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Die Fänger im Gebüsch

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«Achtung, in maximal zwei Minuten kommt eine Frau mit Hund!»

Pergynti registriert meine Warnung mit einem beiläufigen Nicken und duckt sich ein wenig. Was genau gar nichts bringt. Sollte die Frau wirklich an dieser Stelle des Uferwegs stehenbleiben und ihrem herumschnüffelnden Hund nachgehen, falls er durch den schmalen Streifen aus Haselnussstauden und Fichten trottet, dann sind wir ihrem Blick ausgeliefert. Und ihrem Handy. Und den Fotos, die dieses Handy machen könnte. Und den Betrachtern, denen diese Fotos in den sogenannten sozialen Medien vor Augen kommen. Im letzten Winkel meiner Vorstellungsbühne nimmt sogar schon der Stiftungsrat Platz, um – aus gegebenem Anlass – eine außerordentliche Sitzung abzuhalten. Jemand hat ein Bild vom Stipendiaten gesehen, das, gelinde gesagt, irritierend war. Deshalb die Sitzung und ihre Dringlichkeit.

«Zieh die verdammte Schnur raus», zische ich ihm leise und eindringlich zu. «Wenigstens vorübergehend. Die beiden kommen immer näher und der Hund ist von der virulenten Sorte. Der verschwindet alle paar Meter im Wald.»

«Einmal lasse ich ihn noch runter», antwortet Pergynti ignorant, ohne sich nach mir umzublicken. Er hockt auf dem schmalen Sandstreifen des Ufers, so nahe an der Langete, dass seine schwarzen Lederschuhe immer wieder von den Ausläufern der Wellen umspült werden. Aber selbst wenn das kein kaltes Wasser wäre, sondern ein Strom glühend heiße Lava, Pergynti wiche keinen Schritt zurück. Das war schon immer so. Sobald ihn das Fischfieber ergreift, ist er nur noch äußerlich ein wohlbeleibter Hundertkilomann mit Topffrisur. Innerlich hat er längst die Transformation in einen Werwolf vollzogen, von dessen Reißzähnen der Will-haben-Speichel tropft.

«Blpps», machen der Haken, der Wurm und das Blei, als sie von Pergynti geworfen etwas stromaufwärts in den Wellen landen. Er fischt mit dem Handzeug, einer auf das Wesentliche reduzierten Schwarzfischermethode, die ohne Stange und Rolle auskommt und nur mit Schnur, Haken und Köder operiert. Theoretisch lässt sich dieses Zeugs schnell und rückstandslos verstecken. Aber in der Praxis haben wir uns bei allzu hektischen Abgängen und Fluchten mehr als einmal den offenen Haken durch die Hosentasche in den Oberschenkel gerammt. Und da wir immer mit Widerhaken fischen, kann man das Entfernen eines gut im eigenen Muskelfleisch sitzenden Hakens schon als maßgeblichen Teil der Sühne betrachten, deren Rest uns im Jenseits erwartet. Der Imre, unser Codewort für Wurm, trudelt wie ein schwereloser Astronaut durch das Universum des Wassers und sinkt langsam aus der sichtbaren in die unsichtbare Zone. Während ich schräg über Pergynti auf den Wurzeln einer Fichte knie, versuche ich, sowohl seine Aktionen wie auch die Bewegungen draußen am Gehweg im Auge zu behalten.

Die Stelle, an der wir uns befinden, liegt ungefähr einen Kilometer entfernt von der Langenthaler Stadtgrenze. Hier schlängelt sich der Fluss zwischen Feldern und dem Rand eines Waldes Richtung Aare. Bei meinen Erkundungsgängen habe ich diesen Ort zu unserem ersten Angriffspunkt erkoren. Die knietiefe Kehre ist fischereilich vielversprechend und liegt zumindest so weit vom Gehweg entfernt, dass die Spaziergänger, Jogger und Hundeausführer nicht ohne weiteres auf Gestalten aufmerksam werden, die im Schatten der Bäume am Ufer kauern.

«Biss!», ruft Pergynti und zieht gleichermaßen hektisch wie umsichtig an der dünnen Nylonschnur. Es ist nicht leicht, die abfedernde Funktion einer Fischerstange mit der vergleichsweise kurzen und viel weniger reaktionsschnellen Aktion einer menschlichen Hand zu kompensieren. Besonders bei großen Fischen ist die Chance hoch, dass sie durch einen spontanen, heftigen Ruck vom Haken loskommen.

«Die ist gar nicht so klein», kommentiert Pergynti das noch unsichtbare Gewicht, das in einigen Metern Entfernung panisch über den Sandboden pflügt. «Mindestens Speise!»

Speise, unsere Abkürzung für Speisefischgröße. Ein Tier mit einer Länge von mindestens dreißig Zentimetern. Vor gut fünfundzwanzig Jahren, als wir beide noch in Linz studierten, hatten wir gemeinsam ein Jahr lang eine Fischzucht gepachtet. Von deren Besitzer, einem grobschrotigen Wicht, der, wenn er überhaupt sprach, nur mit Einzelworten oder Nennformgruppen operierte, stammt dieser Begriff. Mit Speise markierte er das endlich vertilgbare Ziel aller fischzüchterischen Bemühungen.

«Wörff?», kläfft ein Hund, der plötzlich neben mir steht. Er ist zu überrascht, um richtig zu bellen, das sieht man an seinem Blick. Hier hinter den Bäumen hat er maximal ein ängstliches Karnickel erwartet. Aber jetzt, mit einem Schlag, steht er vor zwei ausgewachsenen Feuerkobolden, deren Aura in blauen Flammen steht.

«Braver Hund», lobe ich ihn, während Pergynti noch immer damit beschäftigt ist, den Fisch zu drillen. Der Hund sieht nicht wirklich gefährlich aus, aber aus seinem Verhalten spricht der ehrliche Wille, sich hier und jetzt mit der Situation grundlegend vertraut zu machen und, wenn möglich, konstruktive Beiträge zu leisten. Mit seinem um Verständnis und Sachlichkeit bemühten Blick kommt er mir vor wie ein junger Lehrling, der zum ersten Mal im neuen Betrieb erscheint und noch nicht recht einordnen kann, was die beiden älteren Angestellten da tun. Aber er ist mit jeder Faser seines Herzens bereit, seinen Hund zu stellen und mitzuwirken, auch wenn das vorerst nur bedeutet, dass er hier stehenbleibt, mit dem Schwanz wedelt und herzhaft hechelt.

«Brüno!», ruft sein Frauchen von draußen vorwurfsvoll in das Uferdickicht. Ihre Stimme hat ungefähr dreißig Meter Luftlinie zurückgelegt. Wenn überhaupt. Pergynti und ich waren schon dutzende Male in solchen und schlimmeren Situationen. Wirklich gewöhnt habe ich mich nie daran.

«Es ist eine Äsche!», zischt Pergynti voller Entzücken, weil er den Fisch mittlerweile auf wenige Meter an sich herangeführt hat.

«Brüno!», tönt es noch näher als beim ersten Mal.

«Dein Frauchen ruft», flüstere ich und nicke Brüno aufmunternd zu, mit einem verbissenen Grinsen, das er, wenn er nur halbwegs bei Birne ist, als Startschuss für einen möglichst beschleunigten Abgang interpretieren könnte. Brüno, soviel ist spürbar, gerät tatsächlich in einen moralischen Konflikt. Draußen vor der dürren Hecke bewegt sich die Silhouette seiner ahnungslosen Ernährerin auf uns zu, aber hier drinnen am Fluss ist es auch ganz nett. Da befinden sich seine beiden neuen Freunde bei ihrer hochinteressanten Tätigkeit.

«Gleich hab ich sie», mümmelt Pergynti.

Viel zu lange, denke ich. Bis er den Fisch heranführt, mit der Hand fixiert, abschlägt, vom Haken befreit, irgendwo am Ufer versteckt und das Handzeug verstaut, kann Brünos Besitzerin nicht nur ein Foto von uns machen, sondern eine Staffelei aufstellen und uns mit Ölfarben verewigen.

Ich schnappe mir einen in Armgriffweite liegenden Ast, mit dem ich Brüno winke.

«Da schau, Brüno», wispere ich, «was für ein feines Stöckchen. Sieht aus wie eine Salami. Und wie gut und weit die fliegen kann, oho, oho!»

Von der Fichte weg trabe ich am Ufer entlang flussabwärts. Hoffentlich erkennt Brüno diese Einladung als Chance auch sich und seinen dynamischen Hundekörper fortzubewegen. Ungefähr zweihundert Meter vom Ausgangspunkt entfernt, trete ich aus dem Wald auf den Gehweg hinaus und nestle dezent an meiner Jacke. Aufmerksame Wanderwegbenutzer könnten aus dieser Geste lesen, dass ich einem natürlichen Bedürfnis folgend im Wald verschwunden war und jetzt meinen Spaziergang fortzusetzen gedenke. Als ich es endlich wage, meinen Blick zu heben und dorthin zu lenken, wo Brüno im Wäldchen Richtung Fluss verschwunden war, sehe ich, dass er mitten am Gehweg vor seinem Frauchen sitzt und eine pädagogische Nachschulung erhält. Was sie sagt, kann ich nicht verstehen, aber an der nachdrücklichen Art und Weise, wie sie es ihm mit erhobenem Zeigfinger eintrichtert, wird mir klar, dass es sich erstens um ernste Worte handelt und dass er zweitens eine durchaus harsche Verhaltensanweisung erhält.

«Ja, böser Brüno», denke ich zustimmend, «horch genau zu und überleg dir in Zukunft, wen du ankläffst und wie lang du Maulaffen feilhältst, wenn andere tragische Figuren mit heruntergelassener Hose vor dir stehen.»

Während Brüno und sein Frauchen sich wieder in Bewegung setzen, zischt ein junger Mann mit dem Rad vorbei. Der macht mir keine Sorgen. Von Radfahrern geht wenig Gefahr aus. Sie sind zu schnell, zu verbissen, zu fokussiert. Vom Velo aus verdünnt sich die Wirklichkeit zur Kontur einer endlosen Schlange. Nur die Fußgängerwahrheit bietet genug Weite und Gegenwart, um auch ganz besonders heimlichen Kriechern wie Pergynti und mir auf die Spur zu kommen.

Brüno und sein Frauchen marschieren in meine Richtung. Ich gehe ihnen voraus, wobei ich meine Schritte langsam und unauffällig beschleunige. Nach ein paar hundert Metern kommt eine kleine Brücke, die ich überquere, bevor ich auf der anderen Flussseite in den Wald eintrete. Dort bewege ich mich auf einem Forstweg wieder flussaufwärts, zurück ins Einsatzgebiet.

Nachdem ich die Höhe meines Ausgangspunktes erreicht habe, betrete ich eine Fichtenmonokultur. Aus dem Halbschatten, verborgen hinter den Baumstämmen, spähe ich über den Fluss und beobachte Pergynti. In seiner Fokussiertheit bemerkt er nicht, wie ich seine Handgriffe betrachte, seine ungebrochene Emsigkeit, seinen unbeugsamen Willen, diesem Moment alles abzutrotzen, ihn bis auf den letzten Tropfen zu melken.

Im Gegensatz zu mir hat er im Lauf der heutigen Aktion so gut wie kein Adrenalin verbraucht. Die drei Fische, die Pergynti bis jetzt gefangen hat, einer Speise, die beiden anderen deutlich kleiner, reichen für ihn und mich als Abendessen. Oder für Jesus als Basis für ein kleines Wunder. Sie reichen aber mitnichten für den Wolf in Pergynti, der noch unbedingt sein Rudel in Zürich versorgen möchte. Dazu gehören Irina, Pergyntis Frau, und Eos, seine jüngste Tochter. Im Gegensatz zu den beiden erwachsenen Töchtern, die in Österreich leben, geht Eos noch zur Schule. Sie hat viel von Pergyntis Klugheit geerbt, braucht aber dennoch ständig Nachhilfelehrer, die ihr dabei helfen, im Wahnsinn der besten Zürcher Mittelschule am Ball zu bleiben. Bei unserem letzten Gespräch hat Irina die teilweise unkindlichen Anforderungen des schweizerischen Schulbetriebs ausführlich kritisiert, auch um mir zu erklären, warum einer von Eos’ Mitschülern Selbstmord begangen hat. Im Alter von dreizehn Jahren. Eos selbst sei in dieser Hinsicht nicht gefährdet, dafür wäre ihr psychisches Korsett zu stabil. Aber, würden die Nachhilfelehrer nicht ständig mit ihr lernen, dann müsste Eos diese Eliteschule zweifellos aufgeben. Im Gegensatz zu seinen Kindern kann Pergynti mit Druck umgehen. Sonst wäre er nie an die Spitze der wissenschaftlichen Rankings vorgestoßen. Das inkludierte vierzehnstündige Arbeitstage sechs Mal in der Woche nebst Familiensonntagen, die er tapfer durchlächelte, indem er dem kindlichen Um-ihn-herum-Gehopse gutmütige Blicke aus Augen zu schenken versuchte, die sich vor lauter Müdigkeit zu Schlitzen verengten. Gelesen hat er, wenn überhaupt, nur im Flugzeug. Ab und zu ein paar Krimis, bevor er im Sitzen eingeschlafen ist.

Jetzt unterrichtet er Technische Mathematik und Physik an der ETH in Zürich. Dort weiß niemand, dass er eigentlich Pergynti heißt. Alle kennen ihn nur unter seinem bürgerlichen Namen Harald Warbach. Dieses monotone Vierfach-a in seinem bürgerlichen Namen erschien mir schon vor vierzig Jahren als fade, phonetische Gerade und völlig ungeeignet, um diese manische Unruhe abzubilden, mit der er damals von einer Aktivität zur anderen sprang. Sammelte ich ein paar Käfer für das Schulfach Zoologie, dann besah er sich die Sache kurz und stürmte, nachdem er sie gutgeheißen hatte, sofort ans Landesmuseum. Dort trat er der entomologischen Arbeitsgemeinschaft bei und überschwemmte die alten, gleichermaßen erfreuten wie fassungslosen Professoren mit seiner Energie. Er brachte die ehrwürdige Sammlung auf Vordermann und um ihre schönsten Käfer-Exemplare. Spielte ich so nebenbei Geige, dann fing Pergynti mit Gitarre an. Noch vor seiner Pubertät saß er acht bis zehn Stunden am Tag an der teuersten Konzertgitarre, die ihm sein Vater sofort nach der Aufnahme ins Konservatorium gekauft hatte. Pergynti spielte nicht einfach, er zerfetzte die Saiten auf der Suche nach einem Ersatz für die Zuneigung, die ihm seine Workaholic-Eltern vorenthalten mussten, weil sie damit beschäftigt waren Stiere zu schlachten, in Stückchen zu zerlegen und als Steaks und Schnitzel zu verkaufen. Pergynti war der erste Sohn des ersten Fleischhauers am Stadtplatz einer Linzer Satellitenstadt. Der war klug genug, seinem Filius keine Wurst in die Wiege zu legen. Pergynti konnte lernen, was er wollte, solange er nur viel lernte. Und er lernte nicht nur viel, er stopfte die Welt regelrecht in sich hinein. Damals war ich zwölf Jahre alt und er neun.

In den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, versuchte jeder von uns auf seine Weise dem Leben ein Maximum an Erfolg abzupressen. Um so viel zu verdienen, wie er das jetzt tut, zahlte Pergynti einen hohen Preis. Er verwandelte sich in einen derjenigen Uni-Professoren, die ihr Nischenwissen für das zentrale Menschheitswissen halten und es an den Bestbieter verkaufen. Dafür begegnet er dem Rest der Welt mit einem nachsichtigen Lächeln, unter dem sich das schadenfrohe Mitgefühl über die intellektuelle Kleinheit der Zurückgebliebenen nur selektiv verbirgt. Dass ich nur an einer Provinz-Musikschule kleine Kinder von unbedeutenden Leuten unterrichte, fand Pergynti schon immer irgendwie rührig. Aber richtig glücklich hat ihn erst meine Erfolglosigkeit als Dichter gemacht.

«Siehst du», sagt er manchmal, wenn eine winzige Rezension eines meiner Bücher in irgendeinem Lokalblatt erscheint, «jetzt hast du auch ein Körnchen gefunden.»

Dann klopft er mir sogar auf die Schulter und lässt einen Blick losfliegen, der von der unfassbaren Höhe seiner globalen wissenschaftlichen Vorrangstellung hinuntersegelt bis ins Flachland, dorthin, wo er Kleingeister wie mich verortet, nasenbohrend und mit einer Propellerkappe am Kopf.

Meine erste Reaktion in solchen Momenten ist eine stammhirngesteuerte Wut, die aber beinahe zeitgleich umschlägt in eine Wehmut über das Ausmaß seiner Veränderung. Darüber, dass Pergynti nicht der fidele Springinsfeld geblieben ist, der er einmal war. Das große Architektenhaus, das er jetzt als weithin sichtbaren Kulminationspunkt seines Lebens in seiner Heimatstadt baut, erhebt sich ebenso wie sein mit fremden Werten verstopftes Selbst sagenhaft weit über die Nachbarhäuser, die in Relation zu seinem Haus wie Hundehütten wirken.

«Sobald der Kasten steht», hat er mir versichert, «wird fischen gegangen.»

Diese Lippenbekenntnisse, die sein Leben prägen, sind Legion und erscheinen, seit wir uns kennen, in zahllosen Varianten. Dann werde ich wandern. Dann werde ich lesen. Dann werde ich zusammen mit Irina und den Kindern mit der Zahnradbahn auf den Eiger fahren. Schon damals, als das Leben noch vor uns lag, haben mich diese Sätze irritiert, weil ihr selbstbetrügerischer Charakter das Gift einer Fremdbestimmung so wahnsinnig offensichtlich verströmt. Jetzt, wo sich unsere Leben neigen, erschrecken mich diese Formeln aber erst so richtig, weil er sie noch immer verwendet und damit schmerzhaft klar zum Ausdruck bringt, dass Selbstbetrug kein Ablaufdatum hat. Pergynti verdient seit vielen Jahren zehn Mal so viel Geld wie ich. Aber ich bin derjenige, der seit ebenso langer Zeit zehn Mal so oft fischen geht. Um seinen Lebens- und Statusstandard halten zu können, wird auch der Rest seiner Lebenszeit überwiegend fremdbestimmt bleiben. Sein Vater starb mit nicht einmal sechzig Jahren an schierer Überarbeitung.

In den seltenen Augenblicken, wo sie sich endlich erfüllt, ist Pergyntis Sehnsucht nach einem Leben mit echten Ereignissen unmäßig. Deshalb steht er jetzt noch immer am Flussknie, mit vom kalten Wasser eingeweichten Halbschuhen. Deshalb ignoriert er die Kälte, die sich schon längst über die Sohlen zu seinen Knöcheln hochgefressen hat. Bei jedem Telefonat fragt er mich nach dem Fischbestand in den Gewässern, in denen ich fische. Wieviel hast du in der Koppentraun gefangen? Was war los an der Großen Erlauf? Hast du Äschen gesehen? Kein anderer meiner Freunde sehnt sich sosehr nach den kleinen und großen Wundern am Fluss, diesen Träumen aus reiner Gegenwart, deren Erfüllung er unwiederbringlich versäumt hat.

«Jetzt sind es fünf», ruft Pergynti strahlend über das zwischen uns rauschende Wasser, als ich an das Flussufer vorrücke und er meine Anwesenheit registriert. Für ein paar Augenblicke zeigt sich sein ewig junges Kindergesicht. Gleich darauf verschwindet diese Begeisterung, als hätten sich die Krallen des Fremden wieder fester um seinen Hals gelegt. Von allen Gefühlen ist es die Wehmut über Versäumtes, dem Pergynti den geringsten Spielraum in seiner Seele einräumt. Bevor das geschieht, kehrt er rechtzeitig zur Tagesordnung zurück.

«Die Stelle ist noch nicht ausgereizt», erklärt er entschieden und nüchtern, um meiner in der Luft liegenden Aufforderung zum Rückzug zuvorzukommen.

«Aber sie liegt doch wirklich eine Spur zu nahe am Weg, zu viel Risiko», versuche ich dagegenzuhalten, «du hast doch schon fünf gefangen.»

Aussichtslos. Solange Pergynti nicht alle Fische im Umkreis einer guten Stelle erbeutet oder zumindest am Haken gehabt hat, wird ihn kein Bulldozer von hier wegschieben können.

Ich ziehe meine Schuhe, die Socken und die Hose aus, und wate mit nackten Füßen in den Fluss. Das Wasser perlt vor arktischer Frische und spült die Vernunft aus der Säulenhalle zwischen meinen Waden. Und mit der Vernunft schwindet auch meine Ängstlichkeit. Uns kann nichts passieren. Niemand wird uns entdecken.

«Und wenn doch?», fragt ein fernes, leises Echo und knüpft auch gleich präzis bebilderte Antworten an seine bohrende Frage. Ich sehe uns fliegen. Pergynti von der Uni, mich aus der Villa. Mit der Geschwindigkeit von Leuchtraketen und der himmlischen Pracht von Regenbögen.

Nachdem ich sie ausgenommen und die Innereien sorgsam unterm Moos vergraben habe, verstaue ich die Fische in einem Plastiksack, den ich in meinen Wanderrucksack stopfe. Pergynti steckt das Handzeug in seine rechte Jackentasche. Dort landet auch die Dose mit den Würmern, die ich gestern im örtlichen Fischereifachgeschäft gekauft habe. Endlich treten wir den Rückzug an. Ich geduckt, er die Äste zur Seite räumend, zwängen wir uns zwischen den Bäumen und Büschen hinaus auf den Uferweg. Dort geben wir die Nummer von den fidelen Wanderern, die plaudernd Richtung Langenthal spazieren.

«Jemand hat uns beobachtet und vielleicht sogar fotografiert», sagt Pergynti zwischendurch. Seine Stimme klingt so beiläufig, als hätte man uns bei einem Punschstand zugeprostet und Frohe Weihnachten gewünscht.

«Wie, wo und wann bitte?», würge ich heraus, während ich vergeblich versuche, meine aufflammende Panik zu verbergen.

«Vorhin, als du weg warst.»

«Aber ich war nur ganz kurz weg …»

«Auf der anderen Flussseite war jemand», fährt Pergynti fort.

«Wer – jemand?!»

«Genau hab ich ihn nicht gesehen. Dawar nur ein kurzes Blitzen. Ein Sonnenstrahl hat sich in einem Objektiv gespiegelt.»

«Welches Objektiv?»

«Ein Tele», präzisiert Pergynti, «so ein Monsterrohr wie es Fotoreporter benutzen, wenn sie Fußballer fotografieren.»

«Und damit hat er uns aufgenommen?», wiederhole ich das Unfassbare.

«Möglicherweise», spekuliert Pergynti unbeeindruckt von meiner Irritation. «Ich hab nicht einmal erkennen können, wer das war. Mann oder Frau, keine Ahnung. Dem Profil nach könnte es beides gewesen sein. Außerdem war er oder sie gleich wieder weg.»

«Und das sagst du mir erst jetzt so nebenbei?», brause ich auf.

«Nur keine Panik», beschwichtigt mich Pergynti. «Es ist extrem unwahrscheinlich, dass es wirklich Fotos mit Fischen gibt. Wahrscheinlich hat er nur gesehen, wie ich hier herumgestanden bin. Und selbst wenn ein Fisch auf seinem Foto zu sehen wäre – hier kennt uns niemand!»

«Wir hätten Masken tragen sollen», trauere ich einer Vorsichtsmaßnahme nach, «oder wenigstens falsche Bärte. Aber jetzt kann jeder unser Gesicht sehen.»

«Und wenn schon», sagt Pergynti ungeduldig, weil ihn mein Gejammer sichtlich nervt, «niemand kann unseren Gesichtern Namen zuordnen.»

«Deinem vielleicht nicht», lamentiere ich weiter, «aber von mir hängen immer Plakate herum, wenn ich Lesungen mache.»

«Du bist nur am Ufer herumgehockt», erklärt Pergynti. «Von dir gibt es definitiv kein Foto mit einem Fisch in der Hand.»

«Aber von dir schon, oder?»

«Ja», sagt er, «und dieses Foto wird soeben dem Schweizer Polizeipräsidenten ausgehändigt, der die Armee in Alarmbereitschaft versetzt.»

Pergyntis Humor war schon immer rabenschwarz. Er fragt auch Menschen, die von sich behaupten, dass ihnen etwas die Haare aufstellt, eiskalt danach, ob es ihnen alle Haare aufstellt, auch die unterhalb der Taille. Dann, noch in der Schrecksekunde, lacht er lauthals los. Genau das passiert auch jetzt. Während er sich amüsiert, denke ich an die Person, die ihn womöglich fotografiert hat. Wer ist dieser Jemand? Ist er schon wieder verschwunden, oder klebt er noch immer an unsere Fersen, so lange, bis er entdeckt, wer ich bin und wo ich wohne?

«Aber wie war das möglich, dass der uns überhaupt gesehen hat, in dem Dickicht?», will ich wissen.

«Da war eine schmale Schneise», antwortet Pergynti. «Am anderen Ufer zwischen den Bäumen. Von dort siehst du auf die Stelle, wo wir gefischt haben.»

«Und was machen wir jetzt?»

«Weiterfischen», schlägt er unbeeindruckt vor, «es läuft doch gut. Wo ist denn die nächste schöne Stelle? Du hast doch sicher schon ausgekundschaftet, wo sich noch ein paar große Forellen verstecken …»

Die Eimannfrau

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