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Das Hotel Boris war 1914 von einer deutschen Gesellschaft erbaut worden, und es war eines jener Hotels, wo nur das Hallen von Schritten und das Rauschen einer entfernten Wasserspülung einen daran gemahnten, dass man nicht allein da war. Das Foyer war eine Riesenhöhle mit Mosaikfußboden und einem hydraulischen Lift in schmiedeeisernem Käfig. Der Hotelportier war ein körperlich und geistig unbeweglicher junger Mann mit einem charmanten Lächeln. Er sprach nur wenig Englisch.

»Es ist eine Nachricht für Sie da, mein Herr«, sagte er. Er blickte auf den Zettel, den er mit meinem Schlüssel aus dem Schlüsselfach genommen hatte. »Herr Stanojew wollte Sie besuchen – er wird wiederkommen.«

»Stanojew? Kenne ich nicht. Sind Sie sicher, dass er zu mir wollte?«

Er sah mich dumm an. »Ich weiß nicht, mein Herr. Er ging wieder weg.«

»Schon gut.«

Der Lift war außer Betrieb. Ich ging die breiten flachen Stufen hinauf zum sechsten Stock.

Mein Zimmer lag am Ende eines langen Korridors, an dessen Wänden in regelmäßigen Abständen gepolsterte Bänke standen. Als ich den Korridor entlangging, sah ich auf der hintersten Bank einen Mann sitzen. Er las in einer Zeitung. Ein ungewohnter Anblick. Auf Möbeln in Korridoren erwartet man nur Servierbretter oder den Staubwedel des Zimmermädchens. Als ich mich näherte, blickte der Mann wie von ungefähr auf, dann sah er wieder weg und las weiter in seiner Zeitung. Ich betrachtete ihn im Vorbeigehen.

Er war ein dünner, ausgetrockneter Mensch mit traurigen Augen, das graue Haar so kurz geschnitten, dass der Schädel durchschien. Er hatte eine sonderbar fleckige Haut, wie jemand, der gerade eine Hautkrankheit hinter sich hat. Die Hände, mit denen er die Zeitung hielt, waren lang und gelb. Neben ihm auf der Bank lag ein weicher schwarzer Filzhut.

Ich ging an ihm vorüber zu meinem Zimmer. Als ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte und ihn umdrehte, fragte jemand dicht hinter mir: »Herr Foster?«

Ich fuhr zusammen und drehte mich um. Der Mann, der auf der Bank gesessen hatte, stand jetzt mit dem Hut unterm Arm vor mir.

Ich nickte.

»Petlarow«, sagte er kurz und fügte dann auf Deutsch hinzu: »Ich kann französisch und deutsch sprechen, was Ihnen lieber ist.«

»Mit Deutsch wird es schon gehen. Ich freue mich, Sie zu sehen.« Jetzt machte ich die Tür ganz auf. »Bitte, wollen Sie hereinkommen?«

Er verbeugte sich leicht. »Vielen Dank«, sagte er. Er trat ein, dann wandte er sich um und sah mir ins Gesicht. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte er kurz und geschäftsmäßig, »dass ich Ihre Aufforderung auf diese Art beantworte. Wer hierzulande lebt, findet es nicht sonderbar; aber da Sie ein Fremder sind, muss ich es erklären.«

»Bitte nehmen Sie doch Platz.«

»Danke sehr.« In der Helligkeit des Zimmers wirkten seine Kleider schäbig, und er sah krank aus. Aber seine knappe, sachliche Art ließ das vergessen. Er wählte einen harten Stuhl, als wolle er nicht lange bleiben.

»Das Erste, was Sie meines Erachtens wissen müssen«, sagte er, »ist, dass ich unter Aufsicht stehe; das heißt, ich habe mich täglich bei der Polizei zu melden. Zweitens bin ich amtlich als ›unzuverlässiges Element‹ registriert. Das bedeutet: Wenn Sie mein Haus betreten oder an einem öffentlichen Ort mit mir reden, so lenken Sie dadurch die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich und werden auch verdächtig. Deshalb diese etwas ungewöhnliche Art, Sie zu treffen. Ich habe Ihre Zimmernummer festgestellt, indem ich unter dem Namen Stanojew einen Zettel für Sie abgab und aufpasste, in welches Fach er gelegt wurde. Dann ging ich vorsichtig hier hinauf und erwartete Ihre Rückkehr. Sie brauchen daher keine Angst zu haben, dass mein Name mit dem Ihren verknüpft oder meine Anwesenheit hier bekannt wird.« Er verbeugte sich knapp.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gekommen sind.«

»Nichts zu danken. Darf ich fragen, wie Sie zu meiner Adresse kamen?«

»Durch einen Mann namens Paschik.«

»Ach so. Nun, ich dachte mir schon, dass er es war.« Er blickte nachdenklich ins Leere.

»Kennen Sie ihn gut, Herr Petlarow?«

»Sie wollen wissen, was ich von ihm halte?«

»Ja.«

Er überlegte einen Augenblick: »Sagen wir: ich pflichte der allgemeinen Überzeugung nicht bei, nach der er nur ein unangenehmer Mensch ist, dessen politische Ansichten sich ganz nach demjenigen richten, mit dem er gerade spricht. Doch da ich nun hier bin – bitte, was wünschen Sie von mir, Herr Foster?«

Ich hatte ihm meine Zigaretten hingehalten. Er hatte die Hand danach ausgestreckt, während er sprach, jetzt aber zögerte er. Er sah von den Zigaretten auf, und seine Augen begegneten den meinen.

»Ich habe noch mehr«, sagte ich.

Er lächelte bittend. »Wenn Sie vielleicht ein Stück Schokolade oder Keks hätten, Herr Foster, wäre es besser für meinen Magen als Tabak.«

»Aber natürlich.« Ich ging zu meinem Koffer. »Schokolade habe ich nicht, aber hier sind ein paar Kekse.« Ich hatte mir in Paris eine Schachtel als Reiseproviant gekauft, sie dann aber vergessen. Ich öffnete sie. Es war die Sorte mit dem rosa Zuckerguss. »Nicht sehr gut für einen kranken Magen«, bemerkte ich.

Er nahm mit höflichem Lächeln einen Keks. »O doch – ausgezeichnet!« Er knabberte mit sehr weißen falschen Zähnen daran.

»Paschik gab mir Ihren Artikel über Deltschev zu lesen«, sagte ich.

»Wirklich? Aber man hielt ihn für nicht geeignet zur Veröffentlichung.«

»Wer hielt ihn für nicht geeignet? Paschik?«

»Ja. Aber das hat mich weder überrascht noch geärgert. Ich wusste, dass mir der Auftrag in der Hoffnung gegeben wurde, ich würde Ungünstiges über Jordan berichten, weil ich eine Meinungsverschiedenheit mit ihm gehabt hatte. Hätte mich Paschik zuvor gefragt, so hätte ich ihm gleich gesagt, was ich schreiben würde. Zum Glück aber fragte er nicht.«

»Wieso zum Glück?«

»Nun, wenn er das gewusst hätte, so hätte ich den Auftrag nicht bekommen; und ich brauchte das Geld.«

»Ach so. Natürlich. Ich habe übrigens eine Flasche Whisky hier. Was meinen Sie – ist es gefährlich, den Zimmerkellner nach Gläsern zu schicken?«

»Ich glaube schon. Aber vielleicht dürfte ich mir noch einen Keks nehmen?«

»Selbstverständlich. Bedienen Sie sich! Sie wissen, Herr Petlarow, dass ich hergekommen bin, um eine Artikelserie über den Prozess Deltschev zu schreiben. Aber Paschik scheint zu fürchten, dass ich den Zensor verärgere, wenn ich sie hier schreibe.«

»Damit hat er vermutlich recht«, sagte Petlarow ruhig. »In solchen Dingen hat er meistens recht. O ja, ich verstehe ihn schon; wenn Sie jemanden verärgern, wird man ihn dafür strafen.«

Ich musste wohl ungläubig dreingesehen haben. Er nahm noch einen Keks. »Ich will Ihnen eine kleine Geschichte über unser Regime erzählen«, fuhr er fort. »Ein Mitglied der Volkspartei schrieb einen Roman über den Kampf einer Arbeitergruppe gegen die Kapitalisten, die eine Fabrik schließen wollen. Es war eine naive Geschichte, in der die Kapitalisten alles teuflische Bestien waren und der Arbeiterführer Mitglied der Volkspartei. Der Propagandaminister – er heißt Brankowitsch – wollte gleichwohl die Veröffentlichung nicht erlauben. Er sagte, der Held wirke nicht positiv genug.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Nun, der Autor hat nicht erklärt, dass das heldenhafte Parteimitglied ein guter Mann ist.«

»Aber das musste der Leser doch aus der ganzen Geschichte schließen?«

»Brankowitsch würde Ihnen da einen Denkfehler ankreiden, Herr Foster. Rückschlüsse sind nicht positiv. Das Publikum muss belehrt werden, dass der Mann gut ist, und es muss auch in allen andern Dingen belehrt werden.«

»Ich glaube, Sie übertreiben ein wenig.«

»In London oder New York würde ich übertreiben. Hier nicht. Die Folge war, dass der verärgerte Verfasser auf eigene Faust ein wenig Propaganda für sein Buch machte. Er wurde daraufhin zu Zwangsarbeit verurteilt. Paschik möchte sich ein solches Schicksal ersparen. Ja, sehen Sie, Herr Foster, wen man erst zum Gehorsam überreden muss, der ist nicht mehr wichtig; denn wir werden bald aufhören zu existieren. Unsere Liquidierung hat schon begonnen.« Er lächelte vielsagend.

»Was meinen Sie damit?«

Er nahm noch einen Keks und hielt ihn mir hin. »Dies ist der dritte Keks, den ich mir genommen habe«, sagte er. »Es sind also noch einundzwanzig in der Packung. Ich darf noch neun essen.«

»Sie können die ganze Packung haben.«

Er nickte. »Ich danke Ihnen. Ich habe gehofft, dass Sie sie mir schenken würden, und habe es mir ausgerechnet: Wenn ich jetzt noch neun esse, habe ich im Ganzen zwölf gehabt. Dann bleiben zwölf für meine Frau. Zum Glück haben wir keine Kinder, mit denen wir teilen müssen.«

Ich wusste nichts zu antworten.

»Ich will es Ihnen erklären. Es ist ganz einfach. Personen, die als unzuverlässig registriert sind, dürfen nur körperliche Arbeit verrichten. Ich habe es versucht, bin aber nicht kräftig genug dazu. Also haben meine Frau und ich, da ich nicht arbeite, keine Lebensmittelkarten. Wir sind natürlich oft sehr hungrig, und Hunger macht fügsam.«

Ich stand auf und ging zum Schrank, um den Whisky zu holen. Aus dem Augenwinkel sah ich ihn wieder nach einem Keks greifen. Er blickte mich über die Schulter an. »Bitte, machen Sie sich deshalb keine Sorgen, Herr Foster. Ein schlechtes Gewissen kann ebenso unangenehm sein wie ein leerer Magen – auf mancherlei Art, das weiß ich. Und die Leute mit vollem Magen haben oft ein schlechtes Gewissen. Das Schlimme bei uns ist, dass die meisten neben einem leeren Magen auch noch ein schlechtes Gewissen haben. Beides zusammen wird tödlich sein.«

»Ich habe einen Metallbecher«, sagte ich, »und ein Zahnputzglas. Wenn Sie gern Whisky trinken –«

»Ich habe ihn gekostet«, sagte er höflich, »und finde ihn besser als Schnaps und pikanter als unseren Pflaumengeist. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich darauf aus bin, ihn mitzunehmen wie die Kekse.«

Ich gab ihm das Zahnputzglas. Er nahm einen kleinen Schluck und sah mich an. »Sie werden mir sicher verzeihen, wenn ich gestehe, dass ich heute Abend, ehe ich herkam, Ihren Namen in meinem englischen Nachschlagewerk gesucht habe.«

»Und nun möchten Sie gern wissen, wie ein Bühnenautor dazu kommt, Artikel über einen politischen Prozess zu schreiben?«

»O nein. Den Zusammenhang verstehe ich. Ich habe mich an Ihre Stelle versetzt. Sie sind nur ein paar Tage in dieser Stadt gewesen; Sie kennen weder Land noch Leute. Sie sehen einen Prozess, der für Sie ein Spiel mit Jetons ist, deren Wert Sie nicht kennen. Und doch müssen Sie das Spiel so erklären, dass westliche Köpfe es begreifen können.«

»So etwas Ähnliches wurde mir heute schon einmal gesagt.«

Er nickte ruhig. »Und als Ratgeber und Begleiter haben Sie Paschik, der so stark mit seinem Problem beschäftigt ist (vielleicht ist es Selbsterhaltung, aber man kann das nie wissen), dass er Sie auch nur zum Schalter des Propagandaministeriums führen kann.« Er nahm noch einen Keks. »Haben Sie den amtlichen Bericht über die heutigen Verhandlungen gelesen?«

»Diesen hier?« Ich zog ihn aus der Tasche. »Man verteilte gerade die Kopien, als wir den Gerichtssaal verließen.«

»Das wird jeden Tag geschehen. Und nun sagen Sie mir, Herr Foster, ob irgendetwas in Ihren Berichten stehen wird, das sich ein routinierter, sarkastischer Journalist nach der Lektüre solcher Berichte nicht an seinem Londoner Schreibtisch ausdenken könnte?«

»Sie können sich diese Frage sicher selbst beantworten.«

»Oh – ich habe Sie beleidigt.« Er lächelte. »Aber kaum ernstlich, wenn Sie es recht überlegen. Ich wollte nur darauf hinaus, dass meine Dienste Ihnen vielleicht recht nützlich sein könnten, Herr Foster.«

»Ja, das habe ich mir gedacht. Und was für Dienste?«

»Nun, in der Art eines Fremdenführers. Ich schlage Ihnen das vor, ohne mich zu schämen. Sie waren so freundlich, mich aufzufordern, Ihnen etwas über Jordan zu erzählen, und das will ich natürlich gern tun.« Er tippte leicht auf die Keksschachtel. »Dafür habe ich schon ein gutes Honorar bekommen. Aber ich denke, ich könnte Ihnen auch weiterhin nützlich sein.« Seine gramvollen Augen blickten mich an, und es stand ein kleines kaltes Lächeln darin. Er leckte sich eine Krume von der Unterlippe.

»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich und wartete.

»Es würde mich zum Beispiel interessieren«, fuhr er fort, »ob Sie schon überlegt haben, dass manche Anschuldigungen gegen Deltschev gar nicht so dumm sein müssen, wie die Anklage durchblicken lässt?« Er blickte in mein Zahnglas.

Ein hässlicher Verdacht stieg in mir auf. »Ihre Meinungsverschiedenheit mit ihm bezog sich auf die Radioansprache, in der er die Wahlen forderte, nicht wahr?«

Er begriff sehr schnell. Er sagte ruhig: »Wenn ich Jordans Feind wäre, bräuchte ich hier nicht um ein paar Kekse zu betteln, Herr Foster. Dann würde ich im Prozess als Zeuge gegen ihn aussagen. Und wenn Sie befürchten, ich sei als Agent des Propagandaministeriums zu Ihnen gekommen, um Ihr Urteil zu kaufen, dann haben Sie den Mann noch nicht erkannt, der diese Aufgabe tatsächlich übernommen hat.«

»Tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen. Welchen Mann?«

»Unser Freund Brankowitsch sieht sich gezwungen, eine Anzahl feindlich gesinnter Auslandsjournalisten zur Berichterstattung über den Prozess zuzulassen. Glauben Sie wirklich, dass er während ihres Aufenthaltes nicht den Versuch machen wird, ihre Feindseligkeit zu neutralisieren? Er muss es einfach versuchen. Ich kann Ihnen sogar die Methode verraten, nach der er verfahren wird. Vielleicht schon morgen oder in den nächsten Tagen, jedenfalls nach Vukaschins Zeugenaussage, wird Brankowitsch eine Auslandspressekonferenz einberufen und Fragen beantworten. Dann – vielleicht einen Tag danach – wird sich jemand an Sie heranmachen. Er wird Ihnen von einem Weg erzählen, auf dem man Nachrichten unzensiert ins Ausland bringen kann. Dann wird er sich von Ihnen überreden lassen und Sie in sein Geheimnis einweihen. Natürlich werden Ihre Berichte nicht abgeschickt. Aber aus Ihren Ansichten schließt man auf Ihre Absichten, die dann von der offiziellen Propaganda schon im Voraus vereitelt werden. Brankowitsch liebt es aus mancherlei Gründen, agents provocateurs zu benutzen.« Er sah mich höhnisch an. »Ich kenne seine Art Humor. Ich habe ihm ja Jordan für einen Sitz im Komitee vorgeschlagen.«

Ich bot ihm wieder eine Zigarette an. Er zögerte. »Dürfte ich wohl zwei nehmen?«, fragte er.

»Eine für Ihre Frau?«

»Ja.«

»Bitte – behalten Sie das Päckchen.«

»Oh – danke sehr.«

Es war nicht ganz voll. Sorgfältig zählte er die Zigaretten ab.

»Wie haben Sie Deltschev kennengelernt?«

Er blickte auf. »Er war mein Partner«, sagte er, anscheinend überrascht, dass ich es nicht wusste.

Ich reichte ihm eine Schachtel Zündhölzer, und er steckte sich eine Zigarette an.

»Danke sehr.« Er blies den Rauch in die Luft. »Als Jordan seine Anwaltskanzlei eröffnete, war ich sein Mitarbeiter. Später wurde ich sein Partner. Als man ihn zum Postminister ernannte, wurde ich sein Assistent und Sekretär. Ich war auch sein Freund.«

»Was für ein Mensch ist er? In groben Zügen, meine ich.«

»Er ist ruhig, überlegt, sehr geduldig. Ein guter Rechtsanwalt. Wenn Sie ihn in seinem Büro interviewen würden, so wären Sie wahrscheinlich irritiert durch seine Gewohnheit, an Ihnen vorbeizusehen, während er spricht. Er hält Ordnung auf seinem Schreibtisch und leert seinen Aschenbecher, sobald Sie Ihre Zigarette ausgedrückt haben. Aber sehr höflich. Er würde vielleicht dazu neigen, Ihnen Worte in den Mund zu legen – Kritiken an ihm –, auf die er dann näher eingeht. Für einen Anwalt eine schlechte Gewohnheit. Er hat Familie, eine Frau, einen Sohn, eine Tochter, die er sehr gern hat, aber nicht über alles stellt. Ein guter Mensch, der es mit sich selbst nicht leicht hat.«

»Ist er bestechlich?«

»Mit Geld kann man Jordan nicht bestechen, denn es bedeutet ihm wenig. Vielleicht war die Macht einmal eine Versuchung für ihn. Sie sprechen natürlich von seinem Verhalten bezüglich der freien Wahlen?«

»Ja.«

»Hätte er für seine Rundfunkansprache Geld genommen, so hätte er etwas aufgegeben, was ihm vielleicht etwas bedeutet hat – Macht –, um dafür etwas zu gewinnen, auf das er überhaupt keinen Wert legte – eben Geld.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und viel von der Bitterkeit ist vergangen. Früher einmal dachte ich ernstlich daran, Jordan für das umzubringen, was er damals getan hat – aber selbst im größten Hass ist mir nie der Gedanke gekommen, er sei bestochen worden.«

»Und wie erklären Sie sich dann alles?«

»Gar nicht. Man hat Jordan oft beschuldigt, nichts weiter zu sein als ein schlauer Politiker. Rückblickend erscheint mir das ebenso lächerlich wie jetzt die Beschuldigung, er sei ein Mörder. Indem er unnötigerweise die Novemberwahlen veranlasst hat, hat er politischen Selbstmord begangen und zugleich alle Menschen verraten, die ihm treu waren. Sie fragen nach einer Erklärung.« Er warf die Hände empor. »Wenn ich jetzt sage, dass er verrückt war, so ist das ebenso bequem, wie wenn ich leugne, dass er bestochen wurde. Als ich ihm damals abends in seinem Zimmer gegenüberstand, sah er nicht verrückt aus. Er sah merkwürdig abgeklärt aus. Das machte mich noch wütender, und Sie wissen ja, im Zorn scheinen viele Dinge sehr einfach. ›Warum?‹, rief ich außer mir, ›warum?‹ – ›Es ist besser so‹, war seine ganze Antwort. Und als ich dann mit meinen zornigen Vorwürfen fertig war, sagte ich: ›Väterchen Deltschev ist gestorben – der Postminister ist wieder da. Väterchen Deltschev war nicht stark genug, die Liebe eines Volkes zu ertragen!‹«

Petlarow sah zu mir herüber und lächelte schwach. »Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich damit sagen wollte«, fügte er hinzu.

Nach einer Weile fragte ich: »Wird die Sache mit den Wahlen im Prozess aufgerollt werden?«

Er schüttelte den Kopf. »Vom Staatsanwalt jedenfalls nicht. Je weniger über die Wahlen gesprochen wird, umso besser ist es für unsere Regierung. Aber man wird vielleicht zulassen, dass sich die Verteidigung darauf stützt, um Jordans grundsätzliches Verständnis für das régime zu beweisen.«

»Wer ist sein Verteidiger?«

»Er heißt Stanojew. Zum Spaß habe ich hier im Hotel seinen Namen verwendet. Er ist das Parteimitglied, das zum Verteidiger ernannt wurde. Die mildernden Umstände, die er besonders hervorheben wird, werden ihn endgültig vernichten.« Er runzelte die Stirn. »Was ich nicht begreife, ist die Sache mit der Bruderschaft des Offizierskorps. Jordans Haltung gegenüber der Besetzung durch die Sowjets – ja, darüber lässt sich streiten, herziehen, und damit kann man blenden. Aber die Bruderschaft – das ist etwas anderes. Es muss etwas Konkretes vorliegen, sonst würde nicht so viel Lärm darum gemacht. Aber ich kann’s nicht glauben.«

»Es ist doch sicher leicht, falsche Beweise herzustellen?«

»Das wohl – aber es ist nicht ihre Art. Denken Sie an Kardinal Mindszenty. Er war eines Devisenvergehens angeklagt. Wir wissen, dass es nur formell eins war; er hatte sich dadurch nicht bereichert; aber er hatte sich dieses Delikts schuldig gemacht, und darum benutzte man es. Es hätte natürlich eine viel größere Wirkung gehabt, wenn man ihn als Verführer der Jugend hätte anprangern können. Und zweifelsohne hätte man auch die nötigen Beweise fabrizieren können. Aber – das Devisenvergehen war ja tatsächlich begangen worden. Und die Lüge steht nirgends so fest und sicher wie auf einem Stecknadelkopf von Wahrheit.« Er nahm den letzten seiner zwölf Kekse und schloss die Schachtel. »Was kann ich für Sie tun, Herr Foster?«

»Sie haben mir schon sehr geholfen.«

»Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen. Sprechen Sie doch einmal mit Madame Deltschev.«

»Ist das möglich?«

»Ja, für Sie schon. Madame Deltschev und ihr Haus werden überwacht; das heißt, dass niemand das Haus verlassen darf; aber Ihr Passierschein wird Ihnen den Zutritt ermöglichen. Ich werde Ihnen einen Brief an sie mitgeben. Andere Journalisten empfängt sie nicht, das versichere ich Ihnen. Sie landen da einen Coup.«

»Ja, das sehe ich ein. Was für eine Frau ist sie?«

»Sie war Lehrerin – in der Stadt, wo wir vor Jahren unsere Kanzlei hatten. Sie kommt aus einer griechischen Familie. Hätte sie mich statt Jordan geheiratet, so wäre wahrscheinlich ich Minister geworden. Doch es ist besser, Sie bilden sich Ihr eigenes Urteil. Wenn Sie wünschen, werde ich jeden Abend um diese Zeit herkommen und Ihnen alles, was ich in Erfahrung bringen kann, mitteilen.« Er beugte sich vor und berührte mit dem Zeigefinger leicht mein Knie. »Abgemacht?«

»Abgemacht. Und was erwarten Sie dafür?«

Er zögerte. »Nun, Geld – ein wenig Geld, soviel Sie für angemessen halten – und Ihre Lebensmittelkarte. Nicht die Abschnitte für die Restaurants, die werden Sie selbst brauchen, während ich sie nicht verwenden könnte – aber die Marken für Butter, Brot, Fleisch, Milch, Eier und Frischgemüse. Sie werden als Fremder die erste Klasse haben, vermute ich.«

»Ja.«

»Haben Sie sie noch? Oder haben Sie schon anderweitig darüber verfügt?«

»Nein, sie gehört Ihnen. Ich gebe Sie Ihnen gleich.«

Er seufzte. »Wie gut, dass meine Frau nicht hier ist«, sagte er. »Sie würde weinen.«

Später, nachdem er gegangen war, saß ich am Fenster und trank einen Whisky mit Wasser aus meinem Zahnputzglas. Die Situation wurde klar und verständlich.

An diesem Punkt hätte ich meinen Koffer packen und nach Hause fahren sollen.

Der Fall Deltschev

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