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OKTOBER Die süße Maus

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«Philippa», sagt Frau Krczal-Gozani mit massiver Betonung der Vokale. Gleichzeitig schwingt ihre rechte Hand auf mich zu. Wahrscheinlich verbirgt sich darin ein Brandeisen, wie es Cowboys benutzen, um Kuhschenkel zu markieren. Mir wird sie jetzt ein großes E in die Haut brennen, um klarzustellen, dass ich ab heute zum Inventar der Eymann-Villa gehöre.

Wir stehen im Eingangsbereich, direkt am breiten Fuß der steilen Eichenholztreppe. Frau Krczal-Gozani ist soeben aus dem Keller aufgetaucht. Sie ist hier die burschikose Haushälterin und hält tatsächlich einen Teil des Hauses, nämlich den Wäschekorb. Beiläufig stemmt sie ihn an ihre mächtige Hüfte und schenkt mir den streng vorwurfsvollen Blick eines Piraten, der hier seinen Schatz verstecken möchte und dabei von einem Unbekannten gestört wird. Bis jetzt bin ich ihr noch nicht persönlich begegnet, weiß aber von der Stiftungssekretärin, dass Frau Krczal-Gozani die Dinge nicht nur im Griff hat, sondern manchmal auch im Schwitzkasten. Sowohl im Haus, als auch ums Haus herum und überhaupt.

«Bei uns ist das alles eher unkompliziert», fährt Frau Krczal-Gozani fort, mit einer Lautstärke, die prophylaktisch darauf Rücksicht nimmt, dass ich in meinem Alter schon mein Hörrohr vergessen habe könnte. «Verstehen Sie den Schweizer Dialekt oder soll ich Hochdeutsch mit Ihnen reden?»

«Hochdeutsch, bitte», ersuche ich, «vom Schweizer Deutsch hab ich bis jetzt nur verstanden, dass etwas kleiner wird, wenn man ein -li anhängt … und wenn das für Sie nicht zu aufdringlich wirkt, dann können wir auch gerne Du zueinander sagen. Wir werden hier ja immerhin ein halbes Jahr gemeinsam leben. Ich heiße Erich.»

«Philippa», wiederholt Frau Krczal-Gozani so laut, als solle eine weitere Philippa von der Straße hereingerufen werden. «Und mein Mann heißt Pavel, mein Sohn Reto und meine Tochter, die süße Maus, Sarah.»

Als sie von ihrer Tochter spricht, ändert sich der Klang von Frau Krczal-Gozanis Stimme. Ein plötzliches Leuchten überzieht die harten Ecken der Konsonanten mit dem weichen Schutzfilm einer unbedingten Liebe. Die Strahlen dieser Sonne perforieren meine Smalltalkschicht. Dort, wo sich meine unverlierbaren Erinnerungen sammeln, bekommt Sarah schon einen Platz, obwohl ich sie noch gar nicht gesehen habe. Ich werde sie auch später nicht oft sehen, weil sich der Kontakt zwischen dem Stipendiaten und der Haushälterfamilie in einer freundlich-unverbindlichen Distanz einpendeln wird. Aber jedes Mal, wenn ich Sarah zufällig treffen werde, wird sie mir mitteilen, dass sie jetzt zum Kunstturnen fährt oder vom Kunstturnen kommt. Sie wird das große Wort mindestens zwei Mal verwenden und sich damit zum ersten Mal etwas geben, das mir immer mehr abhandenkommt: Identität.

Philippa packt die Gelegenheit am Schopf und erklärt mir den Hausbrauch. Dass man in der Schweiz gelbe Streifen auf die vollen Müllsäcke klebt, ist mir neu. Aber es leuchtet mir ein. Durch den kostenpflichtigen Klebestreifen entsteht so etwas wie eine persönliche Beziehung zwischen dem Sack und seinem Befüller. Ich beschließe, meinen ersten Müllsack Horst zu nennen. Horst tritt aus seiner Anonymität, während ich mir als Befüller genauer überlege, was ich wegwerfe und wie ich das Weggeworfene besser falte oder dichter presse, um Platz zu gewinnen, Geld zu sparen und nebenbei die Umwelt zu schonen.

Nach dem richtigen Umgang mit dem Müll nimmt sich Philippa die Waschmaschine im Keller vor (alt und gut), das Postfach (flach aber tief, immer ganz nach hinten schauen), die Küche (alles da bis auf einen großen Spaghettitopf, da gab’s einen mittelschweren Anbrennunfall mit Reis, aber der neue Topf ist schon im Anmarsch), und schließlich das Rad (immer absperren), das den Stipendiaten zur Verfügung steht. Ein altes, neu bereiftes, mattweißes, da und dort rostiges, einfach sympathisches Damenfahrrad, auf das mich auch die Sekretärin schon hingewiesen hat. Es steht neben dem Hauseingang im Eck zwischen Gartenzaun und Stiege und wird meinen Erlebnisradius deutlich erweitern. In der Schweiz heißen Räder Velos. Soviel habe ich schon mitbekommen. Außerdem sagt Philippa nicht Müll, sondern Kehricht. In diesem Wort steckt Erich, mein Name. Das gibt mir zu denken. Womöglich ist Erich eine Kurzform von Kehricht. Bring den Erich raus und wasch dir die Hände, wir essen gleich. Wahrscheinlich bin ich näher mit dem Müllsack Horst verwandt, als mir lieb ist. Alles, was die Welt nicht mehr braucht, fällt in uns beiden zusammen. Und wir sortieren und entsorgen es dann. Horst, indem er sich später einmal über die Müllhalde ergießt, ich, indem ich aus meiner Wirklichkeit Essenzen sammle, sie in virtuellen Räumen zwischenlagere, von wo aus sie, gebunden als Bücher, wieder eintreten in den kleinen Kreislauf aus Gelesen-und-vergessen-Werden.

Bis jetzt habe ich sieben Bücher veröffentlicht. Bei sogenannten Kleinverlagen, die ihre Bezeichnung dem Umstand verdanken, dass alle ihre Autoren literarisch betrachtet Zwerge sind. Nicht einmal mit einer hohen Zipfelmütze würde einer von uns so weit in die literarische Landschaft hinaufragen, dass uns ein maßgeblicher Kritiker wahrnähme. Gelesen werden meine Werke, wenn überhaupt, nur von ganz wenigen, zumeist etwas schrulligen Menschen. Mindestens einer dieser Menschen ist eine alleinstehende, altersmäßig indifferente Bibliothekarin. Sie trägt dicke Brillen und hat einen bandoneonartigen Hund, der es lieber gemütlich angeht, weshalb sein Frauchen nicht so oft Gassi gehen muss und deshalb genug Zeit findet, sogar derart unbekannte Schreiberlinge wie mich zu lesen.

Vom Schreiben könnte ich fünf Stunden lang leben. Von nach dem Frühstück bis vor dem Mittagessen. Das ist die Zeit, in der ich kein Geld ausgebe und nichts esse, sondern nur schreibe und atme. Nahrung, Gewand und ab und zu ein paar Blumen für meine Frau Rita kann ich mir nur deshalb kaufen, weil ich einen Knäckebrotberuf habe. Ich bin Geigenlehrer. Das würde Herr Liebisch, einer meiner geistigen Mentoren, nicht so flapsig formulieren. In seiner Stilschicht bin ich ein Violinpädagoge. Zum Ausgleich nennt mich Margarita, meine Nürnberger Freundin, Wimmerholzquetscher. Sie findet das deshalb besonders lustig, weil das wimmernde Holz so schön mit meinem Nachnamen korrespondiert. Ihren Humor hat sie direkt aus der Hölle, wo sie nach eigenen Angaben auch zur Welt gekommen ist. Bei ihrer nächsten Wiedergeburt möchte sie einfach in einer emotional funktionalen Familie aufwachsen. Zum ersten Mal sind wir uns in der Drehbuchwerkstatt München begegnet. Dort ist das passiert, was Wilhelm Busch in eine wunderbare Kurzformel gefasst hat: Freunde erwirbt man nicht, Freunde erkennt man.

Momentan quetsche ich keine Töne aus meiner Geige. Dafür, dass ich im Verlauf von fünf Unterrichtsjahren auf ein Jahresgehalt verzichte, habe ich das letzte dieser fünf Jahre frei bekommen. Ein sogenanntes Sabbatical. Zwei Junglehrer vertreten mich und können erste Unterrichtserfahrung sammeln. Derweil sammle ich schon einen Vorgeschmack auf das nachberufliche Nirwana, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und von ehemaligen, noch im Beruf stehenden Kollegen bei zufälligen Begegnungen milde Lächler geschenkt zu bekommen.

«Hast du ein Auto?», fragt Philippa in einem Ton, als wäre das Auto eine ansteckende Hautkrankheit, was es terrestrisch betrachtet ja auch ist. Insgeheim danke ich Philippa für diese Assoziation, frage mich aber sofort, worauf ihre Sorge abzielt.

«Zuhause», transferiere ich den Gegenstand unserer gemeinsamen Betrachtung in eine ferne Zone.

«Dann ist es gut», atmet Philippa sichtlich auf, «weil hier beim Haus ist kein Platz für noch ein Auto. Wenn du eines hättest, müsstest du hinter der Kirche parkieren. Da hats noch freie Plätze.»

Vor mir, denke ich, liegen sechs freie Monate Stipendium. Genug Zeit, um die Schweiz und mein Ich einander auch ohne Auto näher zu bringen.

Als Bauwerk betrachtet wäre mein Ich ein kleiner Leuchtturm, der den Ort markiert, von dem aus Schächte, Spalten und Klüfte in eine ebenso unerschöpfliche wie geheimnisvolle Höhlenwelt führen. Dort unten lebt und gräbt die Kehrseite meines Ichs, mein Schreiberling. Diesen Schreiberling muss man sich wie einen pensionierten rumänischen Bergarbeiter vorstellen, der seine kärgliche Pension dadurch aufbessert, dass er unter Lebensgefahr die letzten Reste Kohle aus einem aufgelassenen Bergwerk kratzt. Der Schreiberling weiß auch nicht, was er im Lauf des Tages findet und ob er überhaupt zurückkehrt und ihm nicht die Decke auf den Schädel fällt. Gewiss ist nur, dass er viel gräbt und dabei alles Mögliche entdeckt. Schreiberling, Engerling, Schmetterling. Die unheilige Dreifaltigkeit meiner mysteriösen Identität.

Andererseits verstehe ich auch, dass große Dichter, echte Worttitanen wie Thomas Bernhard das Wort Schreiberling am liebsten kastriert hätten. Wahre schreiberische Größe ist nicht vereinbar mit einer Verkleinerungsformel. Als ihm anlässlich einer Preisverleihung die damalige Wissenschaftsministerin ein «Ja, wo ist denn der Schreiberling?» vor den Latz knallte, entging sie ihrer Skalpierung nur deshalb, weil Thomas Bernhard kein Rasiermesser bei sich hatte. Dass er diesen Wutausbruch schlucken musste, hat sein Leben um mindestens eine Woche verkürzt und sein Publikum um ganze Absätze gebracht, die er sonst noch hätte schreiben können.

«Eins sag ich dir gleich», merkt Philippa noch an, «mit dem Lesen haben wir es nicht so. Aber seit wir zwangsläufig Kontakt zu den Autoren hier haben, es kommt ja jedes Jahr ein neuer, also seither ist da was ins Rollen gekommen. Irgendwas ist bestimmt dran, an dem, was ihr da macht.»

«Ja, das hoffe ich auch irgendwie», danke ich Philippa für so viel spontanen Zuspruch. Dass jemand literarisch ins Rollen kommt, der sonst nichts mit Büchern am Hut hat, ist motivierend. Immerhin bauen der Autor und sein Leser zusammen ein fragiles und einzigartiges Kunstwerk, das gelesene Buch. Es unterscheidet sich vom geschriebenen Buch dadurch, dass es unsichtbar ist und nur in einer doppelt magischen Erinnerung existiert. An diesem Ort treffen sich der Geist des Autors und der Geist des Lesers und tun das, was Geister am besten können: Sie durchdringen einander. Sie bilden bei jeder Begegnung eine neue Lesart, die so noch nie in der Welt war. Manchmal glaube ich sogar, dass Bücher während des Lesens zu Inseln werden, wo zwei Menschen einander auf eine geheimnisvoll-intime Weise begegnen und sich dabei über einen längeren Zeitraum in emotionalen Tiefenschichten berühren, in Schichten, die noch unter der Sphäre der Angst liegen und etwas zu tun haben mit Schönheit und Zärtlichkeit und dem Gefühl anzukommen in einem Paradies, das vielleicht gar nicht jenseits der Sterne liegt.

«Das ist der rote Stromschieber», meißeln mir Philippas Worterzeugungsorgane ins Bewusstsein. Mittlerweile stehen wir vor dem Zählerkasten im Keller, wohin ich ihr gefolgt bin, «den darfst du nicht mit dem schwarzen verwechseln. Deshalb haben sie auch verschiedene Farben.»

Philippa zeigt mir wie ich den roten gegen den schwarzen austausche, falls ich einmal Wäsche waschen möchte. Dann erklärt sie mir, dass die Wohnung ihrer Familie über der meinen liegt. Daran knüpft sie noch eine Erklärung für den Lärm, den ihre Kinder in diesem Alter wohl unweigerlich machen werden. Die süße Maus hüpft gern polternd durch die Wohnung und der zehnjährige Reto hat gerade angefangen Posaune zu spielen.

«Deshalb Posaune», setzt mir Philippa auseinander, «weil die in der Stadtmusik von Langenthal so tolle Uniformen haben. Sowas möchte Reto auch einmal tragen.»

Diese Sehnsucht kommt mir bekannt vor. In Bad Leonfelden, dem österreichischen Ort, wo ich Geige unterrichte, gibt es auch junge Burschen, die drei Wochen nach ihrer ersten Klarinettenstunde zum Schneider stürmen und sich eine Blasmusik-Uniform anmessen lassen.

«Keine Sorge», sage ich zu Philippa, «mich freut es immer, wenn Menschen Musik machen.»

Für mich behalte ich die Überlegung, dass ein dürres zehnjähriges Bürschchen wohl nicht stundenlang auf einem Instrument üben wird, das wie eine vergoldete Panzerfaust aussieht und auch ein ähnliches Gewicht hat. Philippa erzählt von den Stipendiaten, die meine Vorgänger waren. Mit keinem gab es gröbere Probleme. Die meisten waren ja auch schon über die Lebensmitte hinaus.

«Vierzig aufwärts.»

Philippa sagt das so schwungvoll, als stünden wir beide im vierzigsten Stock eines Hochhauses. Sie hat noch Kontakt mit den tieferen Etagen, aber ich habe keine Wahl. Demnächst erreiche ich das fünfzigste Stockwerk. Eine schwindelerregende Höhe. Vita brevis denke ich einmal mehr. Du musst schreiben, bis sich deine Tinte in Blut verwandelt.

Mit Sophie, der Stipendiatin, die drei Jahre vor mir da war, fährt Philippa fort, seien sie sogar jetzt noch befreundet.

«Kann diese Kollegin vom Schreiben leben?», frage ich.

Philippa stutzt. Zum ersten Mal in unserem Gespräch bemerke ich eine Spur von Unsicherheit an ihr.

«Das weiß ich nicht», sagt sie zögernd. «Das hab ich sie noch nie gefragt. In der Schweiz wird nicht über Geld geredet.»

Die Eimannfrau

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