Читать книгу Die Eimannfrau - Erich Wimmer - Страница 8
Schatztaucher
Оглавление«Mich besitzt noch kein Handy», verkünde ich vor dem Gremium und bereue es sofort. Um den Preis einer halblustigen Bemerkung habe ich sieben ehrwürdigen Schweizern indirekt erklärt, dass sie im Gegensatz zu mir alle am Gängelband ihrer Mobiltelefone hängen.
«Wäre das ein Problem?», füge ich verlegen an.
Niemand antwortet. Alle blicken hinüber zum Präsidenten der Stiftung. Er sitzt am Ende des langen Tisches, rückt seinen Oberkörper zurecht und atmet tief ein. Warum hört er gar nicht mehr auf, Luft zu holen? War meine Frage wirklich so betrüblich, dass er jetzt besonders viel Sauerstoff braucht? Oder ist er in seiner Freizeit Apnoe-Taucher, der hier für einen Abstieg in den Zürcher See trainiert, um sagenhafte Schätze zu bergen?
«Nicht unbedingt», versichert er uns.
Immerhin schmunzeln zwei der vier anwesenden Frauen über meinen Handyspruch. Besonders die Sekretärin scheint ehrlich amüsiert. Ihre Lächler perlen wie Sektbläschen durch die angespannte Sphäre des Hearings. Vor zwei Wochen hat sie mich in Österreich angerufen und über den Ablauf des Auswahlverfahrens informiert. Und heute, gleich nach meiner Ankunft in der Villa, überreichte sie mir wortlos den Fahrtkostenzuschuss. Das neutrale Kuvert steckt jetzt in der Innentasche meines Sakkos und fühlt sich an wie ein Trostpflaster für diejenigen Kandidaten, die sich mit ihrem vorlauten Mundwerk um die Chance ihres Lebens reden.
«Kehren wir doch die Befragung einmal um», schlägt der Kassier vor. Um Punkt Elf, zu Beginn der Sitzung vor etwa einer halben Stunde, wurden mir alle Stiftungsräte vorgestellt. Ihre Namen konnte ich mir nicht merken. Nur ihre Funktionen habe ich halbwegs im Gedächtnis behalten. Es gibt einen Präsidenten, eine Sekretärin, einen Kassier und die einfachen Mitglieder des Rates: die Direktorin eines Gymnasiums, einen vergleichsweise jungen Stiftungsrat, eine ernste ältere Dame sowie eine sehr ernste ältere Dame. Ihr Blick ist gerade noch nicht grimmig, aber auf eine unheimliche Weise objektiv. Wenn sie mich ansieht, wird mir sofort klar: Hier und jetzt zählt Leistung – mit einer spontanen Gegenübertragung brauche ich nicht zu rechnen.
Der Kassier verschränkt seine Finger und schiebt sie wie einen kleinen Pflug Richtung Tischmitte. Das edle Holz fungiert als geheime Energieladestation. Durch die Reibung strömt den Reibern neue Kraft in die Venen. Auch die anderen Ratsmitglieder berühren die fein geschliffene Platte mit ihren Fingern und Unterarmen. Nur ich hocke im Respektabstand neben der Kante und starre auf die Mahagonihochebene wie eine Möwe, die übers offene Meer fliegt und überlegt, was mit ihr passiert, sollte sie vorübergehend auf dem großen Frachtschiff landen.
«Was würden Sie gerne von uns wissen? Haben Sie Fragen zur Wohnung? Oder zum Umfeld der Lydia-Eymann-Stiftung?»
Vor lauter Ehrfurcht vertrocknet mir der Gaumenzapfen. Ich bin schon froh, dass ich es überhaupt bis hierher geschafft habe. Aber die Aussicht eines der am höchsten dotierten Literatur-Stipendien im deutschen Sprachraum tatsächlich zu bekommen, übersteigt den Horizont meiner Hoffnung.
Außerdem bin ich immer befangen, wenn ein Bär theoretisch zerlegt wird. Natürlich kann ich ihn praktisch schon riechen. Aber das können die anderen Jäger auch. Ich bin nur einer von vier Schreiberlingen, die man persönlich in die Schweiz eingeladen hat. Zuvor haben die Stiftungsräte jeweils zwanzig bis dreißig Textseiten von ungefähr fünfzig Bewerbern gelesen. Aber nur einer von uns wird hier einziehen. Dass ich dieser Auserwählte sein könnte, erscheint mir aussichtslos.
«Darf der Stipendiat», frage ich, «ab und zu Freunde in die Wohnung einladen?»
«Wie viele Freunde?», fragt die Direktorin.
«Sieben», höre ich mich sagen.
Der Kassier stutzt.
«Wieso wissen Sie das so genau?»
Ja, das frage ich mich auch. Wie komme ich auf diese Zahl? Sieben ist eine archaische, eine magische Zahl, hoch aufgeladen mit Todsünden, glorreichen Helden und unbedingt zu begehenden Brücken. Sieben ist aber auch ein panischer Reflex der Hirnregionen, der, wie so vieles an mir, entwicklungspsychologisch noch im Pleistozän hängt. Vermutlich hätte ich gerne eine verlässliche Horde aus sieben Freunden. Manchmal trenne ich in Gedanken die Spreu vom Weizen, also die Bekannten von den Freunden, und komme dann auf Zahlen, die schwanken, je nach den Kriterien, die ich anlege, die aber immer von meiner Stimmung abhängen. In gütigen Momenten nehme ich auch die neuen Lebensgefährten meiner Freunde als Freunde dazu. Aber wenn ich mir ganz ehrlich bin, und diese Momente gibt es, je älter ich werde, umso öfter, dann bleibt nicht viel übrig. Die Menschen, die mir wirklich nahe sind, bringen immer wieder einmal Menschen in meinen Lebenskreis, die mir wenig bis gar nicht nahe sind. Das zu erkennen, dauert nicht lange. Um es mir einzugestehen, brauche ich länger. Bis ich es endlich ausspreche, vergehen mitunter viele, zermürbende Jahre.
«Haben Ihre sieben Freunde auch keine Handys?», durchbricht der jüngste Stiftungsrat mein hilfloses Schweigen. Betonungsmäßig hat er sich auf das Wörtchen sieben geworfen wie ein Rockstar in die ausgestreckten Arme eines frenetischen Publikums.
«Nein», gestehe ich, «sie haben alle Smartphones. Und spätestens wenn die letzte österreichische Telefonzelle eingestampft sein wird, werde ich mir ein Smartphone kaufen müssen. Es ist leider nur eine Frage der Zeit, bis auch ich dem größten Gott huldigen werde, den diese Menschheit je angebetet hat. Aber ich fürchte diesen Moment. Ich fürchte mich davor, keine Wahl mehr zu haben und hineingestoßen zu werden in die gnadenlose Dichte seines allumfassenden ‹Liebesnetzes›.»
Niemand reagiert, aber alle scheinen zu überlegen, was die Anführungszeichen bedeuten, die ich mit meinen Zeige- und Mittelfingern rund um das Wort «Liebesnetz» in die Luft gezeichnet habe. Genau vor solchen Momenten wollte mich mein Unterbewusstsein schon in der Unterführung warnen. Auf Menschen, die mich nicht kennen, können meine bombastischen Metaphern zweifellos zynisch wirken. Dabei ist mein Zynismus nur eine Patina auf einer Verzweiflung, die sich meiner Hilflosigkeit gegenüber den großen Umwälzungen verdankt, die unser Leben täglich schwieriger machen, obwohl sie genau das Gegenteil behaupten und vorgeben uns zu dienen.
Die Juroren bemühen sich, mich nicht ständig anzusehen. Andererseits müssen sie mich ansehen. Sie brauchen ein Bild von mir. Sie müssen mich mit den anderen Kandidaten vergleichen.
«In der Wohnung», nimmt der Präsident das Wort wieder an sich, «gibt es ein altes Festnetztelefon und einen Internetanschluss.»
«Festnetztelefone finde ich wunderbar», lobe ich die alten Bakelitklumpen. In Wahrheit gilt das Lob dem Präsidenten. Indem er die Atmosphäre versachlicht, hilft er mir, die Wogen meiner immer wiederkehrenden Nervosität zu glätten. Hinter mir liegen acht Stunden Zugsfahrt, während der ich mich auf diese Gesprächsrunde vorbereitet habe. Ich las Biographien berühmter Schweizer Schriftsteller und weiß jetzt, dass Friedrich Dürrenmatt gerne Würste gegessen hat. Außerdem hätte er seine großartigen Krimis niemals freiwillig geschrieben. Ihre Entstehung verdankt sich dem nachdrücklichen Befehl seiner Frau. Setz dich hin und schreib endlich einmal etwas, das Geld bringt!
Bis jetzt konnte ich dieses Spezialwissen nur teilweise verwerten. Mit ihren würdevoll hochgezogenen Schultern erinnern mich die Stiftungsräte an lebensgroße Pokerkarten. Schweizer Asse und Könige, die geduldig auf den besten Zeitpunkt warten, um sich auszuspielen. Sie tragen überwiegend dunkle, unaufdringliche, aber elegant und teuer wirkende Kleidungsstücke. Hier kostet eine einzelne Socke mehr als mein gesamtes Outfit. Der jüngste Stiftungsrat dürfte um die Vierzig sein. Die sechs anderen befinden sich altersmäßig schon in der der zweiten Halbzeit.
«Warum finden Sie Festnetztelefone wunderbar?», bohrt die strenge Rätin nach.
«Weil Festnetztelefone ihre Benützer nicht ständig verfolgen.»
«Und Sie meinen», bleibt sie am Ball, «wenn ich Sie richtig verstehe, dass Handys die Menschen verfolgen?»
«Ja.»
«Aber bei einem Verkehrsunfall rettet der schnelle Handy-Anruf mitunter Menschenleben», erklärt der jüngste Stiftungsrat.
«Das ist zweifellos ein immenser Vorteil», gestehe ich. «Das Mobiltelefon kann äußerst hilfreich sein. Andererseits beunruhigt mich das Ausmaß der Entzauberung, die von ihm ausgeht. Rilke sagt: ‹Ich will immer warnen und wehren, bleibt fern, die Dinge singen hör ich so gern.› In meiner Wahrnehmung zerstört das Handy genau diese befreiende Distanz zu den Dingen. Es verflechtet seine Benutzer mit einer flirrenden Oberfläche, in der die unterschiedlichsten Bedeutungen gleichgeschaltet werden und die Achtsamkeit für das Besondere verloren geht. Ich aber brauche nichts so dringend wie meine Achtsamkeit. Sie ist mein Seismograph, mit dem ich Freunde und besondere Momente erkennen kann. Außerdem hilft sie mir Fettnäpfe zu entdecken, sodass ich wenigstens nur in jeden zweiten steige.»
«Warum steigen Sie überhaupt hinein, wenn Sie den Fettnapf doch schon entdeckt haben?», will die sehr strenge Rätin wissen.
«Weil ich ein typischer Nachkriegs-Österreicher bin. Und dieser Typus kauft Abfangjäger, von denen er intuitiv weiß, dass sie schrottreif sind. Das ist aber nur der erste Teil des Selbstbetrugs. Der typische Österreicher meiner Generation spürt nämlich auch, dass die großartigen Gegengeschäfte, die man ihm vor dem Kauf verspricht, sich nach dem Kauf als Luftschlösser entpuppen werden. Dennoch kauft er. Er würde sogar dann noch kaufen, wenn er sich die Teile selbst zusammenbauen müsste, obwohl er keine Ahnung hat vom Flugzeugbau.»
«Warum tut er das?», erweitert die sehr strenge Rätin ihre Frage.
«Weil ihm erfolgreich suggeriert wurde und wird, dass er die Kriegsschuld seiner Mütter und Väter noch immer zu tilgen hat. Dafür muss er bis in eine unabsehbare Zukunft hinein bezahlen. Mit schlechtem Gewissen, Demut, Duckmäuserei und viel, viel Geld. Auch und gerade dann, wenn er ganz offensichtlich übervorteilt wird.»
«Wer suggeriert den Österreichern ihre Schuld?», kreist die Sekretärin weiter um dieses Thema.
«Der Zeitgeist», antworte ich.
«Und dieser Zeitgeist», nimmt die Direktorin das Hegelwort auf, «hat auch Ihnen persönlich suggeriert, dass Sie in jeden zweiten Fettnapf zu steigen haben?»
«Ja», gebe ich zu, «für einen Österreicher ist das gar keine schlechte Quote. Dass ich überhaupt schreibe ist ja schon der Inbegriff von Feigheit. Eigentlich wollte ich Maler werden. Aber mein Vater, der ein Kriegs-Österreicher war und selbst gemalt hat, hat mich aus diesem Terrain verdrängt. Und gehorsam wie ich war, habe ich mich auch verdrängen lassen.»
«Wie hat er Sie denn verdrängt?», fordert der Kassier eine Präzisierung.
«Er hat mir alle Bilder und Zeichnungen weggenommen, die ich als Jugendlicher gemalt habe», entberge ich dieses private Geheimnis. «Er hat sie alle konfisziert und so versteckt, dass ich sie nicht mehr finden konnte.»
«Warum?», fragt er weiter.
«Das habe ich meine Mutter auch gefragt», antworte ich. «Sie hat mir seine Übergriffe damit erklärt, dass es in ihm arbeitet. Mit dieser Formulierung konnte ich lange Zeit nichts anfangen. Also habe ich immer wieder nachgefragt, was das ist, das in meinem Vater arbeitet. Irgendwann hat meine Mutter endlich Farbe bekannt und gesagt, der Krieg. Hitler hat meinen Vater noch als Siebzehnjährigen an die Front nach Afrika geschickt. Dort hat er als einziger seines Bataillons überlebt. Nach seiner Rückkehr war er nur noch äußerlich ein Mensch. In seinem Inneren ist er lebenslang ein Soldat geblieben und hat weiter gekämpft.»
«Wogegen genau?», wirft die strenge Rätin konzentriert ein.
«Gegen die Idee», antworte ich, «dass das Leben auch schön sein kann. Mein Vater hat nichts so sehr bekämpft wie die Lebensfreude in all ihren Erscheinungsformen.»
«Warum?»
«Weil Lebensfreude in seiner Erfahrung die größtmögliche Lüge war. Wo immer sich Anzeichen dieser Lüge gezeigt haben, ist der Krieger in ihm erwacht. Und dieser Krieger war unerbittlich. Besonders gegenüber seiner Frau und seinem Sohn. Er hat mir das Malen ausgetrieben. Im Geheimen habe ich dann angefangen zu schreiben. Das war leichter vor ihm zu verbergen.»
«Also ist Schreiben nur eine Notlösung für Sie?», fragt die Direktorin.
«Am Anfang war es das bestimmt», gebe ich zu. «Als junger Mensch bin ich stundenlang vor den Prachtbildbänden in unserer Bibliothek gesessen … Picasso, Beckmann, Ensor, Matisse und Wölfli … Ich habe mich auf ihre Bilder gestürzt wie auf Rettungsinseln. Ihre Werke waren meine Verstecke und gleichzeitig eine Verheißung.»
«Verstecken Sie sich noch immer vor Ihrem Vater?», fragt der Präsident.
«Ja und nein», antworte ich, «er ist vor zwei Jahren gestorben.»
Der Präsident hebt seinen Kopf noch eine Spur höher, dann fährt er fort.
«Haben Sie nach seinem Tod nicht erwogen Maler zu werden?»
«Erwogen schon. Aber so viel neue Freiheit auf einmal hat mich völlig überfordert. Statt endlich zu malen, habe ich mir andere Überväter gesucht, denen gegenüber ich meine alten Verhaltensmuster beibehalten kann. Leider.»
«Und Ihre Mutter», fragt die besonders strenge Rätin zum ersten Mal nicht fordernd, sondern mit einem spürbar neuen, milderen Ton, «hilft Sie Ihnen nicht bei diesem Erneuerungsprozess?»
Ich schüttle den Kopf.
«Nein. Sie kann sich nicht einmal selber helfen. Ich liebe meine Mutter. Aber ich hasse ihre Unterwürfigkeit, ihren vorauseilenden Gehorsam, den sie durch ihre sklavische Existenz so abgrundtief in mir verankert hat. Mein Vater hat meiner Mutter und mir immer die Welt erklärt und uns ganz genau gesagt, was richtig und was falsch ist. Und jetzt, wo er nicht mehr da ist, suche ich mir sofort andere Diktatoren, die mich anleiten und mir sagen, wo es langgeht und was richtig ist.»
«Wen zum Beispiel?», fragt der jüngste Rat.
«Das Smartphone ist so ein Kandidat», antworte ich. «Würde ich es in meine Nähe lassen, dann würde es mir, so wie mein verstorbener Vater, permanent diktieren, wie ich die Dinge zu sehen habe. Nämlich nach Maßgabe seiner Bilder, der Bilder, die auf seinem Display erscheinen. Aber ich habe es so unendlich satt, fremdbestimmt zu werden, dass ich es, um frei zu sein, sogar in Kauf nehme, bei einem Unfall kein Handy dabei zu haben. Ich träume von einer Freiheit, die mir gegenüber dem System die Wahl lässt, nicht innerhalb seiner Normen. Ich will auch nicht alles, was ich esse, im Supermarkt oder im Restaurant kaufen müssen. Deshalb fische ich, seit ich alleine in Gummistiefeln stehen kann. Zwischen mir und dem selbstgefangenen Fisch gibt es keinen Importeur, keinen Händler, keinen LKW, keinen Tiefkühlregaleinräumer und keine Kassiermaschine. Zwischen mir und der Bachforelle gibt es keine Vorschriften, Regeln und Befehle, nur den Rausch der unmittelbaren Begegnung.»
«Würden Sie hier in der Schweiz von dieser Freiheit gegenüber dem System schreiben?», fragt die Direktorin.
«Auf jeden Fall», antworte ich, «das versuche ich immer. Aber oft, wenn ich die Worte dann unten am Papier sehe, bekomme ich Angst und lösche sie wieder.»
«Angst wovor?», möchte der Präsident wissen.
«Vor dem Zerbrechen meiner Freundschaften», antworte ich. «Ich schreibe verhältnismäßig oft über meine Freunde, weil ich sie am besten kenne und an ihnen von außen sehen kann, was ich an mir selbst nicht oder weniger gut bemerke. Dabei gerate ich in ein furchtbares Dilemma. Wenn ich sie idealisiere, dann ist der Text uninteressant, reines Geplänkel. Meine Freunde sind nur auf bestimmten, mehr oder weniger großen Terrains meine Freunde. Es gibt genug Bereiche, wo ich keine Schnittmengen mit ihnen finde und eine schauerliche Fremdheit zwischen uns spürbar wird. Indem ich darüber schreibe, sehe ich plötzlich, wo wir uns tatsächlich berühren, verstehen und wertschätzen können und wo die Grenzen sind, an denen wir einander fremd werden und das Verständnis füreinander anfängt zu bröckeln.»
«Haben Sie aufgrund eines Textes schon einmal einen Freund verloren?», fragt mich die Sekretärin.
«Ja, eine Freundin», gebe ich zu. «In meinem zweiten Roman Grün wie Schnee habe ich über sie und Ihren Vater geschrieben. Natürlich in verklausulierter Form, ohne Klarnamen. Aber meine Freundin war entsetzt. Sie hat mir vorgeworfen sie und ihre Familie öffentlich an den Pranger zu stellen. Sie aber liebe ihren Vater und mich nicht mehr. Obwohl sich von dem Buch wie von allen meinen Büchern nur ein paar Exemplare verkauft haben, unterstellte sie mir, ich hätte mit meinem Text die gesamte Weltöffentlichkeit über ihre Familie informiert. Das hat sie dann dazu veranlasst, mit mir zu brechen. Seit dieser Zeit habe ich oft darüber nachgedacht, ob meine Wahrhaftigkeit diesen Preis wert war.»
«Und», ergänzt die besonders strenge Dame beinahe zärtlich, «war es das?»
«Ich weiß es nicht», räume ich ein, «ich weiß es wirklich nicht und werde es wahrscheinlich nie wissen. Darin besteht ja das Dilemma, das mich immer wieder umtreibt, besonders aber beim Schreiben.»
«Und an welchen Texten würden Sie hier konkret arbeiten?», möchte die etwas weniger strenge Dame noch wissen. Auch ihre Stimme kommt mir spürbar aufgetauter vor.
«An meinem zweiten Krimi», antworte ich, «und einem Schweizer Tagebuch. Ich kenne dieses Land nur aus zwei Quellen. Aus den üblichen Klischees und aus dem Comic Asterix in der Schweiz. Sollte ich hier arbeiten dürfen, würde ich versuchen, mein eigenes Schweizbild zu entwerfen.»
Der Präsident nickt mir gemessen zu, lässt seinen Blick in die Runde schweifen und gibt sich schließlich einen Ruck. «Hat noch jemand eine Frage an den Kandidaten?»
Niemand äußerst sich mehr. Ein paar Stiftungsräte beenden sogar den Kontakt mit dem Tisch, indem sie zurück auf ihre Stühle sinken.
«Dann», wendet er sich wieder an mich, «danken wir Ihnen für die Geduld und die Ausführlichkeit, mit der Sie unsere Fragen beantwortet haben, und wünschen Ihnen noch eine angenehme Heimreise nach Österreich.»
«Ich danke Ihnen auch für die Fragen und die Lebenszeit, die Sie mir gewidmet haben», sage ich und erhebe mich aus dem Sessel. Die Sekretärin steht ebenfalls auf und begleitet mich nach draußen.
«Sobald eine Entscheidung gefallen ist», erklärt sie mir im Vorraum, «werde ich mich bei Ihnen melden.»
Sie drückt meine Hand, aber, kommt mir dabei vor, nicht mehr ganz so zuversichtlich wie bei meiner Ankunft. Dann huscht sie zurück in das Sitzungszimmer.
Die folgende Woche fühlt sich an wie ein Schiffbruch. Ohne Ruder und Kompass treibe ich auf einer glitschigen Planke über das tückische Meer der Ungewissheit. Leise, hoffnungsvolle Strömungen im steten Wechsel mit den gefährlichen Abwärtsspiralen laut gurgelnder Selbstzweifel. Am achten Tag meiner Odyssee ruft die Sekretärin tatsächlich an. Das diesjährige Stipendium, erklärt sie mir, wird erstmals geteilt. Zwischen einer Zürcher Autorin und mir. Jeder von uns bekommt ein halbes Jahr.