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Ich will kurz aufzeichnen, was ich aus den Akten erfuhr. Bis zum Frühjahr 1940, als sein Land ebenso wie zwei andere mit den Achsenmächten paktiert hatte, verfügte Jordan Deltschev über keine breite Gefolgschaft im Volk, obwohl er im Rate der agrarsozialistischen Partei eine bedeutende Rolle spielte. Ursprünglich Rechtsanwalt von Beruf, war er Abgeordneter eines Industriegebietes gewesen und dann, nachdem er der Monarchie und später der Republik auf verschiedenen untergeordneten Posten gedient hatte, Postminister geworden.

Damals galt er in unterrichteten Kreisen als ein sehr fähiger Mann, der entweder ehrlich oder noch nicht ernstlich in Versuchung geführt worden war. Begreiflicherweise traute man ihm damals noch nicht zu, dass er das Zeug zu einem großen Volksführer hätte. Sein besonderes Talent lag im Organisatorischen; und obwohl er als Redner nicht unbegabt war, schien seine sachliche Argumentation, die in der Debatte ausgezeichnet gewirkt hatte, durchaus nicht geeignet, die Herzen einer bäuerlichen Zuhörerschaft zu erobern. Dennoch geschah dies eines Tages; doch das ergab sich nur durch eine besondere Verkettung von Umständen. Deltschev selbst hatte herzlich wenig damit zu tun.

Er war einer der wenigen Abgeordneten und der einzige Minister, der sich energisch gegen das Bündnis mit der Achse ausgesprochen hatte; und während des Sommers 1940 hatte man ihn auf Drängen der deutschen Behörden interniert. Gegen Ende des Jahres wurde er freigelassen, blieb aber unter Polizeiaufsicht. Zwei Jahre vergingen, ehe diese Aufsicht so weit gelockert wurde, dass er sich der politischen Untergrundbewegung anschließen konnte, mit der sein Name in Zukunft so eng verknüpft werden sollte.

Vor diesem Zeitpunkt bestand der Widerstand gegen die deutschfreundliche Regierung hauptsächlich aus Sabotageakten gegen Werke, die Kriegsmaterial herstellten, und Propaganda gegen die Rekrutierung von Soldaten für die russische Front. Die Gruppen, die unter der Leitung kämpferischer Volksparteileute diese Sabotage durchführten, bestanden zu einem großen Teil aus Agrarsozialisten. Ihre Aktionen waren manchmal spektakulär und immer gefährlich, fügten jedoch dem Feind nur wenig Schaden zu, und die Wirkung im Volk war gering. Nach Deltschevs Meinung musste die Untergrundbewegung eine ganz andere Politik betreiben; sie sollte die Entscheidungen des Kriegs denen überlassen, die wirkungsvoll kämpfen konnten, und sich auf die Planung der Zukunft des Landes konzentrieren, für die Zeit, die unmittelbar auf den unvermeidlichen deutschen Zusammenbruch folgen würde. Er sah ein, dass das Schicksal des Landes, was die Siegermächte anbetraf, sehr davon abhängen würde, wie schnell es eine Provisorische Regierung zu stellen vermochte, die so wenig kompromittiert war, dass sie ohne Unterwürfigkeit verhandeln konnte, und zugleich stark genug, um einen Bürgerkrieg zu verhindern.

So entstand das Komitee der Nationalen Einheit; es war nicht von Deltschev allein geschaffen worden, aber ihm verdankte es seinen Erfolg. Die Untergrundbewegungen eines Staates bestehen meistens aus seinen opfermutigen, romantischen und geistig unausgeglichenen Männern und Frauen, die mehr Mut und Hingabefähigkeit als Organisationstalent und politische Geschicklichkeit besitzen. Da Deltschev der hellste Kopf des Komitees und zudem das einzige Mitglied mit praktischer Erfahrung in Regierungsgeschäften war, wurde er – obschon niemals offiziell dazu ernannt – faktisch Präsident, Generalsekretär und schließlich Wortführer dieses Komitees. Hunderttausende, die noch nie etwas vom Postminister Deltschev gehört hatten, lernten jetzt den Patrioten Deltschev kennen und verehren. Und als die Zeit kam, da er zu ihnen sprechen musste, waren seine feste Stimme und seine sachliche Art nach dem hysterischen Gefasel der Kriegsjahre Ausdruck von gesundem Menschenverstand und Güte. Das Volk fühlte, dass aus Deltschevs Mund die Wahrheit sprach.

Hätte sich die vom Komitee im Frühjahr 1944 gebildete Provisorische Regierung der Nationalen Einheit nur für einen raschen Friedensschluss eingesetzt, so hätte sie damit allein ihre Daseinsberechtigung schon bewiesen; denn dadurch bewahrte sie alle nördlichen Grenzprovinzen bis auf eine vor der Zerstörung und rettete die kleine Armee für polizeiliche Aufgaben. Sie tat aber viel mehr. Sie konnte die bedingte, aber ausreichende Anerkennung durch die Vereinten Nationen sichern und brachte es in diesen Tagen übereilter Verhandlungen und wechselnder Herrschaft fertig, die Diskussionen über territoriale Ansprüche und über Demontagen von Industrieanlagen zu verwirren und hinauszuzögern. Sie erreichte bei größter Schonung der nationalen Wirtschaft und des nationalen Stolzes, dass die meisten lebenswichtigen Entscheidungen über die Zukunft des Landes nicht im Siegestaumel, sondern in der freundlichen Atmosphäre langwieriger Friedenskonferenzen getroffen wurden. Das Verdienst an diesen Erfolgen wurde Deltschev zugeschrieben. Man fing an, ihn scherzhaft und liebevoll ›Väterchen Deltschev‹ zu nennen.

Ohne diesen Kosenamen hätte es vielleicht keine Volkspartei-Regierung und keinen Deltschev-Prozess gegeben.

Als die Provisorische Regierung zur Macht kam, sagten vernachlässigte Mitglieder aus Deltschevs eigener Partei, die Motive seiner Handlungen seien schon immer die eines gerissenen, ehrgeizigen Politikers gewesen; wenn man ihn auch nicht dafür tadeln könne, dass er sich als Mann von Bedeutung feiern lasse, so dürfe er doch seinen alten Freunden gegenüber nicht tun, als sei er es auch. Nun, sie sollten bald wünschen, sie hätten recht gehabt.

Ein Hauptpunkt des ursprünglichen Programms des Komitees war die Forderung nach freien Wahlen, und zwar so bald als möglich. Dieser Paragraph und der scheinheilige Wortlaut waren, wie jeder wusste, Zugeständnisse an die anglo-amerikanische Mentalität, die nichts schaden konnten. Zwar waren die Männer des Komitees keine Zyniker, die nichts von Wahlen gehalten hätten, jedoch fanden sie solche Worte wirklichkeitsfremd, solange sie gezwungen waren, Pläne für einen schwierigen Notstand zu machen, von dem sie nichts Genaues wussten und das Schlimmste erwarten mussten. Eine künstlich geschürte Notstandsstimmung wird man jedoch nicht so leicht wieder los, und so blieb der Wunsch nach Wahlen hartnäckig bestehen. Als daher die Mitglieder der Volkspartei in der Provisorischen Regierung anfingen, auf die Einlösung des Versprechens zu drängen, legte man ihr das zu Recht als Forderung nach mehr Macht aus, das heißt: nach einer größeren Zahl wichtiger Posten. Nur bei Deltschev lagen die Dinge offenbar anders.

Die Volkspartei war unterdessen stark und einflussreich geworden. Die Beteiligung der Agrarsozialisten an der Bildung und der Arbeit des Komitees verschaffte diesem breite öffentliche Unterstützung, zugleich wurde es aber auch zu einer wichtigen Rekrutierungsstelle der Volkspartei. Diese unliebsame Nebenerscheinung war längst Gegenstand erbitterter Wortwechsel und Klagen innerhalb der Regierung gewesen, und bei einer solchen Gelegenheit war Petra Vukaschin, der Führer der Volksparteileute, zu weit gegangen. Er hatte gesagt: ›Wer dumm genug ist, seiner Frau einen hübschen jungen Mann von schlechtem Ruf vorzustellen, darf sich nicht beklagen, wenn er die beiden zusammen im Bett findet.‹

Als Deltschev zum offensichtlichen Missfallen Vukaschins und der Volkspartei die Wahlen ernst nahm und dafür zu sprechen begann, nahmen seine rührend naiven Kollegen zuerst voll Freude an, ›Väterchen Deltschev‹ wolle bloß den Gegner dazu bringen, die Karten auf den Tisch zu legen. Sie wussten, und zwar schon seit einiger Zeit, dass die Provisorische Regierung von den Westmächten gebilligt und unterstützt wurde, die nicht auf die versprochenen Wahlen drangen, solange das Land unter sowjetischer Besetzung stand. Sie hatten Beweise, dass die Russen, beeindruckt von Deltschevs Tüchtigkeit, sich damit zufriedengeben würden, alles so zu lassen, wie es war. Manche Mitglieder fragten sich sogar, ob man nicht das Wort ›provisorisch‹ aus der Bezeichnung für eine Regierung mit so hoher Lebenserwartung streichen könne. Sie ahnten nicht, dass für ihren Führer Deltschev die Tage dieser Regierung schon gezählt waren.

Später versuchte man wiederholt, für Deltschevs damalige Handlung eine vernünftigere Erklärung zu finden als die, mit der sich die primitiveren Parteigenossen zufriedengaben: dass er ein von Gott inspirierter Patriot war, der sich selbst geopfert habe. Da aber fast jede andere Deutung davon ausging, dass Deltschev durch und durch korrupt war, vermochte keine zu überzeugen.

Die wesentlichen Tatsachen waren sehr einfach.

Nach der Sitzung, bei der die versprochenen Wahlen debattiert wurden, schien Deltschev befangen und nicht geneigt, die Angelegenheit in Gesprächen unter vier Augen aufzugreifen. Immerhin sagte er zu einem, der nicht lockerließ: ›Wenn wir reine Hände haben, kann uns niemand an den Pranger stellen.‹ Der Betreffende hielt das für einen Hinweis auf die starke Position der Regierung und die Sinnlosigkeit des Manövers der Volkspartei.

Das war an einem Donnerstag. Die nächsten Tage verbrachte Deltschev mit einer schweren Erkältung im Bett. Am folgenden Dienstag sollte er im Rahmen einer damals laufenden Kampagne im Rundfunk über den dringenden Bedarf von Viehfuttervorräten für den Winter sprechen.

Er kam direkt aus dem Bett ins Funkhaus und sah, wie der Intendant der Station sagte, aus ›wie ein Mann, der sich mit dem Leibhaftigen herumgeschlagen hat‹. Er sprach nur kurz über die Wintervorräte, zog dann nach kurzem Zögern ein handgeschriebenes Manuskript aus der Tasche und begann, eine Erklärung vorzulesen.

Fünf Minuten später wusste das Volk, dass nach Väterchen Deltschevs wohlerwogener Entscheidung nunmehr für die Regierung die Stunde gekommen sei, das feierliche Versprechen des Komitees auf Abhaltung freier Wahlen einzulösen.

Zu Beginn dieser Erklärung hatte er betont, er spreche nur für sich selbst, nicht für die Provisorische Regierung der Nationalen Einheit. Diese Feststellung wurde sowohl als Beweis seiner schamlosen Verachtung für die Zuhörerschaft als auch als Beweis seiner unbedingten Ehrlichkeit gewertet. Die einen behaupteten, nur ein Narr würde glauben, Deltschev könne seine private Meinung über ein solches Problem tatsächlich von der Meinung einer von ihm geführten Regierung trennen; die andern führten dagegen ins Feld, dass Deltschev bei seiner unleugbaren Integrität gar keine andere Möglichkeit gehabt habe als diese öffentliche Lossagung, wenn er das Volk nicht betrügen wollte. Da man fast jeden Satz seiner Rede so oder so auslegen konnte, buchte keine Seite Punkte. Deltschev selbst war vom Funkhaus direkt nach Hause zurückgekehrt und hatte sich wieder zu Bett gelegt; er blieb in seinem Krankenzimmer, schweigsam und unzugänglich, und ließ nur durch seinen Sekretär erklären, die Rundfunkansprache ›bedürfe keiner weiteren Ausführungen‹. Doch nach zwei Tagen war klar, dass der Sturm über die Rede, der unter den Politikern mit steigender Wut tobte, das Volk schon nicht mehr interessierte. In seinen Augen war jetzt die Provisorische Regierung unwiderruflich verpflichtet, die Wahlen in allernächster Zukunft abzuhalten, und ihm war klar, dass jeder, der Deltschev angriff, nur versuchte, diese Tatsache zu leugnen. Dennoch war es die Volkspartei, die am meisten von der Lage profitierte.

Die meisten der unglücklichen Agrarsozialisten waren klug genug einzusehen, dass sie nur mit Deltschev auf ihrem Schild siegen konnten, gleichviel was sie unter sich von ihm hielten; sie wurden aber behindert durch eine starke, rachsüchtige Minorität, die jetzt nur eines im Sinn hatte, nämlich ›Väterchen Deltschev‹ in aller Öffentlichkeit zu schmähen und zu bekämpfen. Die Volkspartei hingegen verfiel nicht in diesen Fehler, nützte ihn aber voll und ganz aus. Indem sie Deltschev gönnerhaft, aber achtungsvoll als eine Art älteren, erfahrenen und hochgeachteten Staatsmann behandelte (tatsächlich war er damals erst sechzig), gelang es ihr, den Eindruck zu erwecken, er sei hoffnungslos senil, womit sie auch seine weiterhin bestehende Mitgliedschaft bei den Agrarsozialisten entschuldigte. Durch die Verschiebung der Wahlen bis Anfang Sommer gewann die Volkspartei außerdem genügend Zeit, einen coup d’état vorzubereiten und ein paar Stunden vor der Veröffentlichung der Wahlergebnisse durchzuführen.

Es hätte ihn kaum gebraucht; dank Deltschev kam die Partei beinahe legal an die Macht.

Deltschev verhielt sich diesen Ereignissen gegenüber zuerst merkwürdig passiv. Zwar protestierte er gegen den coup d’état, aber nur formell, wie eine Pflichtübung und nicht aus innerer Überzeugung. Und wenn er im Ministerrat die neue Regierung angriff, erinnerten seine Attacken an die wohleinstudierten Paraden des Fechtmeisters, der einen neuen Schüler trainiert. Lange Zeit schien er die raschen, schlauen Schachzüge, durch die die Regierung ihre Position sicherte, nicht zu bemerken, oder nicht bemerken zu wollen. Bald fand sogar die Anti-Deltschev-Gruppe in seiner Partei gläubige Zuhörer für ihr Märchen von dem großen Vermögen, das am Tage nach der Radioansprache irgendwo im Ausland auf Deltschevs Namen deponiert worden sei. Selbst in der breiten Masse schien er seine Beliebtheit einzubüßen. Es war verständlich, dass die Stützen der neuen Regierung ihn schließlich als einen der Ihren ansahen.

Dann fand ›Deltschevs Fußballmatch‹ statt.

Gelegenheit dazu bot die offizielle Einweihung eines Sportstadions. Es war 1940 fertiggestellt und unmittelbar danach von den deutschen Truppen requiriert und als Durchgangslager verwendet worden. Später hatte die russische Armee es als Garnisonshauptquartier benutzt. Die Freigabe war ein Ausdruck sowjetischen Entgegenkommens, und die neue Regierung hatte pflichtschuldigst beschlossen, diese Geste mit so viel Publizität wie nur möglich zu würdigen. Wahrscheinlich war die Anwesenheit der diplomatischen Vertreter der Westmächte bei der Feier der Grund, dass Deltschev als Führer der ›Opposition‹ gebeten wurde, eine Rede zu halten.

Er begann heuchlerisch mit einem Dank an die Rote Armee und drückte die Anerkennung seiner Partei für die Großzügigkeit aus, die zur schnellen Freigabe des Stadions führte. Er hoffe, sagte er, dass es bald der Schauplatz eines denkwürdigen Fußballspiels gegen die hiesige Mannschaft sein würde.

Während dieser Vorschlag mit wildem Beifall begrüßt wurde, trat Deltschev näher an die Mikrophone. Diesmal zog er kein Manuskript aus der Tasche. Er wusste aufs Wort, was er sagen wollte. »Inzwischen aber, meine Landsleute, haben wir einen anderen, lebensgefährlichen Kampf zu bestehen – den Kampf für die Freiheit in unserem Staat.«

Er machte eine Pause. Völliges Schweigen folgte – man konnte die Fahnen im Winde flattern hören. Dann fuhr er fort:

»Vor zwei Tagen bot mir der Führer der Volkspartei, Petra Vukaschin, das Amt des Justizministers in der Regierung an, die jetzt an der Macht ist. Ich habe ihm für heute meine Antwort versprochen. Ich ergreife die Gelegenheit, sie ihm hier und jetzt zu geben. Ich antworte: Wenn er denkt, dass ich durch einen solchen Verrat an meinen agrar-sozialistischen Brüdern etwas an ihrem Entschluss ändern würde, zu kämpfen, bis diese neue Tyrannei mit Stumpf und Stiel ausgerottet ist – wenn er so etwas denkt, dann ist er dumm. Und wenn unser Widerstand gegen die verbrecherischen Pläne seiner Partei so stark ist, dass er versuchen muss, uns mit einem Anteil an der Beute zu bestechen, dann fürchtet er sich auch. Meine Landsleute, die Zeit ist knapp. Diese dummen, furchtsamen Männer sind gefährlich. Nicht weil sie dumm und furchtsam sind, sondern weil sie uns beherrschen wollen. Sie sind nicht …«

Bei diesem Wort wurden die summenden Lautsprecher abgeschaltet. In der Stille, die nun folgte, klang Deltschevs Stimme hoch und dünn im Wind, nur den wenigen vernehmbar, die ganz in seiner Nähe standen, während er den Satz vollendete.

Dann setzte brausender Beifall ein. Er rollte durch das überfüllte Stadion wie eine tosende, stöhnende Woge, die aufwallt, sich krachend und dröhnend wie eine Explosion überschlägt. Er hielt fast eine Minute an und ließ erst nach, als ein anderer Ton ihn verdrängte. Die Menge schrie in Sprechchören ununterbrochen Deltschevs Namen. Plötzlich entstand auf der andern Seite des Stadions in der Menschenmasse eine große wirbelnde Bewegung. Ein Handgemenge entwickelte sich. Aus der Nähe drangen Wutschreie. Deltschev, der während der Ovation reglos vor den abgeschalteten Mikrophonen gestanden hatte, winkte jetzt mit der Hand und wandte sich ab. Wieder gab es Beifallsgebrüll und Pfuirufe. Jetzt beschloss der russische Militärkapellmeister, der die Turnerriege ins Stadion führen sollte, nicht erst das Kommando abzuwarten. Durch diesen vernünftigen Entschluss wurden wahrscheinlich ernste Unruhen vermieden. Als die Kapelle mit klingendem Spiel einmarschierte, wurden die Hochrufe seltener, und Lachen und Händeklatschen setzten ein. ›Deltschevs Fußballmatch‹ war vorbei; vorbei bis auf die atemlose Erregung, mit der er diskutiert und mit der über ihn berichtet wurde. Aber er blieb unvergessen, und man erinnerte sich vieler Einzelheiten, die sich gar nicht zugetragen hatten. ›Väterchen Deltschev‹ war zu seinem Volk zurückgekehrt. Er hatte seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, und das Volk hatte ihm gezeigt, dass es in seinem Kampf gegen die ›Mächtigen‹ auf seiner Seite stand.

Vier Tage später fand nachts ein Attentat auf ihn statt.

Haus und Hof von Deltschev waren nach alter Weise von einer Mauer umgeben. Als er aus seinem Wagen stieg, um ins Haus zu gehen, wurde eine Handgranate geworfen. Sie traf die Mauer, gleich neben dem Tor, und prallte auf die Straße zurück, ehe sie explodierte, sodass Deltschev, der schon durchs Tor getreten war, von der Explosion verschont blieb. Um diese Nachtzeit waren nur wenige Leute auf der Straße, und der Mann, der die Granate geworfen hatte, entkam.

Den Chauffeur hatte es an Kopf und Hals erwischt, Deltschev aber war kaum verletzt, obwohl er gegen das halbgeöffnete Tor geprallt und etwas mitgenommen war. In der Verwirrung, die nun folgte, hörte niemand auf seinen Einwand, dass der Schmerz in seiner Schulter nur von einer Prellung herrühre, und er wurde zusammen mit dem Chauffeur ins Krankenhaus gebracht. Nach einer Stunde war das Gerücht, er sei tot oder liege im Sterben, schon durch alle Cafés gelaufen, und eine große Menschenmenge sammelte sich vor dem Krankenhaus. Deltschev war zu diesem Zeitpunkt bereits in sein Haus zurückgekehrt, vor dem eine noch größere Menschenmenge der Polizei zusah, wie sie die Bruchstücke der Granate zusammensuchte. Die Stimmung gegenüber der Polizei war ziemlich feindselig. Bald darauf erzählte man sich flüsternd folgenden Ausspruch von Vukaschin: Als er später in der Nacht den Bericht des Polizeipräsidenten entgegennahm und hörte, dass man das Attentat auf Deltschev ganz unverhohlen als Antwort der Regierung auf seine Rede im Stadion betrachte, habe er ausgerufen: ›Dachten die Leute etwa, wir würden sie im Kabinett beantworten?‹ Die Geschichte ist vielleicht nicht wahr, aber unglaubhaft erscheint sie im Lichte der folgenden Ereignisse nicht. Fest steht, dass von diesem Augenblick an eine verdächtige Veränderung in der Haltung des Propagandaministeriums gegen Deltschev eintrat, und wahrscheinlich wurde damals der Entschluss gefasst, ihn vor Gericht zu bringen. Die offizielle Erklärung des Ministeriums zu der Angelegenheit klang so bissig-witzig, dass sie die allgemeine Meinung, die Regierung habe von vornherein um das Attentat gewusst, nicht erschütterte. Sie stellte fest, die Granate sei amerikanischen Fabrikats, und deutete an, dass der Attentäter wohl am ehesten in den Reihen von Deltschevs eigener Partei zu suchen sei, in der es viele Verbrecher gebe, die mit anglo-amerikanischen Imperialisten Beziehungen unterhielten.

Der Redakteur einer Zeitung, der diese Erklärung ›ungenügend, aber vielsagend‹ nannte, kam sofort ins Gefängnis. Jetzt setzte eine Reihe wilder Angriffe auf die agrarsozialistische Partei ein. Der heftige Ton und die kaum mehr verhüllten Drohungen, die jede Anspielung auf Deltschev begleiteten, waren unmissverständliche Warnungen. Die Opposition war untragbar geworden und musste liquidiert werden; zuerst aber musste man sich Deltschevs entledigen. Er hatte die Wahl. Er konnte ins Ausland fliehen und verurteilt werden, oder er konnte zu Hause bleiben und verurteilt werden. Verurteilt wurde er in jedem Fall.

Deltschev zog es vor zu bleiben. Einen Monat später wurde er verhaftet.

Das war alles. Ich blickte eine Weile aus meinem Hotelfenster auf die flachen Dächer und die byzantinischen Türme der Stadt, die im Mondlicht so still unter mir lag wie die Landschaft einer toten Welt; schließlich wurde ich schläfrig.

Als ich den Wust von Zeitungsausschnitten, Notizen und Manuskripten, der Paschiks Akte bildete, wieder in den Umschlag schieben wollte, fiel mir ein Zettel auf, den ich vorher nicht gesehen hatte. Er war an die Rückseite eines Bündels von Blättern mit aufgeklebten Ausschnitten geheftet und daher leicht zu übersehen. Der Zettel stammte von dem Notizblock, den ich auf Paschiks Schreibtisch gesehen hatte. Darauf stand in Maschinenschrift:

Der Fall K. Fischer. Wien, 1946 – Alekos Hand?

Für mich war es damals noch nicht das interessanteste Blatt aus den Deltschev-Akten. Ich schlief ein.

Der Fall Deltschev

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