Читать книгу Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 - Eric Gutzler - Страница 4
Kapitel 19: Myrrha
ОглавлениеLa Repubblica, Rom, 7. Jan. 2101: Der aus Argentinien stammende Kurienkardinal Domenico Cataldo ist gestern vom Amt des Präfekten der Glaubenskongregation, der höchsten Instanz in Fragen der Interpretation und Verteidigung der katholischen Lehre, zurückgetreten. Wie ein Sprecher des Vatikans erklärte, hat Cataldo eingeräumt, als Mädchen geboren worden zu sein und sich im Alter von neunzehn Jahren einer Geschlechtsumwandlung unterzogen zu haben.
Nachdem Solveig, Ronit und Bodishia beschlossen hatten, für die ATA zu arbeiten, einerseits um Medeas Schiff nicht zu gefährden, andererseits um persönliche Ziele zu verwirklichen, stand Medea vor der Frage, ob sie auf die Rückkehr ihrer Gefährtinnen warten oder ihre Mannschaft mit neuem Personal aufstocken sollte. Obwohl ihr vor allem Bodishia zuredete, die Mannschaft zu verstärken, um ihre Geschäftsbeziehungen nicht zu gefährden, um Fahrten über die Ozeane machen zu können, und darauf hinwies, dass sie ihren Ruf mit zuverlässigen Warentransporten von Kontinent zu Kontinent erworben hatte, beschloss sie, niemanden zusätzlich aufzunehmen, und segelte mit ihrer Rumpfmannschaft ins Mittelmeer.
Als Solveig den Schnee kennenlernte und Bodishia eine Wohnung in London suchte, ankerte die Argo vor Alacant, wo Medea einen Auftrag verhandelte und Zugang zur ATA-Niederlassung hatte, die in der Festung Santa Barbara lag. Bouvier hatte ihr einen Code gegeben und angeboten, die sicheren Kommunikationswege der ATA zu benutzen, wenn sie mit Ronit, Bodishia oder Solveig sprechen wollte. Doch Medea verzichtete auf dieses Angebot – aus der Überzeugung heraus, ihre Gespräche würden aufgezeichnet – und vermied es, die Festung zu diesem Zweck aufzusuchen. Auch Besuche in der Altstadt beschränkte sie auf das Notwendigste, weil sie während ihres letzten Aufenthaltes in Alacant, der drei Jahre zurücklag, Opfer eines Überfalls geworden war. Sie war nur deshalb lebend davongekommen, weil die Angreifer sie mit Messern und nicht mit Schusswaffen bedroht hatten. So hatte sie ihr Kontaktgift, das sie stets in kleinen Kapseln unter den Fingernägeln trug, zur Verteidigung einsetzen können.
Bei der letzten Volkszählung, die zwanzig Jahre zurücklag, hatte man sechshunderttausend Einwohner erfasst. Inzwischen näherte sich die Bewohnerzahl nach Behördenschätzungen der Achthunderttausend-Grenze, wovon mindestens fünfzig Prozent Flüchtlinge aus Afrika nördlich des zehnten Breitengrades waren. Das Stadtgebiet vom Flughafen bis zum Bahnhof am Westrand der Altstadt war zum Ghetto dieser Flüchtlinge geworden, in das sich Polizisten auch am Tag nur in Gruppen und mit gepanzerten Fahrzeugen hineinwagten. Die Zustände in dem Ghetto waren schrecklich – Wasser und Strom gab es nur stundenweise, Banden beherrschten die einzelnen Viertel, verlangten Schutzgelder, zwangen Kinder zur Prostitution und führten gegeneinander Krieg –, aber nicht schlimmer als in den anderen großen Flüchtlingslagern entlang des Mittelmeeres. Das alte Stadtzentrum von Alacant zwischen dem Bahnhof und den beiden Festungshügeln war von Weißen, die es sich leisten konnten, weitgehend geräumt worden. Sie waren nach Santa Faz, San Juan und Mutxamel gezogen. Die Avenida Doctor Gadea und General Marva war tagsüber die Meile, auf der Drogen aller Art gehandelt wurden, nachtsüber aber ein Ort, den zu betreten sich kein Spanier traute. Um das Gewaltpotential der Asylanten besser kontrollieren zu können und einzudämmen, hatte die Stadtverwaltung Schwarzafrikaner und Araber als Polizisten eingestellt. Diese Maßnahme erwies sich jedoch bald als Schuss in den Ofen: Einerseits beschafften sich Gangstergruppen Polizeiuniformen und traten dreist auch tagsüber als Polizisten auf, andererseits machten einige der afrikanischen Polizisten gemeinsame Sache mit kriminellen Banden, so dass weder Einheimische noch Fremde wussten, ob ein sich nähernder Polizist ein Vertreter der Staatsgewalt oder ein Verbrecher war.
An dem Tag, an dem Bodishia bei McShane Tee trank, verließ Medea Alacant und segelte nordwärts nach Barcelona. Trotz ihrer drei Millionen Menschen hatte die Stadt die durch das Versiegen der Erdölquellen ausgelöste Wirtschaftskrise weit besser als andere Industrieregionen überstanden. Frühzeitig hatte man neue Wirtschaftszweige angelockt, und so war unter anderem in einem streng bewachten Gebiet in den Bergen westlich der Stadt in Richtung Sant Cugat del Vallès die größte legale Organspenderfarm Europas entstanden. In der Folge hatten sich in Barcelona Transplantationskliniken angesiedelt. Nun benötigt man, wo Organe entnommen und verpflanzt werden, bekanntlich nicht nur mikrochirurgische and nanotechnologische Kenntnisse, sondern auch die entsprechenden Geräte und Instrumente. Dieser Bedarf lockte neue Firmen an und schuf Arbeitsplätze, mit denen die Stadt den Rückgang der Steuereinnahmen und der Arbeitsplätze der alten Industrien weitgehend auffangen konnte. Gleichzeitig führte diese Entwicklung jedoch dazu, dass jede Kritik am System der Organspenderfarmen in der Öffentlichkeit auf Ablehnung stieß und unterbunden wurde, sogar die Proteste der Kirche verhallten ungehört.
Auch das Problem der Überfremdung durch Klimaflüchtlinge hatte die Stadtverwaltung – teils mit Brutalität, teils mit Geschick – erfolgreicher gelöst als beispielsweise Alacant. Die Entstehung von Ghettos hatte man nicht zugelassen, illegale Siedlungen regelmäßig abgerissen und den Zuzug der Afrikaner von ihrer sprachlichen und beruflichen Qualifikation abhängig gemacht. Ohne Nachweis eines Arbeitsplatzes verlor der Antragsteller nach drei Monaten das Bleiberecht, und politische Verfolgung wurde als Asylgrund nicht anerkannt. Mehrmals hatte die Stadt Prozesse wegen Menschenrechtsverletzung vor dem europäischen Gerichtshof verloren und trotzdem nicht klein beigegeben, unter anderem, weil sie sich mit der islamischen Gemeinde arrangiert und damit auch islamischer Radikalisierung vorgebeugt hatte. Der Gemeinde der Moslems, der etwa dreihunderttausend Menschen angehörten, hatte man nämlich den Bau einer viertürmigen Hauptmoschee gestattet und ihre fünfzig Meer hohe Kuppel klaglos in Kauf genommen, weil die Sagrada Familia mit ihren zwölf Fassadentürmen und dem mächtigen Vierungsturm von einhundertsiebzig Metern Höhe das Stadtbild bestimmte und durch ihr Auftreten die moslemische Geste der Rückeroberung der iberischen Halbinsel in die Schranken wies. Die Aussicht von der obersten Plattform des Vierungsturms war überwältigend, und die Besucher standen Schlange wie früher die Besucher des Empire State Hochhauses in Manhattan. Auch Pokahontas und Li Yuchan, die zum ersten Mal den Mittelmeerraum bereisten, ließen sich einen Besuch der Sagrada Familia nicht nehmen und sagten nach einem anschließenden Bummel durch das gotische Viertel, Barcelona sei eine schöne und sichere Stadt. Worauf sie von Medea zu hören bekamen, die Sicherheit sei nur mit der Politik durchgesetzt worden, keine Toleranz für religiöse Forderungen zuzulassen, die die Werte der spanischen Verfassung in Frage stellten.
Da sich ein Geschäft in Marseille zerschlagen hatte, segelte Medea nicht weiter nach Nordosten, sondern nahm Kurs auf die Straße von Bonifacio, die Sardinien von Korsika trennt. Ob sie dort einen kleinen Hafen an der Nordküste Sardiniens oder der Südostküste Korsikas anlief, Porto-Vecchio zum Beispiel, haben die Beobachter der ATA nie herausgefunden. Wegen einer zweitägigen Schlechtwetterlage mit tiefer Wolkendecke konnten die Satelliten nämlich keine Fotos liefern.
Wieder erfasst wurde die Argo an der Küste vor Elba. Auf der Insel traf Medea einen alten Freund, John Campanati, der den Spitznamen Elefantenflüsterer besaß. Campanati war ein Herumtreiber, der zufällig vor achtzehn Jahren nach Elba gekommen und dort hängengeblieben war. Campanati stammte aus Texas, seine Eltern, die sich trennten, als er elf Jahre alt war, hatten mexikanische, finnische, schottische und griechische Vorfahren. Mit dreizehn war er ausgerissen und hatte auf der Straße gelebt. Ohne Schulbildung hatte als er Hilfsarbeiter und Tagelöhner, als Schlachter, Bauarbeiter, Erntehelfer, Drogenkurier, Türsteher und Nachtwächter gearbeitet. Er hatte sich zu Diebstählen verleiten lassen und Menschen betrogen – bei Kartenspielen und Drogengeschäften, aber nie ein Kapitalverbrechen begangen und keine Frau vergewaltigt, nicht einmal im Suff. Aber wenn er sich im Spiegel betrachtete und sich fragte, was er aus seinem Leben gemacht hatte, überkam ihn nur hilflose Wut. Irgendwann war er auf einem Frachter nach Europa gekommen und hatte sich von Rotterdam nach Italien durchgeschlagen. Im Hafen von Livorno hörte er davon, dass auf Elba eine Fernsehserie gedreht werden sollte und dass man Hilfsarbeiter brauche, richtige Kerle, für den Bau der Kulissen, die Haltung der Tiere und alles mögliche, für’s Grobe halt. Da hatte er sein Glück versucht, und sie hatten ihn genommen. Thema der Fernsehserie war Hannibal, aber das war Campanati gleichgültig, den Namen hatte er noch nie gehört, und von der Geschichte wusste er nichts. Aber bei so einem Filmdreh dabei zu sein, in dem Durcheinander, das fand er aufregend – und die Tiere, die Elefanten, Löwen, Leoparden und Kamele, zu beobachten und zu füttern, das fand er interessant. Er begann sich zu wundern, warum ihn die Filmerei so faszinierte, bis er sich plötzlich daran erinnerte, dass er in seiner Kindheit so etwas schon mal gesehen hatte. Ein Filmteam war in seine Heimatstadt gekommen, um Außenaufnahmen für irgendeinen Film zu machen, und er hatte mit seinen Eltern zugesehen. Zwischen seinen Eltern hatte er gestanden, und sein Vater hatte ihm erklärt, was die Leute da machten, welche Geräte sie benutzen und dass der Mann in dem Klappstuhl der Regisseur sei, der alles bestimme. Das war einer der Tage gewesen, an dem sich seine Eltern einmal nicht gestritten hatten.
Zunächst war die Fernsehserie nur für eine Saison geplant, doch dank eines unerwarteten Erfolges und des Verkaufs der Rechte in viele Länder wurde sie mehrmals verlängert. Campanati beobachtete den Tiertrainer und lernte im Lauf der Zeit viel über die vierbeinigen Statisten. Als die Serie nach fünf Jahren abgesetzt wurde, blieben die Tiere, die niemand haben wollte, zurück. Einen Monat später verschwand der Tiertrainer, und niemand traute sich an die vier Elefanten heran, die in einer Scheune angekettet waren. Vier Elefanten, ein Bulle und drei Kühe. Der Bulle Babar war kein freundlicher, niedlicher Elefant wie in dem alten Kinderbuch, sondern immer noch ein wilder Elefant aus Afrika, er war groß und schwer und wurde leicht wütend. Campanati glaubte, die Wut Babars verstehen zu können, und verlegte seinen Schlafplatz in die Scheune – erst außerhalb der Reichweite der angeketteten Elefanten, damit sie sich an ihn gewöhnen konnten, dann überschritt er die Grenze seiner Angst, kritzelte den Satz „Angst ist nur ein Wort“ auf ein Brett, schob seine Schlafmatte näher an die Tiere heran und legte sich dort zum Schlafen. Die Elefanten wären ihn gerne losgeworden und bewarfen ihn mit Heu, aber sie zertrampelten ihn nicht. Als Campanati eine Woche überlebt hatte, baute er den Dickhäutern einen neuen Wassertrog und verlängerte ihre Ketten. Schließlich erkannte ihn Babar nach einiger Zeit als seinen Leitbullen an, und die Weibchen, die auch schwierig waren, folgten ihm. Jetzt ging Campanati täglich mit den Elefanten spazieren, badete mit ihnen in einem See und wurde von den Elefanten als Zeichen ihrer Zärtlichkeit mit dem Rüssel gedrückt, was zu mehreren Rippenbrüchen führte – aber die nahm er in Kauf. Trotzdem wäre die Sache nicht gut ausgegangen, wenn nicht einige Leute des Filmteams sich an ihre Verantwortung erinnert hätten: Sie gründeten eine Stiftung und wandelten das Drehgelände in einen Zoo um, in dem auch für die Raubkatzen und Kamele Platz war. An dem Tag, an dem der Zoo eröffnet wurde, gab John Campanati dem Elefanten Babar und den Kühen das Versprechen, bis zu ihrem Lebensende für sie dazusein. Und was niemand erwartet hätte, der ihn kannte: Der unstete Campanati hielt Wort, blieb bei seinen Elefanten und begann, ein Tagebuch über sie zu schreiben.
Als Medea ihn aufsuchte – ohne besonderen Anlass oder vielleicht auch nur mit der Absicht, die ATA-Beobachter zu verwirren –, fand sie ihn in großer Niedergeschlagenheit vor und magerer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine langen Haare und der Bart waren weiß geworden. Campanati trauerte um Babar, der Elefantenbulle war vor zwei Wochen verendet.
„Was wirst du jetzt tun, Elba verlassen?“
„Nein ich bleibe hier, die Elefanten haben aus mir einen Menschen gemacht, ich muss mich jetzt um die alten Damen kümmern. Sie brauchen einen Bullen. Aber wo sollte ich einen neuen auftreiben?“
Dann begann er mit seiner tiefen Stimme zu erzählen, und Medea hörte ihm zu. Um ihn abzulenken und zu trösten, fragte sie schließlich: „Soll ich dir Erleichterung verschaffen?“
Erstaunt sah er sie an: „Dein Angebot ehrt mich. Aber mit Frauen bin ich nie zurechtgekommen, ich verstehe sie nicht. Ich weiß nicht einmal, ob meine Mutter noch lebt, ich habe sie seit über vierzig Jahren nicht mehr gesehen; wahrscheinlich ist sie schon tot und begraben an einem Ort, den ich nicht kenne.“
„Hilft Sex den Männern nicht, eine Niedergeschlagenheit zu vergessen, sich besser zu fühlen und neuen Mut zu fassen?“
„Ja schon, aber mit dir, obwohl du oder weil du eine schöne Frau bist, die ich seit Jahren kenne, kann ich es nicht tun. Außerdem … was willst du mit so einem alten Kerl wie mir? Ich bin doppelt so alt wie du.“
„Du übertreibst, ich bin schon über dreißig, und du bist noch lange keine sechzig.“
„Sei acht Jahren verbindet uns eine schöne Freundschaft. Wir sollten es dabei belassen. Außerdem habe ich“, er versuchte ein Lächeln, „ ein wenig Angst vor dir. Es heißt, dass du deine Liebhaber umbringst.“
„Nicht alle“, gab sie zur Antwort, „nur die Langweiler.“
In dieser Weise kabbelten sie sich noch eine Zeitlang, bis Campanati sagte: „Auch wenn ich dein Angebot ausschlage, würde ich mich freuen, wenn du mich nicht vergisst und einmal wiederkommst.“
Sie versprach es und fragte: „Was habt ihr mit Babar gemacht? Die Stoßzähne verkauft und sein Fleisch an die Raubkatzen verfüttert?“
„Das habe ich verhindert. Wir haben ihn in den Bergen begraben. Möchtest du das Grab sehen?“
Als Medea nickte, fuhr er fort: „Ich habe sogar einen großen Stein auf seine Grabstätte schieben lassen und ein paar Worte eingeritzt.“
Babars Grab lag auf einer Bergkuppe.
„Von hier aus“, sagte Campanati, „sieht er in Richtung Afrika und kann von seiner Heimat träumen.“
Auf dem Grabstein stand: Babar, * 2066 irgendwo in Afrika, † 2101 auf Elba.
Nach zwei Tagen verließ Medea Elba und segelte nach Sizilien. Sie legte in Palermo an, lieferte eine Warensendung ab und machte mit ihrer Mannschaft einen Ausflug nach Monreale, Segesta und Selinunt. Im griechischen Theater von Segesta bat sie ihre Gefährtinnen, im Steinrund Platz zu nehmen, trat auf die Bühne und begann unvermittelt, mit weittragender Stimme Verse zu rezitieren: „Ach wäre doch Argo, die Schnelle, nie durch die fürchterlichen Felsen hindurchgeflogen bis ins Kolcherland, ach wäre doch die abgeschnittene Pinie nie gefallen in des Pelion Tälern …“
Als sie die verständnislosen und erstaunten Blicke ihrer Gefährtinnen sah, brach sie ab und sagte: „Die Klage stammt aus einem Schauspiel über meine Ahnin, die erste Frau, die den Namen Medea trug. Die dunkelblauen Felsen waren so fürchterlich, weil sie auf dem Meer schwammen, sich bewegten und zusammenschlugen, wenn ein Schiff hindurchfahren wollte. Zeus selber hatte sie geschaffen, um jedes Schiff daran zu hindern, nach Kolchis zu gelangen. So wenigstens hat es Kirke einst dem Odysseus erzählt.“
Die Massai und die Chinesin verstanden nicht, wovon sie sprach. Nur Pokahontas erinnerte sich, dass sie von dieser Geschichte einmal gehört hatte – entweder in der Schule oder zuhause –, und bemerkte, dass es dabei um eine Frau gegangen sei, die ihre Kinder getötet habe, um sich an ihrem treulosen Gatten zu rächen.
„Medea hat ihre Rivalin getötet, aber nicht ihre Kinder“, erhielt sie zur Antwort, „den Kindesmord hat der Dichter Euripides erfunden und hinzugedichtet, um das Drama noch blutiger zu machen.“
Die nächste Station der Reise war Reggio di Calabria, von dort nahm das Schiff Kurs auf Griechenland und segelte über das Ionische Meer nach Kephallinia, machte einen Schwenk nach Süden bis Kythira und wandte sich schließlich nach Athen.
Als Mitarbeiter seiner Abteilung Bouvier die Route Medeas seit der Abfahrt aus Alacant zeigten, schüttelte er den Kopf und sagte: „Merkwürdig! Entweder macht sie sich über uns lustig, oder sie will uns einschläfern. Ich glaube, wir sollten jetzt höllisch aufpassen, dass sie nicht versucht, in einer Nacht- und Nebelaktion unter Einsatz ihrer technischen Mittel zu verschwinden, sich aus dem Staub zu machen. Sie könnte versuchen, sich in der Inselwelt der Kykladen und südlichen Sporaden zu verstecken. Gnade euch Gott, wenn ihr sie verliert!“
In Athen blieb Medea drei Tage, benutzte ihre Wohnung, deren Existenz die ATA kannte und die sie in ihrer Abwesenheit durchsucht hatte; sie nahm Geldtransaktionen zwischen Bankkonten vor, die die ATA auch erfasst hatte, und sprach mit Menschen aus ihrem Bekanntenkreis, deren Daten und Lebensläufe in ihrem Dossier bereits gespeichert waren.
Am Morgen des vierten Tages verließ sie den Hafen von Athen, ohne einen Versuch zu machen, die Abfahrt der Argo durch Tarnung zu verschleiern, und segelte in die Inselwelt der Ägäis. Ihr Ziel war Myrrha, eine seltsam längliche und ziemlich ausgedehnte Insel mit einem erloschenen Vulkan als höchster Erhebung. Allerdings wird man auf Land- und Seekarten vergeblich nach der Insel Myrrha suchen, weil die Welt die Insel heute unter einem anderen Namen kennt. Nur auf venezianischen Seekarten des siebzehnten Jahrhunderts wird man den Namen Myrrha noch entdecken können. Ihren Namen hatte die Insel von den Griechen wegen der Myrrhenbäume erhalten, die in alter Zeit dort in reichlicher Zahl vorhanden waren. Wenn sie zum Kampf zogen, hatten die Griechen für ihre Wunden stets Myrrhe dabei, die überwiegend von der Insel Myrrha stammte. Auch später, als schon lange keine Myrrhenbäume mehr auf der Insel wuchsen – die letzten waren in der Zeit der Kreuzzüge abgeholzt worden –, war der Name immer noch gebräuchlich, bis die Türken die Insel eroberten und ihr einen neuen Namen gaben. Das war im Jahr 1668. Nach der Befreiung der Insel vom Türkenjoch im Jahr 1829 behielten die Griechen den türkischen Namen bei, weil sie den ursprünglichen Namen vergessen hatten.
In der Familie Phasias dagegen wurde die Insel immer noch mit dem Namen Myrrha bezeichnet. Für Medea und ihre Vorfahren hatte Myrrha nämlich eine besondere Bedeutung, die darin bestand, dass die erste Medea, die Tochter der Schwester der Kirke und des Königs Aietes, der über das Land Kolchis am Schwarzen Meer herrschte, im hohen Alter auf der Insel gestorben war und hier auch begraben lag. Die Nachfahren bewahrten die Erinnerung an das Grab und kamen immer wieder auf der Insel zusammen – in Friedenszeiten alle fünf Jahre, in schlechten Zeiten und Kriegswirren auch in größeren Abständen, aber die Tradition wurde bewahrt. Später, als Feinde die Nachkommen des Königs Aietes aus Kolchis vertrieben, siedelte sich sogar ein Zweig der Familie auf der Insel an, und es wurde Brauch, dass die direkten weiblichen Nachkommen Medeas ein Jahr das Grab der Ahnin hüten mussten, bevor sie heiraten durften. Eine Zeitlang nahm das Grab das Ansehen einer Kultstätte an und genoss große Verehrung – Herodot hat darüber berichtet. Doch nach der Christianisierung wurde die Grabwache als heidnische Ketzerei verurteilt und konnte nur noch heimlich durchgeführt werden. Aus diesem Grund baute die Familie Wohnhäuser und Stallungen um den Grabhügel herum und verbarg den Eingang zu Medeas Grab vor den Augen der Öffentlichkeit. In der Zeit der Kreuzzüge kam der Familienbrauch der Grabwache zum Erliegen, und bei einem schweren Erdbeben im siebzehnten Jahrhundert wurden das Grab und die umgebenden Wohnhäuser von herabstürzenden Gesteinsbrocken eines nahen Berges verschüttet. Die Erinnerung an das Grab wurde aber in der Familie Phasias aufrechterhalten und von Generation zu Generation weitergegeben, auch als niemand mehr von ihnen auf Myrrha lebte. Erst im neunzehnten Jahrhundert kehrten Nachkommen auf die Insel zurück, um das verschüttete Grab ausfindig zu machen, hatten jedoch mit ihrer Suche keinen Erfolg.
Wegen ihrer Schönheiten wurde die Insel in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Urlaubsziel sonnenhungriger Mitteleuropäer entdeckt. Myrrha besaß eine lavaschwarze Steilküste, die von elfenbeinschimmernden Sandstränden unterbrochen wurde, die in Olivenhaine übergingen, zwischen denen vereinzelt Pinien und Lorbeerbäume standen. Die Spitze des Vulkans trug am Ende des Winters bis in den März oft eine weiße Schneehaube. Darüber lagerte eine rosig angehauchte Wolke, die zu beiden Seiten des Berges wie ein Strich in der Luft stand, und die schneeweißen, fast fensterlosen Häuserwürfel der Fischerdörfer kontrastierten aufs Schönste zur tiefblauen See. Anziehungspunkte für Reisende waren außerdem ein griechisches Theater, eine Festung aus der Kreuzfahrerzeit, ein Lustschloss aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein Park, der zu Ehren Lord Byrons angelegt worden war, und die Schätze eines Heimatmuseums.
Das griechische Theater stammte aus dem dritten Jahrhundert vor Christus und war in den Hang des Vulkans geschlagen. Das Halbrund der Sitze öffnete sich Richtung Meer und gab den Blick auf eine kleine unbewohnte Nachbarinsel frei, deren versteckte Sandbuchten gern von Liebespaaren aufgesucht wurden. Da das Theater glücklicherweise nie von den Römern umgebaut oder erweitert worden war, verstellte keine Bühnenwand die grandiose Kulisse.
Die Kreuzritterfestung hatte Vorgängerbauten gehabt, vermutlich hatte ursprünglich an dieser Stelle sogar ein griechischer Tempel gestanden, denn in den Mauern waren Spolien zu erkennen, Fragmente griechischer Säulen und behauene Steinblöcke. Die Türken hatten die Festung nach der Eroberung der Insel zunächst ausgebaut, später aber im allgemeinen Niedergang des osmanischen Reiches vernachlässigt und zur Ruine verfallen lassen. Das Lustschloss wurde von einem reichen holländischen Diamantenhändler mit Namen Gerard de Ostade in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Alterssitz erbaut. Es war im neugotischen Stil begonnen worden, dann aber hatte ein zweiter Architekt romanische und maurische Elemente hinzugefügt, wodurch nach Meinung der Kritiker ein Baumonstrum entstanden war, das aber von jedem unbefangenen Betrachter als phantastisches Märchenschloss bewundert wurde. Besonders, wenn ein Besucher den Vulkan bestieg und dann vom Berghang aus das entfernt liegende Lustschloss betrachtete, wurden die Sinne zu Phantasien und Träumereien angeregt. Der nach Lord Byron benannte Park grenzte an das Schloss. Er war etwa zur gleichen Zeit angelegt worden und wäre ohne großzügige Spenden des Holländers nicht zustande gekommen. Wie allgemein bekannt ist, hatte sich der englische Dichter dem griechischen Freiheitskampf gegen die Türken angeschlossen und aus eigenen Mitteln ein Regiment aufgestellt. Die Fama will es, dass Byron kurz vor seinem Tod an rheumatischem Fieber in Mesolongion geäußert haben soll, er wolle das schöne Myrrha befreien.
Die größten Attraktionen der Insel waren jedoch im Heimatmuseum versammelt: Taucher hatten in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg im Meer die überlebensgroße Bronzestatue einer schreitenden Frau geborgen. Da sie in der linken Hand einen Köcher mit Pfeilen hielt und die rechten Hand den Griff eines Bogens umschloss, wurde die Statue als Abbild der Artemis erkannt, der Göttin der Jagd und wilden Tiere. Aus der Gestaltung des Körpers und der Bearbeitung der Bronze zogen Kunsthistoriker den Schluss, die Statue müsse im fünften Jahrhundert entstanden sein, also zu der Zeit, als Myron seine Werke schuf. Aber ein derartiger Nachweis konnte nie erbracht werden. Da der Kopf der Göttin leicht zur Seite geneigt war, äußerten einige Experten die Ansicht, die Figur könne Teil einer Gruppe gewesen sein – Artemis und Kallisto oder Artemis und Aktaion zum Beispiel –, und veranlassten eine gründliche Durchsuchung des Meeresgrundes an der Fundstelle, die jedoch erfolglos blieb. Nach der Bergung war die Bronzestatue zur Reinigung und Restaurierung ins Nationalmuseum nach Athen gebracht worden und wurde anschließend dort auch ausgestellt – trotz der Proteste der Bewohner Myrrhas. Erst vierzig Jahre später kam es zu einer Rückführung der Artemis nach Myrrha, nachdem man bei Bauarbeiten unterhalb der Festung auf Reste der Via sacra gestoßen war und eine Marmorfigur entdeckt hatte, einen Kuros mit mandelförmigen Augen und geperlten Locken. Die Gestalt, der nur ein Bein unterhalb des Knies fehlte, hatte eine Größe von über zwei Metern und war so gut erhalten, dass man die Entstehung auf die Zeit um das Jahr sechshundert datieren konnte. Nach dieser Entdeckung bildete sich eine Gruppe von Förderern eines neuen Museums für Myrrha, der nach heftigen Auseinandersetzungen und Verhandlungen schließlich die Rückführung der Artemis gelang.
Als die Einheimischen mit dem Umbau ihrer Häuser zu Herbergen und bald danach mit dem Neubau von Hotels begannen, fasste der Phasias-Familienrat den Beschluss, in der Gegend, in der sie das verschüttete Grab Medeas vermuteten, zu seinem Schutz bebaute und unbebaute Grundstücke zu kaufen. Wieder siedelte sich ein Zweig der Familie auf der Insel fest an, renovierte die gekauften Häuser, vermietete einen Teil während der Saison an Urlauber und Gastwirte, bebaute die freien Grundstücke und verband die selbst genutzten Wohnungen mit unterirdischen Gängen. Wegen der labyrinthischen Anordnung der Häuser, die inzwischen ein ganzes Stadtviertel bedeckten, war es für einen Beobachter unmöglich festzustellen, ob eine Person, die eines dieser Häuser betrat, dort blieb oder sich gerade anschickte, an einer anderen Stelle das Viertel zu verlassen.
Medea hatte die Insel aufgesucht, um den Familienrat über die Drohung der ATA zu unterrichten und um eine Zustimmung über Art und Umfang der Risiken zu erhalten, die die Familie, die einen Teil des Vermögens in die Argo gesteckt hatte, bereit war einzugehen. Außerdem fühlte sie sich verpflichtet, eine Prognose über den Rückgang der Kapitalrendite abzugeben. Aufträge und Lieferungen im Mittelmeer brachten weniger ein als Warenlieferungen zwischen Kontinenten. Nach ihrer Ankunft stellte sich heraus, dass wichtige Ratsmitglieder nicht auf der Insel weilten und zurückgerufen werden mussten. So hatte sie Zeit, ihren Gefährtinnen die schönsten Plätze Myrrhas zu zeigen, ohne zu offenbaren, dass Myrrha ihr geheimer Ort war, ihr Nest, von dem niemand etwas wissen durfte. Als bei einem der Ausflüge die Frauen zum griechischen Theater gewandert waren und den Ausblick genossen, wandte sich Pokahontas an Medea: „Auf Sizilien erzähltest du uns, der Dichter Euripides habe den Kindermord erfunden. Warum tat er das?“
„Er war von den Korinthern bestochen worden.“
„Was hatten die damit zu tun?“
„Medeas Geschichte ist die alte und immer neue Geschichte vom naiven Mädchen, das sich in den erstbesten Fremden verliebt, sich an ihn hängt und alles für ihn aufgibt, ihre Erziehung vergisst, Moral und Familienbande in den Wind schlägt, für den Mann betrügt und sogar tötet. Und dabei war der Fremde im Grunde nichts weiter als ein Dieb …“
„Was wollte er stehlen?“ fragte die Massai, während sie dem Flug eines Raubvogels folgte, der nach langem Gleiten plötzlich zur Erde schoss, um eine Beute zu greifen.
„Ein Fell, das Fell eines Widders.“
„Ein Fell? Wegen eines Fells hat deine Ahnin Menschen getötet?“
„Das Fell war ein wertvolles Geschenk, es war vergoldet … Um Jason (das war der Name des Diebes) Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss man allerdings wissen, dass sein Onkel ihm den Auftrag gegeben hatte, weil er ihn ins Verderben stürzen wollte.“
„Diese alte Geschichte scheint sehr verworren zu sein“, versetzte Li Yuchan.
Medea nickte.
„Und wie kommen die Korinther ins Spiel?“ fragte Pokahontas.
„Aus Dankbarkeit hat Jason Medea geheiratet, aber später, als sie ihm zwei Kinder geboren hatte, wurde er ihrer überdrüssig und bekam Lust auf frisches Mädchenfleisch. Er war inzwischen nach Korinth gekommen, wo Kreon König war und eine heiratsfähige Tochter hatte. Als Jason Medea eröffnete, er verstoße sie und werde Glauke, die Tochter des Königs, zur Frau nehmen, rächte sie sich und tötete Glauke und ihren Vater.“
„Wie hat sie das angestellt?“ fragte Li Yuchan mit Neugier.
„Medea war zauberkundig und sandte ihrer Rivalin ein Brautkleid, das sie mit Gift getränkt hatte. Als Glauke das herrliche Festgewand überstreifte, ging es in Flammen auf. Glauke und ihr Vater, der ihr zur Hilfe eilte, verbrannten.“
„Guter Trick“, sagte Schwester Mond anerkennend.
„Hast du kein Mitleid?“ fragte Pokahontas verwundert.
„Fremde, die ins Dorf kommen“, antwortete Li Yuchan, „sind des Teufels. Ich kann ein Lied davon singen.“
Inzwischen hatten die Frauen das Theater verlassen und stiegen weiter den Berg empor. Als sie nach mehreren Stunden die Vegetationsgrenze erreicht hatten, legten sie eine Rast ein, und Medea nahm den Faden ihrer Geschichte wieder auf: „Nach dem Tod des Königs und seiner Tochter trachtete das empörte Volk von Korinth Medea nach dem Leben. Um sie zu retten, schickte der Gott Hermes einen von einem Drachen gezogenen Wagen, mit dem sie floh. Doch der weitere Verlauf ihres Lebens verlief fast noch komplizierter als die Vorgeschichte.“
„Erst ein goldenes Fell, jetzt ein Drache, das klingt alles nach einem Märchen“, bemerkte Sanabu.
„Soviel ich weiß“, sagte Pokahontas, um Medea zu unterstützen, „ist diese Geschichte sehr alt und ereignete sich lange vor dem Trojanischen Krieg. Wer vermag da noch, Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten?“
„Gehen wir weiter, oder wollt ihr umkehren?“
„Hinauf!“ versetzte die Massai, „einem Vulkan muss man die Ehre erweisen, ihn zu besteigen.“
„Früher“, sagte Medea und wandte den Blick nach oben, „soll der Krater zu dieser Jahreszeit schneebedeckt gewesen sein. Aber daran erinnern sich nur die alten Leute. Seit fünfzig Jahren ist hier kein Schnee mehr gefallen, ich habe die weiße Haube nie gesehen.“
Als die Argo Tage später Kurs auf Ashdod genommen hatte, meldete sich unerwartet Solveig bei Medea und sagte, sie benötige ihren Rat und Analysen des Avatars.
„Ich habe das Camp gefunden. Es liegt in Tasmanien, ich muss dorthin und brauche Li zur Begleitung, vielleicht auch Pokahontas.“