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Die offizielle Begründung meiner Festnahme lieferte der Ermittlungsrichter, ein nervöser kleiner Mann, der mich auf Geheiß des Dicken einem flüchtigen Verhör unterzog, bevor er den Haftbefehl unterschrieb. Ich erfuhr, dass ich der Spionage beschuldigt wurde, insofern ich mich unbefugt in einem militärischen Sperrgebiet aufgehalten und dort fotografiert hatte und im Besitz entsprechenden Fotomaterials sei, das die Sicherheit der Republik gefährde. Nachdem mir der Haftbefehl verlesen worden war und ich zu verstehen gegeben hatte, dass ich den Inhalt verstanden hatte, nahm man mir (wohl um zu verhindern, dass ich mich aufhängte) meinen Gürtel ab, sodass ich mir die Hose hochhalten musste, und ließ mich sämtliche Taschen leeren. Dann wurde ich zu einer Zelle im hinteren Teil des Gebäudes gebracht. Dort war ich allein.

Mit dem Wort »verblüfft« wäre meine Verfassung nur unzureichend beschrieben. Ich war dermaßen durcheinander, dass ich all die Proteste, die ich vorbringen wollte, im letzten Moment als aussichtslos hinuntergeschluckt hatte. Das Ergebnis war, dass ich kein Wort gesagt hatte. Die Kriminalbeamten hatten mein Schweigen gewiss auf ihre Weise interpretiert.

Doch jetzt, ganz allein in der Zelle, begann ich, etwas ruhiger nachzudenken. Es war lachhaft. Es war ungeheuerlich. Es war unvorstellbar. Und doch war es passiert. Ich befand mich in Polizeigewahrsam, weil man mich der Spionage verdächtigte. Bei einer Verurteilung musste ich mit vier Jahren in einem französischen Gefängnis rechnen, und anschließender Deportation. Das Gefängnis würde ich überstehen, sogar ein französisches, aber die Deportation! Ich fühlte mich elend und merkte, dass ich ziemliche Angst hatte. Wohin sollte ich gehen, wenn die Franzosen mich auswiesen? In Jugoslawien würde man mich sofort verhaften. Die Ungarn würden mich ebenso wenig einreisen lassen wie die Deutschen und Italiener. Selbst wenn ein verurteilter Spion ohne Pass nach England käme, würde er dort nicht arbeiten dürfen. Für die Amerikaner wäre ich nur ein unerwünschter Ausländer. Die südamerikanischen Republiken würden als Kaution viel Geld verlangen, das ich nicht besitze. Die Russen konnten einen verurteilten Spion ebenso wenig gebrauchen wie die Engländer. Selbst die Chinesen bestanden auf einem Pass. Ich konnte nirgends hin, nirgends. Und schließlich, wen interessierte es schon. Was mit einem staatenlosen Sprachlehrer passierte, interessierte kein Schwein. Keine Regierung würde sich schützend vor ihn stellen, kein Konsul sich für ihn verwenden, kein Parlament Anteil an seinem Schicksal nehmen. Offiziell existierte er nicht, er war eine Abstraktion, ein Geist. Im Grunde konnte er sich nur das Leben nehmen, und zwar auf so anständige Weise, dass keine Leiche übrig blieb. In diesem Fall wäre Feuer vielleicht geeignet. Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Ich riss mich mit aller Macht zusammen. Ich war hysterisch. Das Urteil stand noch nicht fest. Ich saß noch nicht in einem regulären Gefängnis. Ich war noch immer in Frankreich. Ich musste meinen Verstand gebrauchen, nachdenken und selber die ganz einfache Erklärung dafür finden, warum diese Aufnahmen in meinem Fotoapparat waren. Ich musste sehr sorgfältig vorgehen, durfte kein Detail übersehen. Ich musste mich in Gedanken wieder nach Nizza zurückversetzen.

Ich entsann mich, dass ich den neuen Film am Montag eingelegt und anschließend die Fotos vom Volksfest gemacht hatte. Dann war ich in mein Hotel zurückgekehrt und hatte die Kamera in meinen Koffer getan. Als ich am Abend nachgesehen hatte, war sie noch da gewesen. So weit, so gut. Sie war in meinem Koffer geblieben, bis ich sie am Dienstagabend im Hotel Réserve ausgepackt hatte. In Toulon war der Koffer in der Gepäckaufbewahrung gewesen. Konnte jemand während der zwei Stunden, die ich in der Stadt spazieren gegangen war, den Fotoapparat benutzen? Nein. Unmöglich. Der Koffer war verschlossen gewesen, und niemand konnte ihn in der Gepäckaufbewahrung aufbrechen, die Kamera entwenden, diese riskanten Fotos machen und die Kamera wieder hineinpacken – alles innerhalb von zwei Stunden. Und außerdem, wieso sollte der Betreffende die Kamera wieder zurückpacken? Nein, so konnte es nicht gewesen sein.

Dann fiel mir etwas anderes ein. Natürlich, ich hätte schon längst darauf kommen sollen! Wie dumm von mir! Die Fotos, die ich angeblich gemacht hatte, waren die ersten zehn des Films. So musste es gewesen sein, denn mein letztes Eidechsenfoto trug die Nummer sechsunddreißig. Einen Rollfilm kann man nicht zurückspulen, und es gab keine Doppelbelichtungen. Da ich in Nizza beim Volksfest einen Film eingelegt hatte, musste für die Fotos von Toulon ein neuer Film eingelegt worden sei.

Erregt sprang ich von meinem Bett, auf dem ich gesessen hatte, zog die Hose hoch, die mir dabei heruntergerutscht war, und lief, die Hände in den Hosentaschen, in der Zelle auf und ab. Natürlich! Jetzt erinnerte ich mich wieder! Als ich mit den Fotoexperimenten begann, war ich etwas überrascht gewesen, dass der Bildzähler auf elf stand. Mir war, als hätte ich in Nizza nur acht Bilder verknipst. Aber man verliert leicht den Überblick, zumal bei einem sechsunddreißiger Film, und ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Ja, der Film war ganz bestimmt ausgetauscht worden. Nur wann? Vor meiner Ankunft im Réserve konnte es nicht passiert sein, und mit den Eidechsen hatte ich erst am nächsten Tag nach dem Frühstück begonnen. Die Sache sah also folgendermaßen aus: Zwischen Dienstag 19 Uhr und Mittwoch 8.30 Uhr (Frühstückszeit) hatte jemand meine Kamera aus meinem Zimmer genommen, einen neuen Film eingelegt, war nach Toulon gefahren und in ein militärisches Sperrgebiet eingedrungen, hatte die Fotos gemacht, war ins Réserve zurückgekehrt und hatte die Kamera wieder auf mein Zimmer gebracht.

Es klang ziemlich abwegig. Ganz abgesehen von anderen Einwänden, stellte sich einfach die Frage nach den Lichtverhältnissen. Um acht Uhr abends war es praktisch dunkel, und da ich erst um sieben Uhr eingetroffen war, schied der Dienstag aus. Selbst wenn man annahm, dass der Betreffende nachts losgezogen war und bei Sonnenaufgang fotografiert hatte, hätte er sich sehr beeilen und geschickt vorgehen müssen, wenn er meine Kamera zurückbringen wollte, während ich im Bett lag und aus dem Fenster guckte. Und überhaupt, warum sollte er mir die Kamera inklusive Film zurückgeben? Fast schien es, als wollte mir jemand etwas anhängen. Wodurch war die Polizei aufmerksam geworden? Hatte der Betreffende ihnen einen anonymen Tipp gegeben? Da war natürlich der Drogist. Offensichtlich hatte die Polizei den Besitzer des Films erwartet. Vielleicht war der Drogist mit den Fotos erwischt worden und hatte geschworen, dass sie mir gehörten. Aber das erklärte nicht, warum sie zusammen mit den Experimentalaufnahmen auf einem Film waren. Irgendwelche Klebestellen waren auch nicht zu sehen. Es war ein einziges Rätsel.

Fieberhaft ging ich alles zum dritten Mal durch, als ich draußen auf dem Flur Schritte hörte. Die Zellentür flog auf, der Dicke in dem Anzug aus Tussaseide kam herein, und die Tür schloss sich hinter ihm wieder.

Einen Moment stand er da und wischte sich mit dem Taschentuch über den Nacken, dann nickte er mir zu und setzte sich auf das Bett.

»Setzen Sie sich, Vadassy.«

Während ich mich auf die einzige andere Sitzgelegenheit hockte, ein emailliertes Bidet mit Holzdeckel, überlegte ich, welcher Schlag mir nunmehr bevorstand. Die kleinen, gefährlichen Augen musterten mich nachdenklich.

»Möchten Sie einen Teller Suppe und etwas Brot?«

Das hatte ich nicht erwartet.

»Danke, nein. Ich habe keinen Hunger.«

»Eine Zigarette vielleicht?«

Er holte eine zerknüllte Packung Gauloises heraus. Diese aufmerksame Geste kam mir äußerst verdächtig vor, aber ich griff trotzdem zu.

»Vielen Dank.«

Er hielt mir seine Zigarette zum Anzünden hin, dann wischte er sich sorgfältig den Schweiß von der Oberlippe und hinter den Ohren.

»Warum haben Sie zugegeben, dass Sie die Aufnahmen gemacht haben?«, sagte er schließlich.

»Ist das ein offizielles Verhör?«

Mit dem inzwischen feuchten Taschentuch wischte er sich Zigarettenasche vom Bauch.

»Nein. Offiziell wird Sie der Untersuchungsrichter des Bezirks verhören. Damit habe ich nichts zu tun. Ich bin Angehöriger der Sûreté Générale, Abteilung Marinenachrichtendienst. Sie können ganz offen mit mir reden.«

Ich verstand nicht, wie er erwarten konnte, dass ein Spion mit einem Mitarbeiter des Marinenachrichtendienstes offen reden würde, ging auf diesen Punkt aber nicht weiter ein. Ich persönlich hatte sehr wohl die Absicht, so offen wie möglich zu sein.

»Na gut. Ich habe es zugegeben, weil ich die Aufnahmen tatsächlich gemacht habe. Das heißt, alle bis auf die ersten zehn.«

»Schön. Und wie erklären Sie sich die ersten zehn?«

»Ich vermute, dass der Film in meiner Kamera ausgetauscht wurde.«

Er runzelte die Stirn. Ausführlich schilderte ich, was ich seit meiner Abreise aus Nizza alles unternommen und welche Überlegungen hinsichtlich des Urhebers der mich belastenden Fotos ich angestellt hatte. Er hörte mir zu, war aber sichtlich nicht beeindruckt.

»Das ist natürlich kein Beweis«, sagte er schließlich.

»Ich wollte auch nichts beweisen. Ich versuche nur, eine vernünftige Erklärung für diese absurde Geschichte zu finden.«

»Der Kommissar glaubt die Erklärung schon gefunden zu haben. Ich verstehe ihn sogar. Die Indizien sprechen eindeutig gegen Sie. Die Fotos sind auf einem Film, der, wie Sie selbst zugegeben haben, Ihr Eigentum ist. Außerdem sind Sie eine verdächtige Person. So einfach ist das.«

Ich sah ihm in die Augen.

»Aber überzeugt sind Sie nicht.«

»Das habe ich auch nicht behauptet.«

»Nein, aber sonst säßen Sie kaum hier und würden sich mit mir unterhalten.«

Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.

»Sie überschätzen sich. Ich bin nicht an einzelnen Spionen interessiert, sondern an den Leuten, für die sie arbeiten.«

»Dann vergeuden Sie Ihre Zeit!«, rief ich wütend. »Die Aufnahmen sind nicht von mir, ich selbst arbeite ausschließlich für Monsieur Mathis, der mich dafür bezahlt, dass ich Sprachen unterrichte.«

Doch er schien nicht zuzuhören. Es entstand eine Pause.

»Der Kommissar und ich waren uns darin einig«, sagte er schließlich, »dass Sie entweder ein sehr geschickter oder ein sehr dummer Spion sind oder aber unschuldig. Ich darf vielleicht darauf hinweisen, dass der Kommissar eher von der zweiten Möglichkeit überzeugt ist. Ich selbst war mir von Anfang an ziemlich sicher, dass Sie unschuldig sind. Sie waren viel zu einfältig. Kein Profi würde sich derart trottelig anstellen.«

»Besten Dank.«

»Ihre Dankesbezeugungen können Sie sich schenken, Vadassy. Es war eine Schlussfolgerung, die mir überhaupt nicht gefiel. Jedenfalls kann ich in der jetzigen Situation nichts für Sie tun. Verstehen Sie bitte. Der Kommissar hat Sie festnehmen lassen. Vielleicht sind Sie unschuldig, aber es wird mich nicht im Geringsten stören, wenn Sie ins Gefängnis wandern.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Andererseits«, fuhr der Dicke fort, »muss ich unbedingt wissen, wer die Aufnahmen tatsächlich gemacht hat.«

Wieder entstand eine Pause. Mir schien, als erwartete er eine Reaktion von mir. Doch ich schwieg. Nach einer Weile fuhr er fort.

»Sollte der wahre Schuldige entdeckt werden, Vadassy, dann könnten wir etwas für Sie tun.«

»Etwas für mich tun?«

Er räusperte sich laut.

»Nun ja, Sie haben keinen Konsul, der sich für Sie verwenden könnte. Es ist daher unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Sie anständig behandelt werden. Wenn Sie mit uns kooperieren, brauchen Sie sich diesbezüglich keine Gedanken zu machen.«

Ich ahnte schon, worauf diese dunklen Andeutungen hinausliefen. Ich packte meine Knie, um zu verhindern, dass ich dem Dicken an die Gurgel sprang.

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß …« Ich stockte. Ein Kloß saß in meiner Kehle. Ich brachte kein Wort mehr heraus. Der Dicke glaubte offenbar, dass ich seinen Namen wissen wollte.

»Beghin«, sagte er, »Michel Beghin.«

Er machte eine Pause und schaute wieder auf seinen Bauch. Es war unerträglich heiß in der Zelle. Sein gestreiftes Hemd wurde immer feuchter. »Trotzdem glaube ich,« fügte er hinzu, »dass Sie uns helfen können.«

Er stand auf, ging zur Zellentür und schlug einmal mit der Faust dagegen. Ein Schlüssel drehte sich laut im Schloss, dann sah ich draußen die Uniform eines Polizisten. Der Dicke murmelte etwas Unverständliches, die Tür ging wieder zu, er blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Eine Minute später ging die Tür auf. Er nahm von dem Polizisten etwas entgegen, die Tür ging wieder zu, er drehte sich um. In seiner Hand war ein Fotoapparat.

»Erkennen Sie ihn?«

»Natürlich.«

»Schauen Sie genau hin! Ich möchte wissen, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt.«

Ich nahm die Kamera, drückte auf den Auslöser, überprüfte den Sucher und den Entfernungsmesser. Ich nahm das Objektiv heraus und öffnete die Rückwand. Ich guckte in sämtliche Ecken. Schließlich steckte ich ihn wieder in die Tasche.

»Mir fällt nichts Besonderes auf. In genau diesem Zustand habe ich ihn zum letzten Mal in der Hand gehabt.«

Der Dicke holte einen zusammengefalteten Zettel aus der Hosentasche und hielt ihn hoch.

»Das hier haben wir in Ihrer Brieftasche gefunden, Vadassy. Schauen Sie es sich an.«

Ich nahm das Papier und faltete es auseinander. Dann blickte ich zu ihm hoch.

»Na und?«, sagte ich vorsichtig. »Das ist der Versicherungsschein für die Kamera. Sie haben ja selber darauf hingewiesen, dass es ein teurer Apparat ist. Ich habe ein paar Francs aufgewendet, um mich gegen Verlust und«, fügte ich spitz hinzu, »gegen Diebstahl abzusichern.«

Mit einem geduldigen Seufzer nahm er den Zettel wieder an sich.

»Sie können froh sein«, sagte er, »dass die französischen Justizbehörden sich nicht nur um Verbrecher, sondern auch um Vollidioten kümmern. Diese Police besagt, dass Josef Vadassy bei Verlust einer Zeiss Kontax mit der Seriennummer F/64523/2 Anspruch auf Entschädigung hat. Bitte schauen Sie nach, welche Seriennummer der Apparat hat, den Sie in der Hand halten.«

Ich sah nach. Mein Herz blieb stehen. Die Kamera hatte eine andere Seriennummer.

»Demnach ist das nicht meine Kamera«, rief ich erregt. »Aber wieso waren meine Aufnahmen auf dem Film?«

Im Nachhinein muss ich zugeben, dass der Ausdruck der Verzweiflung auf dem Gesicht des Dicken mehr als gerechtfertigt war. Ich hatte wirklich nichts begriffen. Mit noch höherer Fistelstimme antwortete er:

»Weil nicht der Film vertauscht wurde, Sie Dämlack, sondern die Kamera. Dieser Fotoapparat ist ein sehr gebräuchliches Standardmodell. Mit dieser Kamera, in der sich der Film mit den Aufnahmen von Toulon befand, haben Sie Ihre blödsinnigen Eidechsen fotografiert. Sie haben sogar bemerkt, dass im Fensterchen eine andere Zahl zu sehen war als in Ihrem eigenen Fotoapparat. Anschließend haben Sie den Film herausgenommen und ihn zur Drogerie gebracht. Der Inhaber hat die zehn Aufnahmen gesehen und wie jeder Dummkopf erkannt, was darauf war, und den Film zur Polizei gebracht. Ist jetzt der Groschen bei Ihnen gefallen, Sie Hornochse?«

»Das heißt«, sagte ich, »als Sie so großmütig davon sprachen, dass Sie mich nicht für den Täter hielten, waren Sie von meiner Unschuld schon längst überzeugt. In Anbetracht dieser Tatsache möchte ich gern wissen, mit welchem Recht Sie mich hier noch festhalten.«

Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die Glatze und beobachtete mich mit halb geschlossenen Augen.

»Nein, dass Sie unschuldig sein müssen, wurde mir erst durch Ihr Verhalten während des Verhörs klar. Sie sind offenkundig etwas beschränkt. Der Haftbefehl war Ihnen längst eröffnet worden, als wir diesen Versicherungsschein entdeckten. Aber ich habe Ihnen bereits erklärt, dass Ihre Verhaftung nichts mit mir zu tun hat. Mir sind die Hände gebunden. Der Kommissar ist wütend auf Sie, denn durch dieses Dokument wird seine Anklageschrift hinfällig. Er hat sich im Interesse der Gerechtigkeit aber bereit erklärt, drei Anklagepunkte fallenzulassen. Es bleibt nur noch einer.«

»Und zwar?«

»Sie waren im Besitz von Fotografien, die geeignet sind, die Sicherheit der Republik zu gefährden. Das ist ein ernstes Delikt. Dieser Anklagepunkt bleibt bestehen, es sei denn«, fügte er bedeutsam hinzu, »es sei denn, wir finden eine Möglichkeit, ihn ebenfalls zu streichen. Ich werde mich beim Kommissar natürlich für Sie verwenden, aber wenn ich nicht eine gute Begründung für diesen ungewöhnlichen Schritt liefern kann, wird Ihnen der Prozess gemacht. Das dürfte mindestens Ausweisung bedeuten.«

»Sie meinen«, sagte ich eiskalt, »wenn ich nicht bereit bin zu kooperieren, wie Sie es nennen, wird an diesem lächerlichen Anklagepunkt festgehalten?«

Statt zu antworten, zündete er sich eine vierte Zigarette an, die er locker zwischen die Lippen klemmte. Er paffte und starrte dabei gedankenverloren auf die nackte Wand, als wäre sie ein Gemälde und er ein Kunsthändler, der sich überlegte, ob er mitbieten solle.

»Die Kameras«, sagte er, »könnten aus dreierlei Gründen vertauscht worden sein. Entweder wollte jemand Ihnen eins auswischen. Oder jemand wollte die Aufnahmen ganz schnell loswerden. Oder aber das Ganze war ein Versehen. Die erste Hypothese können wir wohl außer Acht lassen, sie ist zu konstruiert. Es war ja nicht unbedingt vorauszusehen, dass Sie den Film zum Entwickeln bringen und der Drogeriebesitzer zur Polizei gehen würde. Die zweite Hypothese ist irreal. Die Fotos waren wertvoll, und es bestand kaum die Möglichkeit, später wieder an sie heranzukommen. Außerdem waren sie in der Kamera gut aufgehoben. Nein, ich glaube, es war ein Versehen. Die Kameras sind identisch und stecken in den gleichen Taschen. Sie selbst haben das bewiesen, denn es fiel Ihnen kein Unterschied auf. Aber wo und wann wurden die Apparate vertauscht? Nicht in Nizza, denn Sie haben mir ja erklärt, dass Sie den Fotoapparat mit ins Hotel genommen und dort eingepackt haben. Nicht während Ihrer Reise, denn die Kamera befand sich die ganze Zeit in Ihrem verschlossenen Koffer. Die Sache ist im Réserve passiert. Wenn es ein Zufall war, konnte es nur in einem der Gemeinschaftsräume passiert sein. Und wann? Sie haben Ihre Kamera gestern Morgen zum Frühstück mit hinuntergebracht, sagen Sie. Wo haben Sie gefrühstückt?«

»Auf der Terrasse.«

»Hatten Sie die Kamera dabei?«

»Nein. Ich habe sie mitsamt Etui auf einem Stuhl in der Eingangshalle liegen lassen. Später wollte ich sie wieder an mich nehmen, wenn ich in den Garten ging.«

»Wann haben Sie gefrühstückt?«

»Gegen halb neun.«

»Und wann sind Sie in den Garten gegangen?«

»Etwa eine Stunde später.«

»Und dann haben Sie die Aufnahmen gemacht?«

»Ja.«

»Und wann sind Sie zurückgekehrt?«

»Es war kurz vor zwölf.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Ich bin sofort auf mein Zimmer gegangen und habe den belichteten Film herausgenommen.«

»Bevor Sie anfingen, die Eidechsen zu knipsen, haben Sie Ihren Fotoapparat also nur eine Stunde lang, zwischen halb neun und halb zehn, unbeaufsichtigt gelassen?«

»Ja.«

»Und in dieser Zeit lag er auf einem Stuhl neben der Tür, die zum Garten führt?«

»Ja.«

»Denken Sie jetzt bitte scharf nach! Lag der Fotoapparat noch genauso da, als Sie ihn wieder an sich nahmen?«

Ich versuchte, mich genau zu erinnern.

»Nein«, sagte ich schließlich. »Ich hatte ihn mit dem Gurt der Tasche über eine Stuhllehne gehängt. Als ich ihn wieder an mich nahm, lag er auf einem anderen Stuhl. Ich weiß noch, in diesem Moment dachte ich: Vielleicht hat ein Hotelangestellter die Kamera gesehen und angenommen, dass sie so besser aufgehoben ist.«

»Sie haben nicht nachgesehen, ob sie noch dort hing, wo Sie sie hingehängt hatten?«

»Nein. Ich sah sie ja auf dem Stuhl liegen und nahm sie an mich. Warum sollte ich woanders nachsehen?«

»Vielleicht wäre Ihnen aufgefallen, ob über der Stuhllehne noch eine zweite Kamera hing.«

»Vielleicht auch nicht. Der Gurt ist so lang, dass die Kameratasche unterhalb der Sitzhöhe hängen würde.«

»Gut. Wir haben also folgende Situation: Sie hängen eine Kamera über eine Stuhllehne. Bei Ihrer Rückkehr bemerken Sie eine identisch aussehende Kamera auf einem anderen Stuhl. In der Annahme, dass es sich um die Ihre handelt, behändigen Sie sie und lassen Ihre Kamera dort, wo Sie sie hingehängt haben, an der Lehne eines Stuhls. Vermutlich kommt der Besitzer der anderen Kamera später, stellt fest, dass seine Kamera nicht mehr auf dem Stuhl liegt, schaut sich um und entdeckt Ihre.«

»So könnte es gewesen sein.«

»Waren alle Gäste unten beim Frühstück?«

»Das weiß ich nicht. Das Réserve hat nur achtzehn Zimmer, und nicht alle sind belegt. Ich war ja erst am Abend zuvor eingetroffen. Ich kann es wirklich nicht sagen. Aber wer herunterkommt und durch die Halle geht, muss an diesen Stühlen vorbei.«

»Dann, mein lieber Vadassy, können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass diese Kamera einem der Gäste im Réserve gehört und dass er diese Aufnahmen gemacht hat. Nur wer? Ich denke, das Personal scheidet aus, denn sie kommen alle aus St. Gatien oder benachbarten Ortschaften. Wir werden sie natürlich befragen, aber sie werden uns vermutlich nicht weiterhelfen. Es gibt außerdem zehn Gäste sowie den Hoteldirektor nebst Ehefrau. Also, Vadassy, der Täter hatte Ihre Kontax, den gleichen Apparat wie diesen hier. Sie werden verstehen, dass wir unmöglich sämtliche Gäste verhaften und alles Gepäck durchsuchen können. Abgesehen davon, dass es sich zum Teil um Ausländer handelt, deren konsularische Vertreter uns Schwierigkeiten machen könnten, ist nicht gesagt, dass wir die Kamera finden. In diesem Fall wäre der Betreffende gewarnt, und wir stünden hilflos da. Die Ermittlungen«, sagte er anzüglich, »sollte jemand durchführen, dessen Anwesenheit keinen Verdacht erregt und der ganz unauffällig feststellen könnte, wer mit einer Kontax gesehen wurde.«

»Meinen Sie etwa mich?«

»Ja. Finden Sie einfach heraus, wer von den Gästen eine Kamera besitzt. Wer eine Kamera, aber keine Kontax hat, ist eventuell weniger verdächtig als solche Personen, die gar keine Kamera haben. Derjenige, der Ihre Kamera hat, könnte nämlich die Verwechslung inzwischen bemerkt haben. In diesem Fall dürfte er Ihre Kamera verstecken, um zu vermeiden, dass er als Besitzer der Kamera mit den Fotos von Toulon identifiziert wird. Außerdem«, fügte er versonnen hinzu, »könnte er versuchen, sich seine Kamera wieder zurückzuholen. Sie müssen also auf der Hut sein.«

»Soll das ein seriöser Vorschlag sein?«

Er musterte mich kühl.

»Glauben Sie mir, mein Freund, ich wäre sehr froh, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe. Ich habe nämlich das Gefühl, dass Sie nicht besonders hell sind.«

»Aber ich stehe doch unter Arrest. Der Kommissar wird kaum bereit sein, mich freizulassen«, sagte ich spitz.

»Sie stehen auch weiterhin unter Arrest, werden aber vorübergehend auf freien Fuß gesetzt. Nur Köche weiß von Ihrer Verhaftung. Wir waren in Ihrem Zimmer. Das gefiel ihm nicht, aber es wurde ihm erklärt, dass es sich um eine Passangelegenheit handelt und dass Sie Ihre Einwilligung gegeben hätten. Sie werden ihm sagen, dass es ein Missverständnis war und dass Sie irrtümlich verhaftet wurden. Sie werden sich jeden Morgen telefonisch bei mir melden, und zwar vom Dorfpostamt aus. Wenn Sie mich zu anderen Zeiten sprechen wollen, wenden Sie sich an den Kommissar.«

»Samstag früh muss ich aber nach Paris abreisen. Am Montag fängt das neue Schuljahr an.«

»Sie werden erst fahren, wenn wir es Ihnen erlaubt haben. Sie werden, abgesehen von Polizeidienststellen, auch keine Verbindung mit irgendwelchen Personen außerhalb des Réserve aufnehmen.«

Ein grässliches Gefühl von Hilflosigkeit überkam mich. Ich sprang hoch.

»Das ist Erpressung«, rief ich verzweifelt. »Ich werde meine Stelle verlieren.«

Beghin stand auf und musterte mich. Aufgrund seiner Leibesfülle wirkte er nicht besonders groß, aber ich musste aufsehen, wenn ich ihm in die kleinen Augen blicken wollte.

»Hören Sie, Vadassy«, sagte er, und in seiner absurden Stimme lag ein unangenehmer Ton, der sehr viel gefährlicher klang als das ruppige Gepolter des Kommissars. »Sie werden das Réserve bis auf weiteres nicht verlassen. Sollten Sie versuchen, ohne unsere Erlaubnis abzureisen, werden Sie wieder verhaftet, und ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie per Schiff nach Dubrovnik deportiert werden und dass die jugoslawischen Polizeibehörden Ihre Akte erhalten. Und merken Sie sich gut: Je eher wir herausfinden, wer diese Aufnahmen gemacht hat, desto früher können Sie gehen. Aber versuchen Sie keine krummen Dinger, und schreiben Sie keine Briefe. Entweder Sie halten sich an unsere Anweisungen, oder Sie werden deportiert. Sie können ohnehin von Glück reden, wenn wir auf eine Deportation verzichten. Also, seien Sie vorsichtig. Haben Sie mich verstanden?«

Ich hatte sehr gut verstanden. Eine Stunde später ging ich die Straße entlang, die vom Kommissariat ins Dorf führte. Die Kontax hing über meiner Schulter. Als ich die Hand in die Hosentasche steckte, fühlte ich einen kleinen Zettel, auf dem die Namen der Gäste standen.

Es war ungefähr halb sechs, und die Boote im Hafen lagen schon im Schatten. An der Drogerie ging ich vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ein paar Kinder spielten in der schmalen Straße. Aus Unachtsamkeit stieß ich mit einem kleinen Mädchen zusammen, sodass es hinfiel und sich das Knie schrammte. Ich ging hin, um der Kleinen aufzuhelfen. Dabei rutschte mir die Kameratasche von der Schulter, und bevor ich den Trageriemen wieder hochgeschoben hatte, lief die Kleine schreiend davon. Verfolgt von sechs, sieben Gören, die mich laut beschimpften, ging ich weiter bergan. Im Chor riefen sie:

Bonjour Tonton, bonjour Tintin,

Pige ce vieux radin!

Bonjour Tonton, bonjour Tintin,

Pige ce vieux radin!

Als ich das Réserve schließlich erreichte, kam mir Köche aus seinem Büro entgegen. Er trug Bluejeans, Sandalen und ein Sporthemd, und nach den nassen Haaren zu urteilen, war er gerade schwimmen gewesen. Mit seiner hochgewachsenen, schmalen, schlaksigen Figur und seiner trägen Art sah er nicht wie ein typischer Hoteldirektor aus.

»Ah, Monsieur!«, rief er mit einem dünnen Lächeln. »Da sind Sie ja wieder! Hoffentlich war es nichts Ernstes. Heute Vormittag war die Polizei hier. Sie sagten, Sie hätten Ihre Erlaubnis, Ihren Pass mitzunehmen.«

Ich bemühte mich, möglichst unwirsch zu gucken.

»Nein, nichts Besonderes. Es war nur eine Verwechslung, und es dauerte wahnsinnig lange, bis sie den Irrtum bemerkten. Ich habe offiziell Beschwerde eingelegt. Sie haben mir ein Mittagessen spendiert und sich entschuldigt. Was kann man da schon machen? Die französischen Polizisten sind wirklich eine lachhafte Bande.«

Er machte ein ernstes Gesicht, äußerte Erstaunen und Empörung und gratulierte mir zu meiner Langmut. Er nahm mir meine Geschichte ganz offensichtlich nicht ab. Ich konnte es ihm kaum verdenken. Ich fühlte mich zu schwach, um einigermaßen plausibel den empörten Staatsbürger zu spielen.

»Ach, übrigens«, sagte er beiläufig, während ich schon zur Treppe ging, »Sie reisen Samstag ab, nicht wahr?«

Er wollte mich also loswerden. Ich tat, als wäre ich noch unentschlossen.

»Ich hatte es eigentlich vor«, sagte ich. »Aber vielleicht bleibe ich noch ein, zwei Tage länger. Das heißt«, fügte ich mit einem kühlen Lächeln hinzu, »wenn die Polizei nichts dagegen hat.«

Er zögerte keine Sekunde.

»Sehr schön«, sagte er, doch es klang nicht besonders enthusiastisch.

Während ich mich wieder zum Gehen wandte, war mir, als ruhte sein Blick auf der Kamera, aber vielleicht bildete ich es mir nur ein.

Nachruf auf einen Spion

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