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In Ländern, in denen anders zu denken als die Machthaber gleichbedeutend ist mit Hochverrat, wird der politische Führer, der dieses Verrates überführt ist, nicht unbedingt sein Ansehen beim Volk verlieren. Und wenn das Volk ihn verehrt und geliebt hat, verleiht vielleicht gerade seine Hinrichtung seinem Leben eine Würde, die es vordem nicht besaß. In solchen Fällen sieht sich die tyrannische Regierung, die ihn verurteilte, nicht nur mit der Erinnerung an einen fehlbaren Menschen, sondern mit einem Mythos konfrontiert, mächtiger als der wirkliche Mensch es je hätte sein können – und unverletzbar. Daher ist ein solcher Prozess keine Formalität, sondern eine Vorbereitungsphase und Vorsichtsmaßnahme. Zuerst muss der Mensch entehrt und zerstört werden, und dann kann man ihn gefahrlos als Verbrecher behandeln. Manchmal zwingt man ihn, die Verbrechen, deren er beschuldigt ist, kläglich einzugestehen; wenn er aber nicht Mitglied der Partei war, die ihn jetzt zu vernichten sucht, so finden solche Geständnisse nicht immer Glauben beim Volk; und wenn er gar Führer einer noch nicht aufgelösten Oppositionspartei ist, tut die Regierung gut daran, den Schein eines korrekten Prozesses zu wahren, Zeugen beizubringen, Beweise zu beschaffen und ihm zu gestatten, sich zu verteidigen.

So war es mit Nikolai Petkow in Bulgarien, mit Julius Maniu und Jon Mihalatsche in Rumänien und mit vielen anderen Liberalen in Osteuropa. Petkow wurde gehenkt. Maniu und Mihalatsche wurden zu lebenslänglicher Einzelhaft verurteilt. Als der Prozess gegen Jordan Deltschev anfing, gab es bereits ein Schema für derartige Verfahren.

Die Anklage gegen ihn lautete auf ›Verrat und Vorbereitung einer terroristischen Verschwörung zur Ermordung des Staatsoberhauptes‹. Der Prozess begann am 11. Juni vor dem Volksgericht. In der Anklageschrift wurde er als ›Vorsitzender der agrarsozialistischen Partei und früheres Mitglied der Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit‹ bezeichnet. In Wirklichkeit war er Premier- und Außenminister dieser Regierung gewesen und war immer noch Führer der letzten nennenswerten Opposition gegen die Regierung der Volkspartei.

Ein amerikanischer Zeitungsverleger, dem ich in London mehrmals begegnet war, hatte mich aufgefordert, dem Prozess beizuwohnen und eine Artikelserie darüber zu schreiben. Ich war von diesem Angebot überrascht, denn ich hatte niemals etwas in dieser Art geschrieben und dachte zuerst an eine Namensverwechslung. Es war aber kein Irrtum gewesen, und ich hatte den Auftrag angenommen.

Ich glaube, die meisten Schriftsteller, die noch nie für Zeitungen gearbeitet haben, gefallen sich dann und wann in dem Gedanken, sie wären glänzende Reporter, wenn sich nur die Gelegenheit böte. Manche haben damit auch recht. Bei mir lag es anders. Mit einer Feierlichkeit, die mir nachträglich rührend erscheint, suchte ich mir einen alten Times-Artikel über Deltschev heraus, kaufte einige einschlägige Bücher und speiste mit einem Volkswirtschaftler, der einmal vor dem Königlichen Institut für Internationale Angelegenheiten einen Vortrag gehalten hatte. Ich fühlte mich verpflichtet, über das Land, das ich besuchen wollte, sein Volk und seine Probleme etwas zu erfahren.

Sonderbarerweise erfuhr ich tatsächlich etwas. Bei diesem Mittagessen hörte ich zum ersten Mal von der ›Bruderschaft des Offizierskorps‹. Mein Bekannter tat sie als Witz ab.

Ursprünglich war diese Bruderschaft anscheinend eine Wohlfahrtseinrichtung gewesen für die Familien der Armeeoffiziere, die nach dem Putsch in Mazedonien 1925 erschossen worden waren; der Bund sollte die Familien schützen und sie finanziell unterstützen. Die Gründer waren Kameraden der Opfer und hatten mit ihrer Sache sympathisiert; aber sie waren keine reichen Leute, und bald kamen einige von ihnen zu der Überzeugung, der ehrenhafteste Schutz und die beste Hilfe für die Hinterbliebenen sei, jene zu ermorden, die deren Ernährer zum Tode verurteilt hatten.

Anfang der dreißiger Jahre war die Bruderschaft zu einer Geheimgesellschaft reaktionärer Extremisten geworden und hatte mindestens achtundzwanzig politische Morde verübt. Sie befasste sich nun nicht mehr mit einfachen Racheakten, sondern wollte die potenziellen Urheber künftiger Ungerechtigkeiten, die später zu rächen wären, vorsorglich umbringen. Und da nach dem Dogma der Bruderschaft jeder Politiker oder höhere Beamte mit Neigung zu liberalen Ideen als potenzieller Urheber künftiger Ungerechtigkeiten galt, wurde die Bruderschaft zu einem Problem für alle Parteien.

Alle Versuche der verschiedenen Vorkriegsregierungen, die Mörder vor Gericht zu bringen und die Organisation zu zerschlagen, waren halbherzig und hatten nur zum Teil Erfolg. Es war freilich leicht, die Bruderschaft zu missbilligen, aber es gehörte Mut dazu, etwas gegen sie zu unternehmen. Die Bruderschaft überlebte und behielt auch viel von ihrem traditionell militärischen Charakter bei, obwohl sie von ihrem Prinzip, nur Offiziere als Mitglieder aufzunehmen, abgegangen war, und sich bald Psychopathen aus allen möglichen Bevölkerungsschichten ihr anschlossen. ›Revolver und Dolch‹, das Symbol anderer terroristischer Organisationen des Balkans, wurde von der Bruderschaft in ›Gewehr und Bajonett‹ umgeändert, und während der Besetzung hatte sie aus Snobismus lieber mit der Wehrmacht zusammengearbeitet als mit der Gestapo.

Jedoch auch dieser Beweis von Unterscheidungsvermögen hatte die Provisorische Regierung, die nach der Befreiung eingesetzt wurde, nicht vom Versuch – dem ersten ernsthaften – abgehalten, die Bruderschaft ein für alle Mal auszurotten. Sie bediente sich dabei aller Vollmachten, die ihr die Notstandsgesetze gaben. Schon auf der Mitgliedschaft bei dieser Organisation stand der Tod, und monatelang fanden Verhaftungen, Schnellverfahren und Hinrichtungen statt. Die Säuberungsaktion war so erfolgreich gewesen, dass niemand daran zweifelte, dass die Bruderschaft von einem ihrer Mitglieder verraten worden war. Aber daran dachte man bald nicht mehr. Als während der Wahlen keiner der üblichen Bruderschaftsmorde vorkam, nahm man erleichtert an, dass die Organisation nun endlich tot und begraben sei. Und jetzt wurde diese Leiche ausgegraben und – o Wunder! – für lebendig erklärt. Denn unter anderem warf man Deltschev vor, dass er, der es sich als Führer der Provisorischen Regierung zur Aufgabe gemacht hatte, die Bruderschaft auszurotten, in Wirklichkeit eines ihrer Mitglieder und das Haupt einer Verschwörergruppe gewesen sei, die den Regierungschef der Volkspartei ermorden wollte.

Ich verließ London Ende Mai und kam einen Tag vor Beginn des Prozesses in der Landeshauptstadt an.

Der Fall Deltschev

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