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Aufstieg: Confessin’ the Blues

Man schrieb den Herbst des Jahres 1961. Die offizielle Geschichtsschreibung hat sich inzwischen auf den 17. Oktober geeinigt, vielleicht aber war es auch ein paar Tage früher oder später. So genau legen sich die Beteiligten da nicht fest.

Mike Jagger, gerade 18 Jahre alt, und Keith Richards, noch 17, stehen am frühen Morgen auf dem Bahnsteig 2 des Bahnhofs von Dartford. Der eine will nach London, um dort als eifriger Erstsemester an der renommierten London School of Economics in die Geheimnisse des Wirtschaftslebens einzudringen. Der andere befindet sich auf seinem täglichen Weg zur Sidcup Art School, wo er den Unterricht mal wieder zu schwänzen gedenkt, um sich mit gleichgesinnten Mitschülern in der Kunst des Gitarrenspiels fortzubilden.

Mick Jagger (Gesang, Gitarre, Harp, Keyboards), geboren am 26. Juli 1943 in Dartford (Kent), 1,78 m, Rolling Stone seit 1962, zwei Mal verheiratet, acht Kinder von fünf Frauen; lässt in jedem seiner Häuser die viktorianische Haushaltsbibel Mrs. Beeton’s Book of Household Management auslegen.

Die beiden Jünglinge kennen sich zwar bereits seit Kindertagen. Für kurze Zeit sind sie sogar gemeinsam in dieselbe Klasse der Wentworth Primary School gegangen und sich seitdem gelegentlich über den Weg gelaufen, ansonsten aber haben sie nichts miteinander zu tun. Und beide haben nicht die blasseste Ahnung, dass sie an jenem Morgen einen Bruder im Geiste finden und von nun an einen gemeinsamen Kreuzzug für ihre Leidenschaft, den schwarzen amerikanischen Blues, starten werden, der sie ein Leben lang aneinanderschweißen wird.

Keith Richards (Gesang, Gitarre, Bass, Klavier), geboren am 18. Dezember 1943 in Dartford (Kent), 1,74 m, Rolling Stone seit 1962, seit 1983 mit Patti Hansen verheiratet, vier Kinder von zwei Frauen, ist bis auf vier Tage bei der Post im Dezember 1961 nie einer geregelten Arbeit nachgegangen.

Der Zeugungsakt der Rolling Stones, die genau neun Monate später ihren ersten öffentlichen Schrei im Londoner Marquee Club tun werden, lässt sich auf die Millisekunde genau festlegen: Es ist der Moment, als Keith Richards auf jenem Bahnsteig unter dem Arm des entfernten Bekannten Mike Jagger zwei Plattencovers entdeckt. In seiner Autobiographie Life (Heyne 2010) schreibt er dazu: »Wenn ich mit einem Kerl, der ROCKIN’ AT THE HOPS von Chuck Berry auf Chess Records und auch noch THE BEST OF MUDDY WATERS unterm Arm trägt, in einen Waggon steige, dann müssen wir uns einfach verstehen. Ich meine, er besaß den Piratenschatz von Henry Morgan. Er hatte das echte Zeug. Und ich keine Ahnung, wie ich drankomme.«

Heute kaum vorstellbar, damals aber Tatsache: Amerikanischen Blues gab es in England nicht zu kaufen. Überhaupt, Schallplatten bekam man allenfalls in Elektrogeschäften. Das karge Angebot in den ein oder zwei Kisten, die dort zwischen Radios und Staubsaugern gestapelt waren, bestand gewöhnlich aus wenigen gerade populären Hitsingles und einer lückenhaften Sammlung von Alben der beliebtesten Musicals, Operetten, Comedy- und Klassikaufnahmen. Für den Blues, der zu diesem Zeitpunkt auch in seiner amerikanischen Heimat ein trostloses Mauerblümchendasein fristete, erwärmte sich in England nur ein verschwindend kleines Grüppchen ethnologisch interessierter Studenten. Plus ein paar versprengte Halbwüchsige, die, ausgehend von einigen Rock ’n’ Roll-Hits der 1950er-Jahre, den Pfad zurück zu den Ursprüngen dieser Musik verfolgten und so auf die schwarzen Originale stießen. Kaum einer von ihnen, schon gar nicht die Vorstadt-Teenager Jagger und Richards, ahnte, dass es außerhalb des eigenen Bekanntenkreises noch weitere Bluesfans geben könnte. Und das erklärt die Euphorie des jungen Keith Richards, der an jenem Morgen auf dem Bahnsteig in Dartford glaubte, den Schatz des legendären Captain Morgan gefunden zu haben.

Mike und Keith treffen sich nun regelmäßig und versuchen sich im heimischen Wohnzimmer mit dem gemeinsamen Bekannten Dick Taylor an Bluessongs. Mike singt und startet erste Versuche auf der Mundharmonika. Keith und Dick spielen Gitarre. So erarbeiten sich die Drei ein bescheidenes Repertoire mit Bluesnummern von Jimmy Reed, aber auch Rock ’n’ Roll von Chuck Berry, Buddy Holly und Richie Valens.

Mit Bob Beckwirth und Alan Etherington stoßen zwei weitere Bluesenthusiasten dazu, die Wohnzimmer-Combo nennt sich nun »Little Boy Blue & The Blue Boys«. Um öffentliche Auftritte bemühen sie sich allerdings nicht, ebenso machen sie einen großen Bogen um den in den späten 1950er-Jahren populären Skiffle, der ein paar hundert Kilometer weiter nördlich in Liverpool beispielsweise die Beatles zusammengebracht hatte. Zweifellos haben die Blue Boys mehr von einer geheimen Bruderschaft als von einer konventionellen Coverband.

Im März 1962 entdecken Mike, Keith und Dick, dass draußen in Ealing, einem westlichen Stadtteil von London, ein Bluesclub seine Pforten öffnet. Für die drei Bluesjünger ist dieses zarte Pflänzchen in der musikalischen Wüstenlandschaft jener Tage eine Sensation: Tatsächlich soll der Ealing Club, ein enges, feuchtes Kellerloch unter einer Bäckerei, nun zur Keimzelle einer neuen musikalischen Zeitrechnung werden. Am 17. März eröffnet er mit einem Konzert der von dem Halbgriechen Alexis Korner geleiteten Hausband Blues Incorporated. Vier Tage später erscheint im Fachmagazin Jazz News ein kleiner Artikel über den Ealing Club, der Mike und Keith nicht entgeht. So ganz allein ist ihre Blues-Bruderschaft also doch nicht.

Am 7. April ist es soweit, die Blues Brothers aus Dartford statten Ealing ihren ersten Besuch ab – und begegnen dort einem Jungen, der in ihrem Leben von nun an eine entscheidende Rolle spielen wird: Brian Jones.

Brian Jones (Gitarre, Gesang, Harp, Keyboards, Marimba, Sitar, Saxophon), geboren am 28. Februar 1942 in Cheltenham (Gloucestershire), gestorben am 3. Juli 1969 in Hartfield (Sussex), 1,68 m, Rolling Stone von 1962–1969, fünf Kinder von fünf Frauen; hatte ein Faible für Busse, restaurierte eine Straßenbahn und jobbte mal als Schaffner.

Der blonde Herumtreiber aus Cheltenham wird von Korner auf die Bühne gebeten, um mit »Dust My Broom« eine Nummer seines Idols, des amerikanischen Slidegitarristen Elmore James, zum Besten zu geben (zwar stammt der Song von Robert Johnson, James aber hatte ihn 1951 bekannt gemacht). Jones, der sich den Künstlernamen »Elmo Lewis« zugelegt hat, bringt mit seiner Bottleneckgitarre einwandfreien Chicago Blues auf die Bühne, und Jagger sowie Richards klappt die Kinnlade herunter. Schüchtern nehmen sie mit dem anderthalb Jahre älteren Lewis/Jones Kontakt auf. Man beschnuppert sich, und schnell ist klar, dass eine gemeinsame Band entstehen soll.

Per Anzeige findet Jones den Pianisten Ian Stewart und den Drummer Tony Chapman, die Dinge beginnen nun Form anzunehmen. »Alexis Korners Blues Incorporated« hat neben dem Job als Hausband des Ealing Clubs auch regelmäßige Auftritte im Marquee Club auf Sohos Oxford Street.

Ian Stewart (Klavier), geboren am 18. Juli 1938 in Pittenweem (Fife), Schottland, gestorben am 12. Dezember 1985 in London, ca. 1,71 m, Rolling Stone 1962–1963, ein Sohn aus geschiedener Ehe; ihm wurde die Detektivfigur John Rebus von Ian Rankin nachempfunden.

Am 12. Juli 1962 allerdings ist die Band wegen eines Auftritts beim BBC-Radio verhindert. Als Ersatz empfiehlt Korner dem Marquee-Management die gerade gegründete Gruppe seines Protegés Brian Jones. Und der ruft umgehend bei Jazz News an, um die Live-Premiere seiner Band zu vermelden. Nur: Einen Namen hat die Gruppe noch nicht. Während des Telefonats mit der Redaktion fällt Jones’ Blick auf das herumliegende Best-of-Album von Muddy Waters, in dessen Tracklisting der Song »Rollin’ Stone Blues« aufgeführt ist. Bingo – und spontan tauft er seine Band »The Rollin’ Stones«. Unter diesem Namen, ohne »g« und mit Apostroph, präsentieren sich Jones, Jagger, Richards, Stewart und Tony Chapman, unterstützt von einer weiteren Gruppe um den jungen R ’n’ B-Sänger Long John Baldry, an jenem 12. Juli erstmals einem zahlenden Publikum (wobei sich die Beteiligten bis heute nicht einig sind, ob Chapman oder Aushilfsdrummer Mick Avory trommelte, der später mit den Kinks berühmt werden sollte).

Kein Mensch kann an diesem Abend ahnen, dass auf der kleinen Bühne kommende Superstars stehen. Im Gegenteil, die blassen, ausgemergelten Jünglinge mit ihrer sonderbaren Musik wirken eher wie ein Fall für die staatliche Hungerhilfe. Wenig später ziehen Mike, Brian und Keith in eine heruntergekommene Mietwohnung auf der Edith Grove in Chelsea. Keith hat die Schule geschmissen und Brian ohnehin nichts zu tun. Also verbringen die beiden ihre Tage damit, bei Bekannten US-Bluesplatten zu klauen, deren Songs bis auf den letzten Ton zu sezieren und sämtliche darauf zu hörenden Gitarrentricks und -licks zu entschlüsseln. Mike besucht derweil tagsüber die LSE. Abends aber stehen nun immer häufiger Auftritte auf dem Plan (und bei denen nennt Mike sich nun Mick, weil das amerikanischer klingt). Von Monat zu Monat hat die Band mehr Gigs, im September und Oktober noch sind es gerade mal je fünf, im November schon zwölf, im Dezember gar 16. Die Bluesszene der Stadt wächst, und ihr Zentrum bildet sich in den westlichen Bezirken wie Ealing, Richmond und Twickenham.

Die Stones finden in diesem Winter ihre endgültige Schlachtordnung: Dick Taylor geht im November und wird durch Bill Wyman ersetzt, der allerdings vor allem wegen seines teuren Verstärkers aufgenommen wird.

Bill Wyman (Bass, Keyboards, Gesang), geboren am 24. Oktober 1936 als William George Perks Jr. in Lewisham (London), 1,68 m, Rolling Stone von 1962–1993, in dritter Ehe mit Suzanne verheiratet, vier Kinder von zwei Frauen; der Hobby-Archäologe will mit mehr als 1000 Frauen geschlafen haben.

Anders Charlie Watts: Seit Monaten schon ist er der Wunschkandidat für den Schlagzeughocker, bislang aber ziert er sich. Kurz nach Neujahr 1963 endlich lässt er sich auf das Abenteuer ein, und am 12. Januar stehen die Rolling Stones erstmals in der Besetzung auf der Bühne des Ealing Club, die weltberühmt werden soll.

Charlie Watts (Schlagzeug, Percussion), geboren am 2. Juni 1941 in Kingsbury (London), 1,73 m, Rolling Stone seit 1963, verheiratet mit Shirley seit 1964, eine Tochter; züchtet Vollblutaraber und sammelt Maßanzüge sowie Oldtimer, obwohl er gar keinen Führerschein besitzt.

Rolling Stones. 100 Seiten

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