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PROLOG Gefühlte Paprika

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«Grüezi», sage ich zu dem Taxifahrer, der seinen semmelgelben Mercedes am Straßenrand vor dem Langenthaler Bahnhof geparkt hat. Er lugt durch das halbgeöffnete Fenster und sieht mich skeptisch an. Wie die meisten seiner Berufskollegen ist auch er ein erfahrener Psychologe und wittert, dass er mit mir kein Geschäft machen wird. Ich fühle mich wie ein Aktienkurs im freien Fall.

«Können Sie mir bitte sagen», frage ich ihn durch den Fensterspalt, «wohin ich gehen muss, um zur Villa von Frau Lydia Eymann zu kommen?»

Statt zu antworten nimmt er mich verschärft ins Visier. Mir imponiert das. Es gibt nicht mehr viele Menschen im gehetzten Mitteleuropa, die sich wortlose Nachdenkpausen gönnen. Ein berühmter Anthropologe hat sogar die Besonderheit unserer Spezies damit begründet, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier fähig ist, zwischen Reiz und Reaktion innezuhalten. Er nannte diesen Moment Hiatus. Mit seinem Hiatus erinnert mich der Taxifahrer daran, zu welcher tollen Gattung von Lebewesen wir beide gehören.

«Nein», sagt er plötzlich.

«Was? Wieso können Sie mir das nicht sagen?»

«Weil ich es nicht weiß.»

«Aha.»

Die Worte der Stiftungs-Sekretärin kommen mir in den Sinn: Fragen Sie einen Taxifahrer. Der wird Ihnen sagen, wo Sie hinmüssen.

«Aarwangenstraße 55», versuche ich es mit der Adresse. «Dort steht die besagte Villa. Können Sie damit etwas anfangen?»

Der Fahrer sieht mich leidgeprüft an und holt so vorwurfsvoll Luft, als hätte er heute gar nicht mehr vorgehabt zu atmen.

«Stadtauswärts», ringt er sich zu einer geographischen Einschätzung durch, die er sogar mit einer kleinen Geste unterstützt: Mit seinem linken Daumen zeigt er über seine linke Schulter. Würde man der von ihm angedeuteten Geraden mit einer Trägerrakete folgen, flöge man bald durch die Umlaufbahn der Venus.

«Also diese Richtung», fasse ich seine Äußerungen zusammen und deute ebenfalls ins erweiterte Universum.

«Ja», bestätigt er, «einfach die nächste große Straße links und dann immer geradeaus, Richtung Aarwangen.»

«Ich bedanke mich», sage ich und mache eine kleine Verbeugung. Je ausgeprägter der fremde Unmut, desto größer meine Demut. Eine der Formeln, die mein Leben bestimmen, seit es vor knapp fünfzig Jahren begonnen hat.

«Neun Uhr und dreizehn Minuten», lese ich leise auf der Bahnhofsuhr. Seit ich in der Schweiz bin, hat sich die Frequenz meiner Selbstgespräche deutlich erhöht. Mein Vorsprech-Termin in der Villa beginnt um Punkt elf. Genug Zeit, um vorher noch das Bahnhofsrestaurant zu besuchen.

«Toast Hawaii … 18 Franken», buchstabiere ich. Beim Eingang hat jemand die Speisen mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel geschrieben. Das sind über zweihundert alte österreichische Schillinge für zwei dünn gefüllte Toastscheiben und einen matschigen Ananaskringel.

Der Reserveschamane in mir beschwört gerne verloren gegangene Referenzrahmen. In meinem fernen Heimatland zaubert der Klang des Wortes Schilling gleichaltrigen oder älteren Menschen ein mitfühlendes Lächeln ins Gesicht. Jüngere dagegen erschrecken oft und fragen sich zumeist vergeblich, in welchem Abschnitt der Steinzeit sie diesen Begriff verorten sollen.

«Gefüllte Paprika», lese ich in der zweiten Zeile unter dem Toast. Als ich mir sicher bin, dass mich niemand beobachtet, auch nicht die umtriebige Kellnerin, fahre ich meine Fingerspitze aus, tippe auf den Kreidestaub und mache aus dem ersten der beiden l ein h. Hoffentlich wird das einer der nächsten Gäste wahrnehmen und die Kellnerin danach fragen, wie man sich das vorstellen soll, Gefühlte Paprika.

«Uf Wiedrluegä», sage ich halblaut zu niemand Bestimmtem. Uf Wiedrluegä und Grüezi auszusprechen, fühlt sich einfach authentisch an. Essen werde ich doch nichts. Ich bin viel zu nervös. Vor lauter Zittern würden mir neun von zehn Reiskörnern von der Gabel fallen. Mein Hinterkopf denkt ununterbrochen an die Bedeutung der bevorstehenden Befragung.

«Dann such die Villa», sage ich mir, «statt hier weiter herumzustehen und Taxifahrern und Kellnerinnen auf die Nerven zu gehen.»

Am Ende des Bahnsteigs führt eine steile Betontreppe durch einen schmalen Schacht in eine Unterführung. Schon bevor ich den tiefsten Punkt erreiche, beunruhigt mich das Aufheulen der Autos. Vorsicht, sage ich mir, als ich auf den Fußgängerstreifen hinaustrete, der erstaunlich schmal ist. Würde man die Hand ausstrecken, könnte man die vorbeirauschenden Fahrzeuge tätscheln, vorausgesetzt, man hätte ihnen vorher zugewunken und sie dazu bewogen, ihre Geschwindigkeit zu drosseln. Manchmal tätschle ich parkende Autos, die mit laufendem Motor herumstehen, um sie zu beruhigen. Dabei stehe ich vor dem Dilemma, dass sich die als Besänftigung gemeinte Geste dem Fahrzeugbetreiber nicht immer als solche mitteilt.

Die Steinwände der Unterführung sind nackt. Was mich wundert. In Österreich stünde ich garantiert vor einem fünf Meter großen, berühmten Skifahrer, der grausam grinsen und versuchen würde, mich mit einem schrill verpackten Müsliriegel zu füttern. Wäre ich von der Lautstärke der Fahrzeuge nicht so irritiert, könnte ich hier sogar die Poesie der Leere genießen, auf die mich vor Jahren eine Wiener Verlegerin bei einer Buchmesse hingewiesen hat. Zuvor hatte ich sie gefragt, warum in ihren Gedichtbänden nur ein oder zwei Sätze pro Seite stünden und sonst nichts.

«Haben Sie noch nie etwas von der Poesie der Leere gehört?», fragte sie zurück.

«Ja», sagte ich, «aber die kann sich doch nur entfalten, wenn sie nichts kostet. Wer Leere verkauft, macht sie zur Ware. Und Ware hat eher eine Funktion als einen Zauber. Bezahlte Liebe ist ja auch kein poetisches Großereignis.»

Die traurig schönen Steinwände haben dieses Fragment meiner Vergangenheit wahrscheinlich nicht umsonst an die Oberfläche meiner Wahrnehmung gespült. Womöglich möchte mir mein Unterbewusstsein vor Augen führen, welche Gesprächsfiguren ich beim bevorstehenden Auswahlverfahren eher vermeiden sollte.

Von der Talsohle der Unterführung führt der schräg ansteigende Fußgängerstreifen zu einem Kreisverkehr, an dessen Rand ich stehen bleibe und versuche, die gröbsten Eindrücke zu sortieren.

«Ein Backenzahn in Menschengröße», beschreibe ich mir die Skulptur, die auf der schräg gegenüberliegenden Seite des Betonrings aus einem schmalen Grünstreifen ragt. Der Zahn ist aus Plastik, weiß und grün bemalt und gibt mir zu verstehen, womit die Menschen beschäftigt sind, die in dem modernen, länglichen Gebäude dahinter arbeiten.

Direkt gegenüber befindet sich ein umzäunter Garten und darin ein großes, altes Haus. Nachdem ich die Straße überquert habe, bleibe ich vor dem Eingangsbereich stehen und suche vergeblich nach einer Hausnummer.

«Macht nichts», murmle ich. Dieses Haus, denke ich weiter, kann nicht die Villa von Frau Eymann sein. Sein Aussehen steht in einem krassen Widerspruch zu meiner Vorstellung von seinem Aussehen. Nach einem letzten Blick über den Gartenzaun sage ich mir noch: Das Haus, das du suchst, hat kein Dach das so tief in seine Fassade hängt wie eine Winterhaube bei minus zwanzig Grad. Wo sollen hier ein Kindergarten, eine Stipendiatenwohnung, eine legendäre Bibliothek und ein ganzes Geschoß für eine vierköpfige Haushälterfamilie Platz haben?

Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass Kindergärten in der Schweiz einen familiären Charakter haben, oft in Privathäusern untergebracht sind und selten von mehr als zehn bis fünfzehn Kindern besucht werden. Außerdem bin ich jetzt noch nervöser geworden und wie immer in solchen Momenten Opfer meines Selbstwertmangels, der einen seiner ganz großen Auftritte hat und mich gnadenlos weiterscheucht zu einem imaginären anderen Haus, das auf jeden Fall heller, leuchtender, einladender und vor allem moderner sein muss.

Nach einer kleinen Wanderung entlang der Hauptstraße erreiche ich einen Coiffeur-Salon. Der einzige im Moment aktive Coiffeur, ein junger, schwarzhaariger Bursche, hört sofort auf sich um seinen Kunden zu kümmern und starrt mich durch das Schaufenster an. Das Wort Coiffeur, besonders wenn es in leuchtenden Großbuchstaben über einem Geschäftseingang prangt, erinnert mich immer an Worte, die mit Koi- anfangen. Koi-Karpfen zum Beispiel, oder Koinzidenz. Der Coiffeur, sein Kunde und ein paar andere junge Männer, die alle noch auf ihre frisürliche Behandlung warten, fixieren mich durch das Glasquadrat des Studios, als hätten mich soeben ein paar Klingonen mit ihrem Ufo direkt vor ihren Augen abgesetzt. Notgedrungen starre ich zurück. Dabei fällt mir auf, dass alle mit der gleichen Frisur gesegnet sind. Kleinfingerlange, steil in den Himmel ragende Haare, grauschwarzglänzend wie verkohlte Fichtenstämme nach einem Waldbrand, dessen Einzugsgebiet teilweise von kahlen Schneisen durchzogen ist. In einer Vision sehe ich auf diesen Schneisen Lastautos fahren, die das gefällte Holz der Haarwaldbesitzer ebenso abtransportierten wie die verschmorten Bruchstücke ihrer bereits geschleuderten Gedankenblitze.

«Grüezi!», rufe ich auch hier frisch und zuversichtlich direkt in die durch die Glasspiegelungen etwas verschleierten Gesichter und versuche, die wechselseitige Schrecksekunde mit einem netten Zunicken zu entschärfen. Auf ihre Weise sind das bestimmt freundliche Burschen. Aber meine Erscheinung im Allgemeinen und meine Haare im Besonderen bringen sie bis ganz an den Rand ihres Fassungsvermögens. Deshalb trete ich von meinem Plan zurück, auch sie nach der Villa zu fragen. Das stumme Entsetzen der Männer hat mein volles Verständnis. Im krassen Gegensatz zu ihren Haaren sehen meine aus wie zwei flachsbraune Gästepantoffeln, von denen der kleine, verkümmerte seitlich und der größere zentral auf meinem Kopf kleben, als hätte man sie dort mit besonders zäher Lamaspucke fixiert. So ein Anblick will erst einmal verarbeitet sein. Außerdem offenbart mein Seitenscheitel wortlos die Wertigkeit, die Haarmode für mich hat und die ungefähr auf einer Ebene mit einer Darmspiegelung angesiedelt ist. Die Idee, Haare als fulminanten Auftakt zu einer persönlichen Symphonie zu inszenieren, ist aus meinen beiden Bälgen mit einer Intensität verschwunden, welche die Jungs mit einer bis auf die Straße heraus spürbaren Beklemmung erfüllt.

Der nächste Mensch, dem ich ein paar dutzend Meter weiter begegne, ist eine Frau, die in einem Wohnwagen lebt, an dessen Dachvorsprung sie altes Papier zum Trocknen aufgehängt hat. Jedenfalls kommt es mir aus der Entfernung so vor. Erst als ich näher herantrete, erkenne ich, dass es sich bei dem Papier um Zeitungen handelt, die gar nicht alt sind und auch nicht getrocknet, sondern gekauft werden können. Vor mir befindet sich ein fahrbarer Zeitungs- und Tabakkiosk. Laut grüßend wende ich mich an die kraterartige Verkaufsnische, in der die Händlerin verschwunden ist wie eine Robbe in einem Eisloch beim Auftauchen eines Eisbären.

«Entschuldigung. Könnten Sie mir bitte sagen, wo sich die Villa von Frau Lydia Eymann befindet? Laut meinem Plan müsste sie hier irgendwo in der Gegend sein.»

Zuerst passiert gar nichts. Dann erhebt sich eine Stimme aus dem diffusen Halbdunkel zwischen den Zeitschriften und Zigarettenpackungen.

«Da sind Sie schon vorbeigegangen. Sie müssen wieder zurückgehen. Das Haus, das Sie suchen, liegt direkt am Kreisverkehr.»

«Meinen Sie etwa das alte Haus mit dem himmelhohen Dach?»

«Ja, genau, das ist es.»

«Sind Sie sicher?»

Das Gesicht der Frau taucht zum ersten Mal so aus der Nische, dass ich es erkennen kann. Sie lächelt buddhamild wie der blinde Meister Po, wenn seinem Schüler Kwai Chang Caine, den er nicht umsonst Grünschnabel nennt, eine besonders infantile Frage gelungen war.

«Ich bin absolut sicher. Schließlich bin ich hier aufgewachsen und kenne meine Nachbarschaft.»

«Das bezweifle ich nicht», sage ich, «aber wissen Sie, ich habe mir das Haus total anders vorgestellt.»

«Was wollen Sie denn dort?»

Ja, das frage ich mich auch. Mittlerweile bin ich so gesättigt mit Hoffnungslosigkeit, dass ich den Sinn meiner Bemühungen nicht mehr erkennen kann.

«Ich habe einen Vorsprechtermin», weihe ich die Kiosk-Frau in die näheren Umstände meiner Nahzukunft ein.

«Ah, ich verstehe. Dann sind Sie also einer von den Kandidaten.»

«Genau.»

«Da wünsch ich Ihnen aber viel Glück.»

«Herzlichen Dank. Das kann ich brauchen.»

Die Eimannfrau

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