Gott gefällt, wird er dir die Angst nehmen.“
„Ich spüre, wie in meinem Herzen der Wunsch wächst, Allah zu dienen.“
„Preisen wir Gott, den Allerbarmer, den Allbarmherzigen! Wenn du keine Angst mehr verspürst, bist du uns willkommen. Wir haben Pläne, Aufgaben stehen an in unserem Land, das die Juden besetzt halten. An ihrem Passahfest wollen wir helle Feuer entzünden. Wirst du dabei sein und dich opfern, ist dir das Paradies gewiss.“
„Gib mir Zeit.“
Zu Aljawi zurückgekehrt, berichtete sie ihm, Dr. al-Asraqi habe angebissen: „Informiere deine Leute, dass am Passahfest mehrere Attentate geplant sind, mich wollte der Imam auch schon dafür einsetzen.“
Aljawi konnte keine Antwort geben, weil eine Kundin den Laden betrat und nach frischen Feigen fragte.
Während des Aufräumens am Abend nahm Ronit das unterbrochene Gespräch wieder auf: „Dieser Dr. al-Asraqi ist zweifelsfrei ein gewissenloser Schlächter, ein Puppenspieler und Drahtzieher, für den Menschenleben nichts zählen, der sich seine eigenen zarten Hände aber nie schmutzig machen würde.“
„Ja, ich habe auch schon seine Predigt gehört. Er arbeitet mit der Scham der Opfer. Das ist das Perfide, er benutzt die Techniken der Gewaltsysteme.“
„Andererseits kann man für die Sache der Fanatiker durchaus Sympathien entwickeln.“
„Wie kommst du denn zu dieser Auffassung?“ entgegnete Aljawi mit Verwunderung in der Stimme.
„Nun, wir haben Menschen vertrieben und Mauern errichtet. Diese Mauern sind mehr als Betonplatten und Stacheldraht, sie sind zersetzende Symbole sozialer und wirtschaftlicher Trennungsgräben und Ungleichheiten. Unsere Politiker müssten versuchen, die Gräben zu überwinden, sie zuzuschütten. Aber sie sagen, durch feste Zäune entstünde gute Nachbarschaft. Das ist blasphemisch.“
„Mir scheint“, erwiderte Aljawi bitter, „die Gehirnwäsche, der sie dich in der Koranschule unterziehen, zeigt schon Wirkung.“
„Ach was, Samar, red’ keinen Stuss. Eine Mauer wirft immer einen Schatten auf den Erbauer, ist Zeichen verfehlter Politik. Die Mauer wird als Allheilmittel betrachtet und sagt, wenn du ehrlich bist, viel mehr über die Leute aus, die sie errichtet haben, als über die Leute, die ausgeschlossen wurden. Man darf nicht vergessen, dass die Mauern auch einschließen, die jüdische Bevölkerung einschließen.“
„Europäer behaupten“, versuchte Aljawi zu entgegnen, „man könne nur offen sein, wenn dadurch die erreichte Lebensqualität eines Landes einschließlich seiner inneren Freiheit nicht eingeschränkt werde, schrankenlose Offenheit sei eine Elend und großes Unglück. Sieh dir die Bevölkerungsentwicklung in der westeuropäischen Region an. Einwanderungen verändern immer die Bevölkerungszusammensetzung in einer Weise, die die ursprüngliche Bevölkerung nicht wollte.“
Ronit, die die Verhältnisse in England gut kannte, wusste darauf nichts zu entgegnen, so dass Aljawi Oberwasser bekam: „Wir wollen die Einwanderung von Palästinensern in unser Land doch auch nicht. Warum wollen wir sie nicht? Weil sie fruchtbarer sind und sich rascher vermehren als wir. Sieh dich an, warum hast du keine Kinder?“
„Willst du mir welche machen?“ Ronit fühlte sich so in die Ecke gedrängt, dass sie vergaß die Gegenfrage zu stellen, warum er keine habe.
Aljawi schüttelte abweisend den Kopf, weil er seine Gedankenkette nicht abreißen lassen wollte:
„Glaubst du denn“, setzte er fort, „dass die Palästinenser, würden wir die Grenze öffnen, einem wirklich freien Austausch von Waren, Menschen, Technologien, Wissen, Kapital, Kultur und Ideen zustimmen würden?“
„Natürlich nicht“, gab Ronit zu, „sie würden nur ihre alte Absichten wieder aufnehmen, die Juden ins Meer zu treiben.“
„Das ist unser ungelöstes Problem – seit über einhundertfünfzig Jahren.“
Nach der nächsten Freitagspredigt suchte Ronit den Imam auf. Obwohl sich vor der Tür seines Arbeitszimmers viele Anhänger drängten, wurde sie bald vorgelassen. Der Imam machte einen erschöpften Eindruck, die Predigt und die anschließenden Gespräche hatten ihn ermüdet. Trotzdem zeigte er sich über Ronits Besuch erfreut und sah sie erwartungsvoll an.
„Ich habe mich entschieden“, sagte sie mit verkrampfter Stimme, „ich will für die Freiheit sterben, allerdings …“, sie zögerte, bis der Imam sie ermunterte, fortzufahren, „nicht in Israel.“
„Nicht in Israel? Wo sonst? Wie soll ich das verstehen?“ Seine Augenbrauen hatten sich fragend zusammengezogen.
„Die Juden“, antwortete sie und schluckte dabei, „sind nicht unsere ärgsten Feinde. Sie müssen schließlich auch irgendwo leben. Unsere Hauptfeinde sind die Engländer, sie sind an dem Elend Schuld, weil sie vor einhundertfünfzig Jahren oder früher die Grenzen gezogen haben, unter denen wir so leiden. Ich bin bereit, mich in die Luft zu sprengen, aber ich will die Engländer in ihrem Herzen treffen, ich will nach London. In London will ich ein Zeichen für unsere Freiheit setzen. Außerdem“, fügte sie schnell hinzu, bevor der Imam sie unterbrechen konnte, „habe ich natürlich auch einen persönlichen Grund: Im Mordfall meines Mannes hat sich die Staatsanwaltschaft entschieden, keine Anklage gegen die beteiligten Beamten zu erheben. Eine individuelle Schuld sei nicht erwiesen. Das kann ich nicht hinnehmen.“
„So treibt dich die Rache.“
„Das ist der Weg, den mich Allah gewiesen hat.“
Die Wendungen des Gespräches hatten Dr. al-Asraqi sichtlich überrascht. Er suchte nach einem Ausweg und sagte schließlich: „Die Freiheitskämpfer, die wir im Westen einsetzen, haben eine harte Ausbildung erhalten, sie müssen alle möglichen Fertigkeiten besitzen, Bomben bauen, mit Waffen, mit Giften und sogar mit … Viren umgehen.“
„Ich bin bereit, mich ausbilden zu lassen, und habe auch vor Viren keine Angst. Gott der Allmächtige wird mich schützen.“
„Die Freiheitskämpfer, die ihre Aktionen in den Metropolen der Heiden unternehmen, kennen den Ort wegen der erforderlichen Sorgfalt in der Planung und Durchführung genau und haben meistens längere Zeit in der Stadt gelebt, bevor wir sie einsetzen.“
„Ich kenne London, außerdem hat mir mein Mann nach seinen ersten Reisen viel über die Stadt erzählt. Sie hat ihn fasziniert.“
„Ja, ja, Raisa hat mir davon berichtet.“
„Prüfe mich, stell mir Fragen.“
„Du bist hartnäckig, das gefällt mir durchaus. Also gut. Was ist …“, er dachte ein wenig nach, „ … Elephant and Castle?“
„Eine Station der Untergrundbahn, südlich der Themse.“
„Kennst du alle U-Bahn-Stationen?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Wieso ausgerechnet Elephant and Castle?“
„Wegen des merkwürdigen Namens.“
„Ist dir die Bedeutung vertraut?“
„Nein, habe keine Ahnung.“
„Welche Moscheen hast du besucht?“
„Die in Fulham natürlich, aber auch die in Islington und außerdem …“
Sie zählte die sieben wichtigsten Moscheen Londons auf und beschrieb ihre Besonderheiten. Ronit war eine ausgezeichnete Profilerin gewesen und hatte sich glücklicherweise auf diese Frage vorbereitet. Sie spielte mit dem Imam Hase und Igel, wobei sie wusste, dass sie eine gefährliche Gratwanderung unternahm. Sie durfte nur soviel sagen, dass der zum Hochmut neigende Dr. al-Asraqi ihr zutraute, in London unentdeckt leben zu können, aber nicht soviel, dass sie in Gefahr geriete, in ihm wegen ihrer Kenntnisse der Stadt den Keim von Misstrauen einzupflanzen.
„Hm, nenne mir die wichtigsten Bahnhöfe und erkläre, wo sie liegen.“
Sie zählte die Bahnhöfe absichtlich in einer willkürlichen Reihenfolge auf und beschrieb ihre Lage: „Also, da gibt es Waterloo und Liverpool und Victoria und Paddington und …“
Als der Imam erkannte, dass er mit diesen Fragen die Absicht der rachedurstigen Witwe, nach London zu gehen, nicht erschüttern konnte, fragte er unvermittelt: „Was wäre denn, vorausgesetzt, wir schickten dich in diesen Rachen der Hölle, dein Ziel? Ich meine, an welchem Objekt würdest du die Fackel der Freiheit entzünden?“
Mit dieser Frage hatte er sie überrascht. Verblüfft blieb ihr Mund halb offen stehen, während sie nachdachte. Dr. al-Asraqi, der von Frauen nicht viel hielt, betrachtete mit Zufriedenheit den Ausdruck von Blödigkeit, der sich auf Ronits Gesicht eingestellt hatte, und dachte, typisch Weib sei diese Rasha Orit unfähig, einen Plan zu entwickeln.
Aber inzwischen hatte Ronit ihren Mund geschlossen. Als sie ihn wieder öffnete, sagte sie: „Wir können nicht zehn Millionen Menschen umbringen, das wäre auch nicht im Sinne Allahs, des Allerbarmers und Allbarmherzigen. Aber wir können die Stadt an einem ihrer Schwachpunkte oder an einem ihrer Symbole treffen.“
„Woran denkst du?“
„Schwachpunkte sind die U-Bahn-Stationen im Zentrum, Oxford Circus und Bank zum Beispiel. Aber lieber noch würde ich eins ihrer stolzen Symbole in die Luft sprengen: vor allem das Parlamentsgebäude. Der Ministerpräsident ist ein Tyrann, und sein Innenminister ist sein engster Gefolgsmann und Knecht.“
Nachdem der Imam Ronit mit dem Versprechen entlassen hatte, er werde über ihren Wunsch nachdenken und Gott um Erleuchtung bitten, schickte er nach Raisa Takri, berichtete über das Ansinnen der Witwe und fragte sie nach ihrer Meinung.
„Die Sache“, antwortete die Aufseherin nach kurzem Nachdenken, „gefällt mir nicht. Rasha könnte eine Spionin sein.“
„Wie kommst du denn zu dieser Ansicht, Schwester? Nur die wenigsten Frauen besitzen den Mut, ein so großes Wagnis einzugehen. Da sie Leben schenken, schätzen sie den Wert des Lebens auch höher ein, als Männer das tun. Daher sind Märtyrer meistens Männer.“
„Ihr Zögern, einen Weg zu wählen, war für mich sehr überzeugend, und ich habe sehr viel Sympathie für sie entwickelt“, warf Raisa ein. „Aber irgendwo gab es immer einen kleinen, nagenden Zweifel. Jetzt weiß ich, worauf sich mein Zweifel gründet.“
„So sprich.“
„Ihr Bibliotheksbesuch!“
„Erkläre! Keine Rätsel.“
„Aus heiterem Himmel kommt diese Frau aus Beirut in unsere Bibliothek und bestellt merkwürdige Bücher. Bücher, die mir aufgefallen sind oder die mir auffallen sollten.“
„Du siehst Geister.“
„Der Punkt ist, dass sie nur diesen einen Besuch in der Bibliothek machte.“
„Stattdessen kam sie zu dir in die Koranschule.“
„Das ist wahr.“
„Warum sollte sie, wenn sie nicht aus dem Libanon stammt, sondern zum Beispiel in England lebte, das Risiko auf sich nehmen, hierher zu kommen? Hätte sie nicht einfach dort eine Koranschule aufsuchen und erklären können, sie wolle den wahren Glauben annehmen? Außerdem spricht sie Arabisch wie eine Palästinenserin, ohne die typischen Fehler, die Europäer begehen.“
Raisa zuckte mit den Schultern.
„Was weißt du über ihre Eltern?“
„Fast nichts, sie ist sehr verschwiegen.“
„Rede mit ihr, frage sie aus! Hat sie einen starken Vater oder verachtet sie ihn? Hasst sie jüdische Frauen, die Kinder haben? Ist ihr Vater stark, wird er nicht zulassen, dass sie sich in die Luft sprengt. Aber wenn sie über ihn verbittert ist, weil er zum Beispiel ihre Mutter verstoßen und eine jüngere Frau genommen hat, dann ist sie als Attentäterin gut geeignet. Auch ich werde sie noch einmal befragen. Wenn sie darauf besteht, nach London zu gehen, schicken wir sie in ein Ausbildungslager in der Wüste. Danach werden wir die Wahrheit wissen.“